L 8 SO 56/22 B ER

Land
Niedersachsen-Bremen
Sozialgericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Sachgebiet
Sozialhilfe
1. Instanz
SG Hildesheim (NSB)
Aktenzeichen
S 44 SO 4010/22 ER
Datum
2. Instanz
LSG Niedersachsen-Bremen
Aktenzeichen
L 8 SO 56/22 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

1. Das Gericht kann wegen der Bindung der Gerichte an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) im Rahmen der Grundsicherungsleistungen einen über den normierten Betrag hinausgehenden Regelsatz (vgl. Anlage zu § 28 SGB XII) zum Ausgleich des seit Anfang des Jahres 2022 inflationsbedingt eingetretenen Kaufkraftverlustes weder im Wege einer verfassungskonformen Auslegung noch durch eine abweichende Festsetzung des Regelsatzes (§ 27a Abs 4 S 1 Nr 2 SGB XII analog) zusprechen. 2. Eine Aussetzung und Vorlage des Verfahrens gemäß Art. 100 Abs. 1 GG kommt im vorläufigen Rechtschutzverfahren grundsätzlich nicht in Betracht. Die gegenwärtige Regelsatzhöhe ist aber in Anbetracht der erfolgten und angekündigten ("Drittes Entlastungspaket") Entlastungsmaßnahmen des Gesetzgebers auch nicht evident unzureichend, ein meschenwürdiges Existenzminimum zu sichern.

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Hildesheim vom 25. Mai 2022 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Der Antragsteller begehrt zum Ausgleich seines inflationsbedingten Kaufkraftverlustes im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Verpflichtung der Antragsgegnerin zur vorläufigen Gewährung höher Grundsicherungsleistungen nach dem SGB XII.

Die Antragsgegnerin bewilligte dem allein in seiner Wohnung lebenden Antragsteller mit Bescheid vom 4.3.2022 für den Zeitraum vom 1.5.2022 bis zum 30.4.2023 seine Altersrente ergänzende Grundsicherungsleistungen in Höhe von 631,39 €, wobei sie neben den Unterkunfts- und Heizkosten einen Regelbedarf von 449,00 € berücksichtigte. Dagegen erhob der Antragsteller am 23.3.2022 im Wesentlichen mit der Begründung Widerspruch, wegen der exorbitanten Preissteigerungen im Jahr 2022 sei ein Regelbedarf in Höhe von 620,00 € der Leistungsberechnung zu Grunde zu legen. Am 4.5.2022 hat der Antragsteller bei dem Sozialgericht (SG) Hildesheim einen entsprechenden Eilantrag gestellt. Die begehrte höhere Regelleistung begründe sich insbesondere aus der seit Juli 2021 exorbitant gestiegenen Inflationsrate; eine Situation, die sich durch den Krieg in der Ukraine weiter verschärft habe. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) habe schon in seinem Beschluss vom 23.7.2014 (1 BvL 10/12, 1 BvL 12/12, 1  BvR 1691/12) ausgeführt, dass der Gesetzgeber bei einer offensichtlichen und erheblichen Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Preisentwicklung und der bei der Fortschreibung der Regelbedarfsstufen berücksichtigten Entwicklung der Preise für regelbedarfsrelevante Güter zeitnah darauf reagieren müsse. Die ohnehin strukturell defizitäre Regelleistung sei aufgrund der extremen Preissteigerungen evident unzureichend. Der zur gleichen Problematik ergangene ablehnende Eilbeschluss des SG Oldenburg vom 17.1.2022 - S 43 AS 1/22 ER -, auf den sich die Antragsgegnerin berufe, überzeuge nicht. Der Gesetzgeber dürfe nicht mehr abwarten, sondern müsse zur Sicherung des Existenzminimums unverzüglich handeln. Die Einmalzahlung von 200,00 € für Juli 2022 sowie das 9,00 €-Ticket für den ÖPNV seien nicht ausreichend. Das strukturelle Defizit könne nur durch eine Anhebung der Regelleistung ausgeglichen werden. Wegen der Einzelheiten des Antragsvorbringens wird auf die ausführlichen Schriftsätze des Antragstellers vom 2. und 13.5.2022 verwiesen. Die Antragsgegnerin hat ihren angegriffenen Bescheid verteidigt und auf den vorgenannten Beschluss des SG Oldenburg vom 17.1.2022 verwiesen. Den Widerspruch des Antragstellers hat sie mit Widerspruchsbescheid vom 23.5.2022 zurückgewiesen. Daraufhin hat der Antragsteller am 30.5.2022 bei dem SG Hildesheim Klage erhoben. Mit Bescheid vom 1.6.2022 hat die Antragsgegnerin ihren Bescheid vom 4.3.2022 für den Zeitraum vom 1.7.2022 bis zum 30.4.2023 (wegen Berücksichtigung eines Betriebskostenguthabens im Juli 2022 und neuer Vorauszahlungen ab August 2022) bei unveränderter Berücksichtigung eines Regelbedarfs von 449,00 € geändert.

