I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 6. Juli 2020 wird zurückgewiesen.
Die Klage auf Verurteilung des Beklagten zur Zurücknahme des von ihm am 3. Mai 2017 gestellten Rentenantrags wird abgewiesen.
II. Die Beteiligten haben einander auch keine Kosten des Berufungsverfahrens und keine Kosten des Klageverfahrens in zweiter Instanz zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um eine Aufforderung zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente.
Die 1952 geborene Klägerin bezog seit 2006, mit einer Unterbrechung im Jahr 2015, Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II). Im Jahr 2016 bezog die Klägerin durchgehend Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 770,82 Euro und im Jahr 2017 bis einschließlich September 2017 Leistungen in Höhe von 844,82 Euro von dem Beklagten (Bescheide vom 1. Dezember 2015 und vom 14. Dezember 2016).
Laut einer der Klägerin erteilten Rentenauskunft der Beigeladenen vom 10. Februar 2015 hätte ihr nach dem seinerzeitigen Stand eine monatliche Regelaltersrente von 979,12 Euro ab dem 1. Oktober 2017 zugestanden. Ab dem 1. April 2015 hätte die Klägerin eine Altersrente für langjährig Versicherte vorzeitig in Anspruch nehmen können. Dies hätte zu einer Rentenminderung von 0,3 % für jeden Monat der vorzeitigen Inanspruchnahme geführt. Hierzu wurde die Klägerin mit Schreiben des Beklagten vom 2. September 2015 angehört.
Mit Bescheid vom 17. Dezember 2015 forderte der Beklagte die Klägerin erstmals auf, unverzüglich einen Antrag auf vorzeitige Gewährung einer Altersrente für langjährig Versicherte zu stellen und die Erledigung bis zum 19. Januar 2016 nachzuweisen. Hierauf legte die Klägerin einen schon mehrfach avisierten Teilzeitarbeitsvertrag vom 18. Dezember 2015 vor, der eine Beschäftigung der Klägerin ab 1. Februar 2016 vorsieht. Hierauf hob der Beklagte seinen Bescheid vom 17. Dezember 2015 mit Bescheid vom 14. April 2016 aufgrund der Arbeitsaufnahme zum 1. Februar 2016 auf.
Mit Schreiben vom 15. April 2016 hörte der Beklagte die Klägerin erneut zu einer Beantragung der vorgezogenen Altersrente für langjährig Versicherte an. Die Klägerin teilte mit Mail vom 5. Mai 2016 mit, dass ihr Arbeitsverhältnis aus triftigen familiären Gründen der Arbeitgeberin noch während der Probezeit aufgelöst worden sei.
Mit Bescheid vom 12. Mai 2016 forderte der Beklagte die Klägerin erneut auf, unverzüglich einen Antrag auf vorzeitige Gewährung einer Altersrente für langjährig Versicherte zu stellen und die Erledigung bis zum 10. Juni 2016 nachzuweisen.
Den dagegen eingelegten Widerspruch der Klägerin vom 2. Juni 2016 wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 12. August 2016, adressiert an die Klägerin, als unbegründet zurück. Die Klägerin sei nach § 12a SGB II verpflichtet, die Rente wegen Alters vorzeitig in Anspruch zu nehmen. Die vorzeitige Inanspruchnahme der Altersrente führe zwar zu verringerten Rentenzahlungen im Vergleich zur Regelaltersrente, dies sei aber vom Gesetz- und Verordnungsgeber so gewollt, wenn dadurch der Anspruch auf Grundsicherung für Arbeitsuchende gemindert werde oder sogar ganz entfalle. Nur wenn die Inanspruchnahme der vorzeitigen Rente unbillig wäre, sei der Hilfsbedürftige von der Antragstellung entbunden. Insoweit habe der Verordnungsgeber die Verordnung zur Vermeidung unbilliger Härten durch Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente (Unbilligkeitsverordnung - UnbilligkeitsV) erlassen, die zwar nicht abschließend, aber doch wegweisend sei. Kein Tatbestand der UnbilligkeitsV sei erfüllt. Die von der Klägerin geltend gemachte verringerte monatliche Rentenzahlung bei vorzeitiger Inanspruchnahme der Rente sei gerade keine Unbilligkeit im Sinne der UnbilligkeitsV, sondern