L 10 U 1042/20

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
10.
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 4 U 3065/17
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 U 1042/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

 

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 19.02.2020 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.


Tatbestand


Der Kläger begehrt die Verurteilung der Beklagten zur Anerkennung einer Berufskrankheit (BK) der Nr. 2102 (Meniskusschäden) der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV; nachfolgend BK 2102).

Der 1958 geborene Kläger absolvierte im elterlichen Malerbetrieb L vom 04.08.1975 bis 04.02.1978 erfolgreich eine Malerlehre, arbeitete sodann bis 01.08.1981 als Maler- und Lackierergeselle im elterlichen Betrieb und besuchte anschließend bis 30.06.1982 die Meisterschule. Danach war er bis 31.01.2015 als Malermeister handwerklich im elterlichen Betrieb tätig. Zu seinen Tätigkeiten im elterlichen Betrieb gehörten u.a. Gerüstbau, Bodenlegen, Tapezieren, Wärmedämmung, Trockenbau, Spritzarbeiten, Brandschutz- und Verputzarbeiten (Bl. 18 f. VA). Zum Umfang der ausgeübten Tätigkeiten wird auf die - auf den eigenen Angaben des Klägers und des IFA-Reports 2/2012 beruhenden - ausführlichen Stellungnahmen des Präventionsdienstes der Beklagten von März 2017 (Bl. 105 ff. VA) und Dezember 2019 (Bl. 96 ff. SG-Akte) Bezug genommen.

Ende November 2007 begab sich der Kläger erstmals wegen Schmerzen im Bereich des rechten Kniegelenks in fachärztliche Behandlung (Bl. 50 VA). Im Dezember 2007 erfolgte eine Arthroskopie am rechten Kniegelenk (Bl. 41 f. VA, Diagnosen: ausgeprägter degenerativer Innenmeniskushinterhornhorizontal- und mehrfacher Lappenriss rechtes Kniegelenk, reaktive Chondromalazie II.°, medialer Femurcondylus und I.° mediales Tibiaplateau, geringfügige Chondromalazieerweichung I.°, Patellafirstbereich). Wegen Schmerzen im Bereich des linken Kniegelenks folgte im Januar 2008 eine Arthroskopie am linken Kniegelenk (Bl. 43 f. VA, Diagnosen: degenerativer Innenmeniskushinterhornhorizontal- und Lappenriss linkes Kniegelenk, reaktive Chondromalazie I.°, partiell dorsomediales Kompartiment). Im März 2015 wurde sowohl eine Kernspintomographie am rechten Kniegelenk (Bl. 45 VA, Beurteilung: mäßig aktivierte - bei femurseitigem Knochenödemen - mediale Gonarthrose, degenerativ imponierende Schädigung des Innenmeniskus bei Verkürzung der Pars intermedia und schräg horizontalem Einriss an der Unterfläche des Hinterhorns, Tractus iliotibialis-Syndrom und diskrete Irritation der präpatellaren Bursae als Überlastungszeichen, Vernarbung des Lig. Patellae bei Zustand nach tibialer Marknagelung) als auch am linken Kniegelenk (Bl. 46 VA, Beurteilung: prä-/infrapatellare Bursair- ritation als Überlastungszeichen bei Z.n. Innenmeniskus-Resektion mit Degeneration und kleineren tibialseitigen Einrissen des Residuums, ohne wesentliche Arthrose) durchgeführt.

Mit Schreiben vom 12.10.2016 zeigte der den Kläger behandelnde H u.a. wegen Beschwerden im Bereich der Kniegelenke bei der Beklagten den Verdacht auf das Bestehen einer Berufskrankheit beim Kläger an (Bl. 1 VA). Auf Anfrage teilte er der Beklagten mit, dass er den Kläger erstmals im Januar 2011 wegen Kniegelenksbeschwerden behandelt habe. Er habe eine Gonarthrose bds. und einen Z.n. ASK und Innenmeniskusteilresektion bds. diagnostiziert (Bl. 37 ff. VA).