Das SG hat den Eilantrag mit Beschluss vom 25.5.2022 abgelehnt. Der Antragsteller habe den erforderlichen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Die Antragsgegnerin habe den Regelbedarf in der gesetzlich bestimmten Höhe von 449,00 € der Leistungsberechnung zu Grunde gelegt. Eine Abweichung von der durch den Gesetzeswortlaut eindeutig bestimmten Höhe der Regelbedarfe im Wege einer verfassungskonformen Auslegung sei wegen der Bindung der Antragsgegnerin und auch der Gerichte an die Gesetze (Art. 20 Abs. 3 GG) nicht möglich. Allein das BVerfG sei ermächtigt, die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen festzustellen. Die Kammer habe aber gegen die ab dem 1.1.2022 geltende Höhe der Regelbedarfe auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Das BVerfG habe in seinem vom Antragsteller zitierten Beschluss vom 23.7.2014 mit Gesetzeskraft festgestellt, dass die Vorschriften über die Festsetzung der Höhe und die Fortschreibung der Regelsätze mit dem Grundgesetz vereinbar seien. Bei der Auswertung der EVS 2018 gemäß der ab dem 1.1.2022 geltenden Fassung des RBEG habe sich der Gesetzgeber wiederum an den Vorgaben des BVerfG orientiert und hinsichtlich der Berechnungsmethoden und einbezogenen Bedarfe nur unerhebliche Veränderungen vorgenommen. Die vom Antragsteller beschriebenen Preissteigerungen seien zwar nicht zu verkennen. Bei der Frage, ob sie zu einer Verfassungswidrigkeit der geltenden Regelbedarfe führe, sei aber zu berücksichtigen gewesen, dass die Legislative darauf bereits u.a. durch einen Heizkostenzuschuss, die Einführung des 9,00 €-Tickets, die Senkung der Energiesteuer auf Kraftstoffe und eine Einmalzahlung reagiert habe. Hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass trotz dieser Maßnahmen und der ab 1.1.2022 erfolgten Erhöhung der Regelsätze eine existenzgefährdende Unterdeckung durch unvermittelt auftretende, extreme Preissteigerungen eingetreten wäre, auf die der Gesetzgeber durch eine Neufestsetzung des Regelbedarfs hätte reagieren müssen, lägen nicht vor. Es lasse sich nicht feststellen, dass die Höhe der Regelleistungssätze evident unzureichend sei.

Der Antragsteller hat am 8.6.2022 Beschwerde gegen den Beschluss eingelegt, mit der er sein Begehren unter Bezugnahme auf sein erstinstanzliches Vorbringen sowie ergänzender Begründung weiterverfolgt und hilfsweise beantragt, „die Regelleistung 2022 vorläufig pauschal um 30 bis 40 Prozent zu erhöhen“. Weiter beantragt er hilfsweise, ihm „analog § 27a Abs. 4 SBG XII ohne Anrechnung gemäß § 37 Abs. 1 SGB XII die Differenz von mtl. 171,00 € (620,00 € abzgl. 449,00 €) vorläufig monatlich zuzusprechen“. Das SG habe seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, weil es sich zur Begründung weitgehend auf den Beschluss des SG Oldenburg vom 17.1.2022 bezogen habe, ohne auf seine mit Schriftsatz vom 13.5.2022 gegen diesen Beschluss ausführlich vorgebrachten Argumente einzugehen, und auch nicht auf die umfangreiche Begründung seines Eilantrags eingegangen sei. Das SG habe seinen Rechtsschutz unzulässig verkürzt, weil es unzutreffend davon ausgegangen sei, dass eine einstweilige Anordnung grundsätzlich nicht eine Entscheidung in der Hauptsache vorwegnehmen dürfe. Eine Gesetzeskraft der Entscheidung des BVerfG vom 23.7.2014 stehe seinem Begehren nicht entgegen, weil diese Entscheidung sich auf die Regelleistung 2011 und nicht auf diejenige des Jahres 2021 mit Fortschreibung für 2022 beziehe. Die Regelleistung 2021 und damit auch ihre Fortschreibung für 2022 sei wegen der exorbitanten Preissteigerungen vor allem auch für Nahrungsmittel (von 8,6 % über 11,1 % und 12,7 % im Mai bzw. Juni 2022 auf 14,8 im Juli 2022) und Strom evident unzureichend. Die Sozialgerichte müssten sich nach der Rechtsprechung des BVerfG schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen. Die Weigerung der Bundesregierung, eine aktuelle Anpassung der Regelleistung 2022 vorzunehmen, wie es das BVerfG für den hier gegebenen Fall unvermittelt auftretender, extremer Preissteigerungen bereits mit seiner Entscheidung vom 23.7.2014 verlangt habe, untergrabe die Menschenwürde. Neben der Einmalzahlung von 200,00 € nach § 144 SGB XII sei seinem Konto im Juli 2022 ein Erstattungsbetrag der Postbank von 223,79 € wegen rechtswidrig erhobener Kontoführungsgebühren gutgeschrieben worden.