Die Beklagte holte eine beratungsärztliche Stellungnahme bei dem S ein (Bl. 85 VA). Dieser bestätigte einen primären degenerativen Meniskusschaden im Sinne der BK 2102 an beiden Kniegelenken - jeweils Innenmeniskus - und sah diesen auch als altersvorauseilend an. Wesentliche konkurrierende Ursachen lägen nicht vor. Er empfahl eine Stellungnahme des Präventionsdienstes zum Vorliegen einer BK 2102.

Nach einem persönlichen Gespräch mit dem Kläger äußerte sich der Präventionsdienst in Bezug auf eine BK 2102 dahingehend, dass der Kläger während seiner beruflichen Tätigkeit von 1975 bis 2015 ca. 40 Jahre einer Meniskusbelastung von 5% bis 35% Zeitanteil pro Arbeitsschicht ausgesetzt gewesen sei und in Bezug auf eine BK 2112 dahingehend, dass eine Gesamtstundenzahl kniebelastender Tätigkeiten im Sinne einer Gonarthrose von 15.761 Stunden vorliege (Bl. 110 VA, Bl. 96 ff. SG-Akte). Zur Bestimmung des konkret individuellen Belastungsprofils verwies er auf - unter Zugrundelegung der Angaben des Klägers und des IFA-Reports 2/2012 erstellte - Tabellen, in denen konkrete Angaben zu den Knie- (Bl. 113 ff. VA) und den Meniskusbelastungen (Bl. 119 ff. VA, Bl. 102 ff. SG-Akte) in den verschiedenen Teiltätigkeiten des Klägers enthalten sind. Hinsichtlich des Inhalts der Tabellen im Einzelnen wird auf die genannten Aktenstücke Bezug genommen.

Mit Bescheid vom 29.03.2017 lehnte die Beklagte die Anerkennung der BKen 2102 und 2112 ab (Bl. 135 f. VA). Der Kläger habe weder eine überdurchschnittlich meniskusbelastende Tätigkeit in der Mehrzahl der Arbeitstage verrichtet, weshalb eine BK 2102 ausscheide, noch lägen die medizinischen Voraussetzungen einer BK 2112 vor. Den hiergegen erhobenen Widerspruch (Bl. 139 VA) wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 14.12.2017 zurück (Bl. 167 ff. VA).

Hiergegen hat der Kläger am 20.12.2017 Klage beim Sozialgericht Reutlingen (SG) - zunächst mit dem Begehren auf Feststellung des Vorliegens der BKen 2102 und 2112 sowie der Gewährung von Rente - erhoben. Das SG hat ein Sachverständigengutachten (Bl. 35 ff. SG-Akte, Untersuchungstag: 16.01.2019) sowie eine ergänzende Stellungnahme (Bl. 59 f. SG-Akte) bei dem D eingeholt. D hat altersvorauseilende anatomische Veränderungen in beiden innengelegenen Kniegelenkskompartimenten in Form einer Verkürzung des Innenmeniskushinterhorns (nach entsprechender Innenmeniskushinterhorn-Teilresektion, rechts am 12.12.2007, links am 16.01.2008) mit daraus resultierenden konsekutiven (sekundären) Knorpelveränderungen ohne funktionelle Störungen im Bereich der Kniegelenke beschrieben. Mangels Vorliegens der arbeitstechnischen Voraussetzungen hat er eine BK 2102 und mangels Vorliegens der medizinischen Voraussetzungen eine BK 2112 verneint.

Auf Antrag des Klägers nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) hat das SG außerdem ein Sachverständigengutachten bei dem E eingeholt (Bl. 70 ff. SG-Akte). Dieser hat nach seiner Untersuchung (24.07.2019) u.a. einen Z.n. beidseitiger Innenmeniskus-Hinterhornresektion 2007 respektive 2008 mit Gelenkspaltverschmälerung bds. bei nahezu orthograder Beinachse und eine erstgradige Instabilität des vorderen Kreuzbandes rechts diagnostiziert und ausgeführt, dass die Innenmeniskusläsion bds. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine Folge der kniebelastenden Tätigkeit sei. Konkurrierende Erkrankungen wie deutliches Übergewicht oder Beinfehlstellung hätten sich nicht realisiert. Seinen Berechnungen nach habe eine kniebelastende Tätigkeit über einen Zeitraum von 40 Jahren von 37% vorgelegen. Die Voraussetzungen der BK 2102 seien mithin gegeben. Demgegenüber lägen die medizinischen Voraussetzungen für die BK 2112 nicht vor.

Nach Rücknahme der Klage hinsichtlich der BK 2112 - an einer Rentengewährung hat der Kläger ebenfalls nicht mehr festgehalten (vgl. Bl. 113 Rs. SG-Akte) - hat das SG mit Urteil vom 19.02.2020 den Bescheid vom 29.03.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.12.2017 antragsgemäß abgeändert und die Beklagte verurteilt, beim Kläger die BK 2102 anzuerkennen; außerdem hat es angeordnet, dass die Beklagte die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten hat. Die medizinischen Voraussetzungen der BK seien sowohl vom S als auch von den Sachverständigen D und E bestätigt worden. Außerdem seien auch die arbeitstechnischen Voraussetzungen erfüllt. Der Kläger habe bis zu der auf Grund des Auftretens und der Behandlung der Meniskuserkrankungen im Jahr 2007 zu setzenden Zäsur an 19% bis 32% seiner jährlichen Arbeitsschichten Tage mit mindestens 20% meniskusbelastenden Tätigkeiten gehabt, so dass „grob betrachtet“ der Anteil der in diesem Sinne meniskusbelastenden Arbeitsschichten über den gesamten Zeitraum mit rund einem Viertel angegeben werden könne.