Die Antragsgegnerin hält den Beschluss des SG für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte verwiesen.

 

II.

Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet.

Das SG hat den Antrag auf den Erlass einer einstweiligen Anordnung zu Recht abgelehnt.

Ob das SG den Anspruch des Antragstellers auf rechtliches Gehör verletzt hat und unzutreffend davon ausgegangen ist, eine einstweilige Anordnung dürfe die Hauptsache nicht vorwegnehmen, ist unerheblich. Der Senat prüft die Sache im Beschwerdeverfahren ohnehin in vollem Umfang und entscheidet sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht neu. Allerdings ist klarzustellen, dass der Schriftsatz des Antragstellers vom 13.5.2022 entgegen seiner Spekulation, bei dem SG würden seine Schriftsätze verschwinden, am 16.5.2022 bei dem SG eingegangen ist, in der Akte abgeheftet wurde und von der Richterin am Folgetag der Antragsgegnerin zur Kenntnis und eventuellen Stellungnahme übersandt worden ist. Des Weiteren war das SG auch nicht gehalten, sich mit jedem der vom Antragsteller zahlreich vorgebrachten Argumente auseinanderzusetzen. Es hat seine Entscheidung auch nicht auf ein Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache gestützt.

Einstweilige Anordnungen sind nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist, dass ein geltend gemachtes Recht gegenüber dem Antragsgegner besteht (Anordnungsanspruch) und der Antragsteller ohne den Erlass der begehrten Anordnung wesentliche Nachteile erleiden würde (Anordnungsgrund). Sowohl die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Sache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs als auch die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).

 

Ein Anordnungsanspruch ist dann gegeben, wenn der zu sichernde Hauptsacheanspruch dem Antragsteller mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zusteht, wenn also eine Vorausbeurteilung der Hauptsacheklage nach summarischer Prüfung ergibt, dass das Obsiegen des Antragstellers in der Hauptsache überwiegend wahrscheinlich ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 12.5.2005 - 1 BvR 569/05 - juris) dürfen Entscheidungen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren für Anfechtungs- und (wie hier) Vornahmesachen grundsätzlich sowohl auf eine Folgenabwägung wie auch auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden. Art. 19 Abs. 4 GG stellt jedoch besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens, wenn wie hier ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären. In einem solchen Fall müssen die Gerichte nach der vorgenannten Entscheidung des BVerfG, wenn sie sich an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren wollen, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend prüfen. Entschließen sich die Gerichte zu einer Entscheidung auf dieser Grundlage, so dürfen sie die Anforderungen an die Glaubhaftmachung durch den Antragsteller des Eilverfahrens nicht überspannen; Fragen des Grundrechtsschutzes sind einzubeziehen. Ist dem Gericht hingegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Auch in diesem Fall sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen. Dies gilt ganz besonders, wenn es um die Wahrung der Würde des Menschen geht. Eine Verletzung dieser grundrechtlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert, haben die Gerichte zu verhindern (BVerfG, ebenda).