Gegen das ihr am 02.03.2020 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 27.03.2020 Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt. Das SG habe unzulässigerweise aus nicht bestrittener langjähriger beruflicher Meniskusbelastung, fehlenden Konkurrenzursachen und einem belastungskonformen Schadensbild auf eine überdurchschnittliche Kniebelastung und den rechtlich wesentlichen Kausalzusammenhang geschlossen und sich nicht mit den detaillierten Expertisen des Präventionsdienstes auseinandergesetzt. Im amtlichen Merkblatt zur BK 2102 würden als Berufe für überdurchschnittliche Belastungen der Kniegelenke, z.B. Bergbau unter Tage, Ofenmaurer, Fliesen- oder Parkettleger, Rangierarbeiter, Berufssportler und Tätigkeiten unter besonders beengten Raumverhältnissen genannt. Der Beruf des Malermeisters werde hingegen nicht beispielhaft genannt. Laut der Stellungnahme des Präventionsdienstes sei der Kläger als Malermeister zu 30% mit Bodenlegerarbeiten, die den im Merkblatt genannten Legertätigkeiten vergleichbar seien, beschäftigt gewesen. Die übrigen 70% habe der Kläger - je nach Auftragslage und damit im Wechsel - Tätigkeiten im Gerüstbau (30%), als Maler (30%) und als Stuckateur (10%) erbracht. Vor diesem Hintergrund erscheine es fraglich, ob die Berufstätigkeit des Klägers von Knie- bzw. Meniskusbelastung geprägt gewesen sei. Entscheidend seien jedoch die Ausführungen im Merkblatt für die ärztliche Untersuchung zur BK 2102. Danach sei eine überdurchschnittliche Belastung der Kniegelenke biomechanisch gebunden an eine Dauerzwangshaltung, insbesondere bei Belastungen durch Hocken oder Knien bei gleichzeitiger Kraftaufwendung oder häufig wiederkehrende erhebliche Bewegungsbeanspruchung, insbesondere Laufen oder Springen mit häufigen Knick-, Scher- oder Drehbewegungen auf grob unebener Unterlage. Daraus sei abzuleiten, dass meniskusbelastende Kniepositionen wie Fersensitzhocke und Kniehocke während eines wesentlichen Teils der täglichen Arbeitszeit eingenommen worden sein müssen (Dauerzwangshaltung). Ein wesentlicher Tagesanteil verlange, dass derartige Schädigungsmechanismen einen bedeutenden zeitlichen Umfang einnähmen. Im Sinne einer Orientierung gehe sie daher in ständiger Bearbeitungspraxis von einer überdurchschnittlichen Meniskusbelastung aus, wenn in der überwiegenden Zahl der Schichten (d.h. in der Regel 111 von 220 jährlichen Arbeitsschichten) eine zeitliche Meniskusbelastung von mindestens 20% der Arbeitsschicht vorläge. Hierbei orientiere sie sich auch an dem Urteil des Sächsischen LSG vom 18.09.2008 (L 2 U 148/07), das eine Meniskusbelastung von durchschnittlich 25% als jedenfalls überdurchschnittlich angesehen habe und dem Urteil des Bayerischen LSG vom 13.09.2012 (L 18 U 349/09), das eine Meniskusbelastung von durchschnittlich 8% als nicht ausreichend angesehen habe. Werde dagegen eine Meniskusbelastung von nicht mehr als 15% erreicht, gehe sie in ständiger Verwaltungspraxis davon aus, dass wegen der dann gegebenen Regenerationsmöglichkeit des Meniskusgewebes keine relevante Meniskusbelastung im Sinne der BK 2102 vorgelegen habe. Daher werde daran festgehalten, dass der Kläger nicht überdurchschnittlich meniskusbelastend tätig gewesen sei. Außerdem habe das SG keine sachgerechte Prüfung des Kausalzusammenhanges zwischen Einwirkungen und Erkrankung im Sinne der Theorie der wesentlichen Ursache vorgenommen. Vielmehr habe es in pauschalisierender Weise aus der von ihm angenommenen überdurchschnittlichen Meniskusbelastung, dem fehlenden Nachweis konkurrierender Ursachen und dem Vorliegen eines belastungskonformen Schadensbildes auf den rechtlich wesentlichen Kausalzusammenhang geschlossen. Diese Herangehensweise werde der Komplexität multifaktoriell verursachter Krankheiten des orthopädischen Fachgebietes nicht gerecht. Eine für die Kausalitätsprüfung erforderliche differenzierte Auseinandersetzung mit den vom Präventionsdienst der Beklagten ermittelten, im Tabellenteil der Expertisen dezidiert aufgelisteten Daten zu Art, Umfang und Intensität der Meniskusbelastung im zeitlichen Verlauf habe das SG erkennbar nicht vorgenommen. Setze man die Meniskusbelastungen pro Arbeitsschicht ins Verhältnis zu den tatsächlich geleisteten Stunden, ergebe sich für den Zeitraum 04.08.1975 bis 04.02.1978 (Beschäftigungsabschnitt a) ein Durchschnittswert von 12,5%, für den Zeitraum von 05.02.1978 bis 01.08.1981 (Beschäftigungsabschnitt b) von 14,5%, für den Zeitraum von 01.07.1982 bis 30.06.2005 (Beschäftigungsabschnitt c) von 13,8% und für den Zeitraum von 01.07.2005 bis 31.01.2015 (Beschäftigungsabschnitt d) von 16,5% (richtig: 16,1%) arbeitstäglicher Meniskusbelastung, was einem Durchschnittswert für den kompletten Zeitraum von lediglich 14,3% (richtig: 14,2%) entspreche. Hierbei handele es sich um einen relativ geringen Anteil, so dass die Menisken ausreichend Zeit gehabt hätten, sich wieder zu erholen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 19.02.2020 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sei es ausreichend, wenn die belastenden Tätigkeiten nicht nur hin und wieder, sondern zu einem wesentlichen Anteil der täglichen Arbeitszeit ausgeübt würden. Nach den Berechnungen der Beklagten habe der Kläger während seiner 40-jährigen Tätigkeit meniskusbelastende Tätigkeiten zwischen 12,5% und 16,5% (richtig: 16,1%) ausgeübt, was den vom Bayerischen LSG angesetzten Durchschnittswert von 8% deutlich übersteige.

Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Prozessakten erster und zweiter Instanz verwiesen.


Entscheidungsgründe

Die gemäß den §§ 143, 144, 151 SGG zulässige Berufung der Beklagten, über die der Senat auf Grund des Einverständnisses der Beteiligten nach § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist begründet.

Die hier vorliegende kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage ist zulässig. Mit der Anfechtungsklage nach § 54 Abs. 1 SGG begehrt der Kläger die Aufhebung der die Anerkennung der streitigen BK 2102 ablehnende Verwaltungsentscheidung. Nach der Rechtsprechung des BSG kann der Versicherte an Stelle gerichtlicher Feststellung (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG, vgl. hierzu u.a. BSG, Urteil vom 07.09.2004, B 2 U 46/03 R, zitiert - wie alle nachfolgenden höchstrichterlichen Entscheidungen - nach juris) auch die Verurteilung der Beklagten zur Anerkennung einer BK als Element eines jeglichen Leistungsanspruchs im Wege der Verpflichtungsklage verlangen (Urteil vom 05.07.2011, B 2 U 17/10 R, mit weiteren Ausführungen zur Anspruchsgrundlage; speziell zur Anerkennung eines Arbeitsunfalles und damit auf eine Berufskrankheit übertragbar BSG, Urteil vom 15.05.2012, B 2 U 8/11 R).

Berufskrankheiten sind nach § 9 Abs. 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als BKen bezeichnet und die Versicherte in Folge einer den Versicherungsschutz nach den § 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden. Die Bundesregierung ist ermächtigt, in der Rechtsverordnung Krankheiten als BKen zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grad als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind (§ 9 Abs. 1 Satz 2 erster Halbsatz SGB VII). Hierzu zählen nach Nr. 2102 der Anlage 1 zur BKV Meniskusschäden nach mehrjährigen andauernden oder häufig wiederkehrenden, die Kniegelenke überdurchschnittlich belastenden Tätigkeiten.

Für die Anerkennung einer BK müssen die anspruchsbegründenden Tatsachen, nämlich die versicherte Tätigkeit, die schädigende Einwirkung und die als Folge geltend gemachte Gesundheitsstörung erwiesen sein, d.h. bei vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens muss der volle Beweis für das Vorliegen der genannten Tatsachen als erbracht angesehen werden können (vgl. u.a. BSG, Urteil vom 30.04.1985, 2 RU 43/84). Hingegen genügt hinsichtlich des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der versicherten Tätigkeit und der schädigenden Einwirkung (haftungsbegründende Kausalität) sowie der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung (haftungsausfüllende Kausalität) eine hinreichende Wahrscheinlichkeit (vgl. BSG, Urteil vom 30.04.1985, a.a.O.); das bedeutet, dass bei vernünftiger Abwägung aller wesentlichen Gesichtspunkte des Einzelfalls mehr für als gegen einen Ursachenzusammenhang sprechen muss, wobei dieser nicht schon dann wahrscheinlich ist, wenn er nicht auszuschließen oder nur möglich ist (vgl. BSG, Urteil vom 02.11.1999, B 2 U 47/98 R; Urteil vom 02.05.2001, B 2 U 16/00 R). Kommen mehrere Ursachen in Betracht (konkurrierende Kausalität), so sind nur solche Ursachen als rechtserheblich anzusehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich beigetragen haben (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.1988, 2/9b RU 28/87). Kann ein behaupteter Sachverhalt nicht nachgewiesen oder der ursächliche Zusammenhang nicht wahrscheinlich gemacht werden, so geht dies nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast zu Lasten des Beteiligten, der aus diesem Sachverhalt Rechte herleitet, bei den anspruchsbegründenden Tatsachen also zu Lasten des jeweiligen Klägers (vgl. BSG, Urteil vom 27.06.1991, 2 RU 31/90).