 

Davon ausgehend hat der Antragsteller einen (Anordnungs-)Anspruch auf Berücksichtigung eines Regelbedarfs in Höhe von 620,00 € nicht glaubhaft gemacht. Die erfolgte Berücksichtigung eines Regelsatzes nach der Regelbedarfsstufe 1 von 449,00 € entspricht - was auch der Antragsteller nicht in Zweifel zieht - den gesetzlichen Vorschriften (§§ 41 Abs. 2, 42 Nr. 1, 28 nebst Anlage, 28a, 27a Abs. 1 SGB XII i.V.m.§ 8 RBEG vom 9.12.2020, BGBl. I S. 2855, sowie §§ 1 und 2 der aufgrund der Ermächtigung in § 40 SGB XII erlassenen Regelbedarfsstufen-Fortschreibungsverordnung vom 13.10.2021 (RBSFV 2022). Darüberhinausgehende Leistungen durch Zugrundlegung eines höheren Regelsatzes kann der Senat wegen der Bindung der Gerichte an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) nicht zusprechen. Der Grundsatz der Gewaltenteilung verbietet der Rechtsprechung zwar nicht, das Recht fortzuentwickeln, Wertungswidersprüche aufzulösen oder Umständen des Einzelfalls Rechnung zu tragen. Die Rechtsauslegung und -fortbildung findet ihre Grenze jedoch in der Bindung der Rechtsprechung an Recht und Gesetz. Richterliche Rechtsfortbildung darf deshalb nicht dazu führen, dass der Richter sich aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz begibt und damit Befugnisse beansprucht, die die Verfassung dem Gesetzgeber übertragen hat (vgl. BVerfG Beschluss vom 26.9.2011 - 2 BvR 2216/06, 2 BvR 469/07 - juris Rn. 44 ff). Aufgrund der durch die o.g. Vorschriften klar bestimmten Regelsatzhöhe besteht kein Raum, über eine verfassungskonforme (Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, Art.  1 Abs. 1 und 20 Abs. 1 GG) Auslegung der Vorschriften zu einem höheren Regelsatz zu kommen. Erst recht ist der Senat als Fachgericht nicht befugt, den zuständigen Träger allein auf der Grundlage des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums zur Leistungsgewährung zu verpflichten. Die Konkretisierung dieses Grundrechts, das als Geldleistungsanspruch mit erheblichen finanziellen Auswirkungen für öffentliche Haushalte verbunden ist, ist vielmehr ausschließlich dem parlamentarischen Gesetzgeber vorbehalten. Wie er den Umfang der Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums durch Geld-, Sach- und Dienstleistungen sichert, bleibt grundsätzlich ihm überlassen. Die Fachgerichte sind deshalb nicht befugt, einem Antragsteller unmittelbar gestützt auf Normen der Verfassung die in einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren erstrebten (höheren) Leistungen zuzusprechen (vgl.  Burkiczak in jurisPK-SGG, 2. Aufl 2022, § 86b Rn. 86 ff., 93 m.w.N.).

 

Aus den vorgenannten Gründen scheitert auch der erste Hilfsantrag des Antragstellers, seine Regelleistung (von 449,00 €) pauschal um 30 bis 40 % zu erhöhen. Dafür gibt es keinerlei gesetzliche Grundlage.

 

Der zweite Hilfsantrag des Antragstellers hat ebenfalls keinen Erfolg. Er hat keinen Anspruch auf die Gewährung von Grundsicherungsleistungen unter zusätzlicher Berücksichtigung der Differenz von 171,00 € (seines Erachtens bedarfsdeckender Regelsatz von 620,00 € abzgl. des berücksichtigten Regelsatzes von 449,00 €) analog § 27a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SGB XII. Eine (nach oben) abweichenden Regelsatzfestsetzung setzt voraus, dass ein durch die Regelbedarfe abgedeckter Bedarf nicht nur einmalig, sondern für eine Dauer von voraussichtlich mehr als einem Monat unausweichlich in mehr als geringem Umfang oberhalb durchschnittlicher Bedarfe liegt, wie sie sich nach den bei der Ermittlung der Regelbedarfe zugrundeliegenden durchschnittlichen Verbrauchsausgaben ergeben, und die dadurch bedingten Mehraufwendungen begründbar nicht anderweitig ausgeglichen werden können. Der Antragsteller macht aber nicht einen im vorgenannten Sinne erheblich oberhalb des durchschnittlichen Bedarfs liegenden Bedarf geltend, sondern - und dies ist von der Vorschrift nicht erfasst - generell höhere durchschnittliche Bedarfe aller Leistungsberechtigten. Für eine analoge Anwendung der Vorschrift auf diese Konstellation ist kein Raum, weil der generelle durchschnittliche Bedarf in Gestalt der Regelsätze durch den Gesetzgeber festgelegt ist.