Die Voraussetzungen der streitigen BK 2102 sind hier nicht erfüllt. Zwar sind nach den Sachverständigengutachten des D und des E sowie der Stellungnahme des S die medizinischen Voraussetzungen in Form von Innenmeniskusschäden bds. gegeben. Der Senat vermag jedoch die arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK 2102 nicht zu bejahen.

Für die hier streitige BK 2102 hat der Verordnungsgeber keine konkreten arbeitstechnischen Voraussetzungen formuliert. Aus dem Wortlaut der BK 2102 ergibt sich weder eine zeitliche Mindestanforderung für die tägliche Ausübung der gefährdenden Tätigkeit noch eine Konkretisierung des Begriffs der die Kniegelenke überdurchschnittlich belastenden Tätigkeit. Bei einer solch unbestimmten Fassung der BK sind die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung und die Gerichte verpflichtet (vgl. BSG, Urteil vom 12.04.2005, B 2 U 6/04 R, zur BK 2301 - Lärmschwerhörigkeit -), den Inhalt der BK über deren Wortlaut hinaus nach den allgemein anerkannten juristischen Regeln und Methoden (Wortlaut, Zusammenhang, Historie, Zweck) zu bestimmen, auch vor dem Hintergrund, dass der Verordnungsgeber die BKen zum Teil bewusst offen formuliert, damit Verwaltung und Rechtsprechung die sich ändernden Erkenntnisse berücksichtigen können, ohne dass der Wortlaut der Verordnung geändert werden muss. In solchen Fällen kann aus dem Fehlen einer Angabe zum Grad der erforderlichen Einwirkungen im Wortlaut der BK nicht gefolgert werden, dass die in Rede stehenden Einwirkungen schlechthin, unabhängig von ihrer Intensität und Stärke, als geeignet angesehen werden, Erkrankungen zu verursachen, sofern sie nur entsprechend dem verwendeten unbestimmten Rechtsbegriff einwirken. Als maßgebender medizinischer, naturwissenschaftlicher und technischer Erkenntnisstand (vgl. BSG, Urteil vom 27.06.2006, a.a.O.) sind solche durch Forschung und praktische Erfahrung gewonnenen Erkenntnisse anzusehen, die von der großen Mehrheit der auf dem betreffenden Gebiet tätigen Fachwissenschaftler anerkannt werden, über die also, von vereinzelten, nicht ins Gewicht fallenden Gegenstimmen abgesehen, Konsens besteht. Dazu können einschlägige Publikationen, insbesondere die Merkblätter des zuständigen Bundesministeriums herangezogen werden (BSG, a.a.O.; s. auch Senatsurteil vom 22.05.2013, L 10 U 1404/13).

Nach dem zur BK 2102 herausgegebenen Merkblatt des Bundesministeriums für Arbeit (abgedruckt u.a. in Mehrtens/Brandenburg, BKV, M 2102) ist die nach dem Wortlaut der BK 2102 erforderliche überdurchschnittliche Belastung der Kniegelenke biomechanisch gebunden entweder an eine Dauerzwangshaltung (insbesondere bei Belastungen durch Hocken oder Knien bei gleichzeitiger Kraftaufwendung) oder an eine häufig wiederkehrende erhebliche Bewegungsbeanspruchung, insbesondere Laufen oder Springen mit häufigen Knick-, Scher- oder Drehbewegungen auf grob unebener Grundlage. Im Falle des Klägers kommt auf Grund seiner tatsächlich ausgeübten Tätigkeiten allein eine Dauerzwangshaltung in Betracht.