Der Senat sieht keine Veranlassung, das Verfahren auszusetzen und gemäß Art. 100 Abs. 1 GG dem BVerfG zur Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der o.g. Vorschriften zur Regelung der Regelsatzhöhe vorzulegen. In - wie hier - Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes kommt eine Aussetzung und Vorlage an das BVerfG in aller Regel nicht in Betracht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30.10.2010 - 1 BvR 2037/10 zu 3 b), zitiert nach Burkiczak, a.a.O., § 86 b Rn. 89 Fn. 161; Beschluss des erkennenden Senats vom 17.11.2011 - L 8 AY 80/11 B  ER, L 8 AY 81/11 B ER -; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 19.2.2018 - L 20 AY 4/18 B ER - juris Rn. 39 und Beschluss vom 19.4.2021 - L 19 AS 391/21 B ER - juris Rn. 27; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 27.10.2011 - L 7 AY 3998/11 ER-B - juris Rn. 8; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, 13. Aufl. 2020, § 86b Rn. 13, 39). Eine zeitnahe Entscheidung des BVerfG auf eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG, die der Eilbedürftigkeit des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens entspräche, wäre nicht zu erwarten. Zudem hat der Senat nicht die Überzeugung davon zu gewinnen vermocht, dass die gegenwärtige Regelsatzhöhe evident unzureichend (zu diesem Prüfungsmaßstab vgl. BVerfG, Urteil vom 9.2.2010 -1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 - juris Rn. 141) ist, das Existenzminimum des Antragstellers zu sichern. Die von dem Antragsteller dargelegte und allgemein bekannte erhebliche Steigerung der Verbraucherpreise aufgrund der Inflation zumindest seit Anfang des Jahres sprechen zwar deutlich dafür, dass die Höhe der Regelsätze schon gegenwärtig nicht mehr ausreichen, das Existenzminimum zu sichern. Der Antragsteller weist auch zutreffend darauf hin, dass der Gesetzgeber zeitnah auf eine offensichtliche und erhebliche Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Preisentwicklung und der bei der Fortschreibung der Regelbedarfsstufen berücksichtigten Entwicklung der Preise für regelbedarfsrelevante Güter reagieren muss. Ist eine existenzgefährdende Unterdeckung durch unvermittelt auftretende, extreme Preissteigerungen nicht auszuschließen, darf der Gesetzgeber dabei nicht auf die reguläre Fortschreibung der Regelbedarfsstufen warten (BVerfG, Beschluss vom 23.7. 2014 - 1 BvL 10/12 u.a., juris Rn.144). Zu berücksichtigen ist aber, dass die Bundesregierung und der Gesetzgeber die Gefahr inflationsbedingt unzureichender existenzsichernder Leistungen durchaus erkannt, bereits (u.a. durch das 9,00 €-Ticket, den sog. Tankrabatt sowie die Einmalzahlung von 200,00 € an Leistungsberechtigte nach dem SGB II und dem SGB XII im Juli 2022) darauf reagiert haben und weitere Entlastungen auch von Empfängern existenzsichernder Leistungen angekündigt sind („Drittes Entlastungspaket“). Der Gesetzgeber kommt seiner verfassungsrechtlichen Verpflichtung also - wenn auch aufgrund der zuvor im demokratischen Willensbildungsprozess erforderlichen politischen Abstimmung unter schwierigen Rahmenbedingungen durchaus nach, wenn auch nicht so zügig und in der Weise, wie dies von den auf existenzsichernde Leistungen angewiesenen Menschen verständlicherweise erwartet wird. Daher vermag der Senat eine evident unzureichende Regelsatzhöhe gegenwärtig nicht zu erkennen.

Der Antragsteller hat unter Berücksichtigung der o.g. vom Gesetzgeber bereits erfolgten und angekündigten weiteren Entlastungsmaßnahmen in der Zusammenschau mit seinem eine existenzgefährdende Unterdeckung seines Regelbedarfs nicht konkret darlegenden Vorbringen und seinen im Juli 2022 erzielten zusätzlichen Einnahmen von 423,79 € auch den erforderlichen Anordnungsgrund, die besondere Eilbedürftigkeit der Sache, nicht glaubhaft gemacht. Er weist zwar in diesem Zusammenhang zutreffend darauf hin, dass sich sein Eilantrag auf die Zeit bis zum Ende des Bewilligungszeitraums am 30.4.2023 erstreckt. In Anbetracht der Ankündigung des dritten Hilfspakets und der ab dem 1.1.2023 zu erwartenden Leistungsreform mit der Einführung des Bürgergeldes, für das der Bundesminister für Arbeit und Soziales auch eine deutliche Erhöhung der Regelsätze angekündigt hat, ergibt sich aber auch daraus keine überwiegende Wahrscheinlichkeit einer Existenzgefährdung des Antragstellers aufgrund eines evident unzureichende Regelsatzes.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 177 SGG.

Rechtskraft
Aus
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