Hinsichtlich der erforderlichen Zeitdauer der schädigenden Zwangshaltungen wird bislang in Literatur und Rechtsprechung keine exakte Zeitmindestgrenze angenommen. Das Bayerische LSG hat in seinem Urteil vom 13.09.2012 (L 18 U 349/09, juris) - ohne eine konkrete Zeitmindestgrenze festzulegen - eine durchschnittliche arbeitstägliche Meniskusbelastung von etwa 8% jedenfalls nicht als ausreichend erachtet, wohingegen das Sächsische LSG in seinem Urteil vom 18.09.2008 (L 2 U 148/07, juris) bei einer Meniskusbelastung von 20% bis 25% pro Arbeitsschicht von einer ausreichenden Exposition ausgegangen ist. Das LSG Sachsen-Anhalt hat in seinem Urteil vom 24.09.2009 (L 6 U 34/05, juris) eine arbeitstägliche Meniskusbelastung von drei Stunden als ausreichend betrachtet (entspricht - ausgehend von einer Arbeitsschicht von acht Stunden - 37,5%). Auch im vorliegenden Fall bedarf es keiner strikten Grenzziehung. Schon anhand des Wortlautes der BK 2102 („andauernd“) steht jedenfalls fest, dass die Belastung von einer gewissen Dauer je Arbeitsschicht sein muss. Dies folgt darüber hinaus auch aus dem Umstand, dass nur bei einer gewissen Dauer eine „überdurchschnittliche“ Belastung angenommen werden kann und den Menisken keine ausreichende Zeit für eine Erholung belassen wird (Becker in Krasney/Becker/Heinz/Bieresborn, Gesetzliche Unfallversicherung <SGB VII> - Kommentar, § 9 S. 261 f. unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 21.11.1958, 5 RKn 33/57, wonach es sich um einen wesentlichen Teil der täglichen Arbeitszeit handeln müsse; Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Auflage 2017, S. 666 f.). Entsprechend ging die Amtliche Begründung zur 5. Verordnung über die Ausdehnung der Unfallversicherung auf Berufskrankheiten (abgedruckt in Lauterbach, Unfallversicherung, § 9 Anh. IV, 2102), mit der diese BK - zunächst für Bergarbeiter - eingeführt wurde, von einer täglichen und dabei jeweils stundenlangen Arbeit in hockender und kniender Stellung aus. Hieraus folgt, dass die erforderliche Dauerzwangshaltung jedenfalls nicht vorlag, wenn die kniende oder hockende Haltung mit gleichzeitigem Kraftaufwand jeweils nur kurzfristig eingenommen wurde. Gleiches gilt, wenn die kniende oder hockende Haltung mit gleichzeitigem Kraftaufwand nicht arbeitstäglich anfiel (s. Senatsurteil, a.a.O.). Letztlich gründet sich die Einschätzung auf die tatsächlichen Gegebenheiten im Einzelfall, den Arbeitsabläufen und -verrichtungen und den hierdurch bedingten Kniegelenksbelastungen. Eine überdurchschnittliche Kniegelenksbelastung kann in der Regel angenommen werden, wenn hierdurch das Erscheinungsbild des Berufs und/oder des jeweiligen Arbeitsplatzes geprägt wird (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 666 f.).

Von einer solchen überdurchschnittlichen Kniegelenksbelastung, die das Tätigkeitsbild des Klägers prägte, kann sich der Senat vorliegend nicht überzeugen, da lediglich ein kleiner Anteil der Arbeitsschichten des Klägers aus meniskusbelastenden Tätigkeiten bestand. Unter Zugrundelegung der nachvollziehbaren und - bis auf einen Rechenfehler bei der Berechnung der durchschnittlichen Meniskusbelastung pro Arbeitsschicht im Zeitraum 01.07.2005 bis 31.01.2015 (Beschäftigungszeitraum d) - schlüssigen Berechnung der Beklagten in ihrem Schriftsatz vom 21.01.2021 auf der Grundlage der im Tatbestand genannten Stellungnahmen des Präventionsdienstes - auf die der Senat verweist und denen der Kläger nichts entgegengehalten hat -, stellt der Senat fest, dass der Kläger während seiner Lehrzeit vom 04.08.1975 bis 04.02.1978 12,5%, während seiner Gesellenzeit vom 05.02.1978 bis 01.08.1981 14,5%, während seiner Zeit als Meister vom 01.07.1982 bis 30.06.2005 13,8% und während der Zeit vom 01.07.2005 bis 31.01.2015 16,1% meniskusbelastende Tätigkeiten pro Arbeitsschicht ausübte. Den weitaus überwiegenden Teil der Arbeitsschichten - also vom 04.08.1975 bis 04.02.1978 87,5%, vom 05.02.1978 bis 01.08.1981 85,5%, vom 01.07.1982 bis 30.06.2005 86,2% und vom 01.07.2005 bis 31.01.2015 83,9% - übte er keine meniskusbelastenden Tätigkeiten pro Arbeitsschicht aus. Insgesamt lag die durchschnittliche arbeitstägliche Meniskusbelastung beim Kläger bei 14,2% [(12,5% + 14,5% + 13,8% + 16,1%) : 4]. Das entspricht - ausgehend von einer Arbeitsschicht von acht Stunden - einer zeitlichen Belastung von lediglich 1,1 Stunden pro Arbeitsschicht. Es kam folglich nicht zu einer mehrstündigen Dauerbelastung in Zwangshaltung pro Arbeitsschicht, so dass die Menisken des Klägers ausreichend Zeit hatten, sich vor erneuter Belastung wieder zu erholen. Eine andauernde oder häufig wiederkehrende, die Kniegelenke überdurchschnittlich belastende Tätigkeit liegt daher zur Überzeugung des Senats nicht vor.

Dass die durchschnittliche arbeitstägliche Meniskusbelastung von 14,2% die vom Bayerischen LSG in seinem Urteil vom 13.09.2012 (a.a.O.) bewertete durchschnittliche Meniskusbelastung pro Arbeitsschicht von 8% übersteigt, führt nicht zu einer anderen Beurteilung. Wie bereits ausgeführt, hat auch das Bayerische LSG in besagtem Urteil gerade keine Zeitmindestgrenze festgesetzt, sondern lediglich ausgeführt, dass jedenfalls 8% meniskusbelastende Tätigkeit pro Arbeitsschicht nicht ausreicht, um die arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK 2102 zu erfüllen. Ohnehin ist der Senat nicht an die Rechtsprechung anderer Obergerichte gebunden.

Soweit das SG von einer durchschnittlich täglichen Meniskusbelastung von mindestens 20% ausgegangen ist, vermag der Senat nicht nachvollzuziehen, welche Berechnung dieser Annahme zugrunde liegt. Jedenfalls hat das SG die im Rahmen der einzelnen Tätigkeiten tatsächlich anfallenden Meniskusbelastungen weder auf die jährlichen Arbeitsschichten noch auf die tägliche Arbeitsschicht umgerechnet und folglich auch nicht die reale durchschnittliche Meniskusbelastung pro Arbeitsschicht berechnet, so dass die vom SG zugrunde gelegte durchschnittliche Belastung nicht überzeugt.

Der Senat vermag auch die seitens des Sachverständigen E errechneten 37% kniebelastender Tätigkeiten nicht nachzuvollziehen. Der Präventionsdienst der Beklagten errechnete den Umfang der meniskusbelastenden Tätigkeiten schlüssig und nachvollziehbar anhand der vom Kläger selbst gemachten Angaben und unter Zugrundelegung des IFA-Reports 2/2012 (s. Bl. 118 ff. VA). Daraus ergibt sich, dass es während seiner 40-jährigen Tätigkeit im elterlichen Malerbetrieb zu Meniskusbelastungen von 5% bis 35% Zeitanteil pro Arbeitsschicht kam. Wie bereits oben ausgeführt, entspricht dies einer Meniskusbelastung pro Arbeitsschicht von durchschnittlich 14,2% und nicht 37%.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.

Rechtskraft
Aus
Saved