vielmehr vom Gesetz- und Verordnungsgeber in Kauf genommene Folge der Verpflichtung zur vorzeitigen Inanspruchnahme einer Rente. Der weitere ALG II-Bezug habe nur geringe Auswirkungen auf die Höhe der Rente. Zudem lasse sich im Fall der Klägerin nicht ausschließen, dass diese selbst bei Inanspruchnahme der abschlagsfreien Altersrente auf ergänzende Sozialleistungen angewiesen sei. Nach §§ 12a, 13 und 5 Abs. 3 SGB II stehe die Aufforderung zur Beantragung einer vorzeitigen Rente im Ermessen der Beklagten. Die Beantragung der vorzeitigen Rente sei ein adäquates Mittel, um die weitere Bedürftigkeit der Klägerin nach dem SGB II auszuschließen. Es gebe keinen Grund, die Klägerin in der Grundsicherung für Arbeitsuchende zu belassen. Trotz allseitiger Bemühungen habe die Klägerin keine Aussicht auf Eingliederung in den Arbeitsmarkt, so dass das Ziel der Grundsicherung nicht erreicht werden könne. Zur Sicherstellung des Lebensunterhalts eigne sich die Rente genauso wie die Sozialhilfe.
Am 14. September 2016 hat die Klägerin beim Sozialgericht Darmstadt Klage gegen die Aufforderung zur Beantragung vorzeitiger Altersrente erhoben. Ihr Prozessbevollmächtigter habe mit Schreiben vom 7. Juli 2016 im Vorverfahren angezeigt, dass er sie anwaltlich vertrete und den Widerspruch der Klägerin vom 2. Juni 2016 weiter begründet. Der Widerspruchsbescheid hätte daher nicht an sie persönlich übersandt werden dürfen, sondern hätte nach § 13 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) an den Prozessbevollmächtigten übersandt werden müssen. Schon daraus folge die Rechtswidrigkeit des Bescheides.
Überdies liege ein Ermessensfehler vor. Der Beklagte hätte vor der Aufforderung zur Rentenantragsstellung die Höhe der zu erwartenden Rente ermitteln müssen, was nicht geschehen sei. Zudem seien die §§ 12a, 5 Abs. 3 SGB II wegen Verstoßes gegen das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz (GG) mit dem Grundgesetz unvereinbar. Die Pflicht zur Beantragung einer Rente stelle einen Eingriff in das Recht auf allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG dar, dessen Einschränkung der SGB II-Gesetzgeber hätte nennen müssen. Daneben stelle die Zwangsverrentung einen unzulässigen Eingriff in die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG dar. Zwar sei es insoweit denkbar, dass eine Inhalts- und Schrankenbestimmung im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG vorliege. Diese sei jedoch auf ihre Verhältnismäßigkeit zu überprüfen, was das BSG bisher jedoch nicht getan habe, sodass dessen Rechtsprechung insoweit unbeachtlich sei.
Die Klägerin hat beantragt, den Bescheid vom 12. Mai 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. August 2016 aufzuheben.
Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Er hat vorgetragen, dass Verfahrensfehler nicht vorlägen. Nach § 37 Abs. 1 Satz 2 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) stehe es im Ermessen der Behörde, ob sie einen Verwaltungsakt gegenüber einem Bevollmächtigen bekanntgebe. Hier habe der Beklagte sein Ermessen dahin ausgeübt, dass er von der Bekanntgabe an den Verfahrensbevollmächtigten abgesehen habe. Die Klägerin habe Anspruch auf eine Altersrente an langjährige Versicherte. Dies folge daraus, dass die Wartezeit für eine solche Rente 35 Versicherungsjahre, was 420 Versicherungsmonaten entspreche, betrage. Dabei würden alle Kalendermonate mit rentenrechtlichen Zeiten angerechnet. Bei der Klägerin seien 574 solcher Kalendermonate festgestellt. Die Klägerin habe die Altersgrenze für die vorzeitige Inanspruchnahme dieser Rente mit Ablauf des 20. März 2015 erreicht. Bei Erreichen der Regelaltersgrenze am 20. September 2017 könne sie eine Rente in Höhe von 979,12 Euro beanspruchen. Bei vorzeitiger Inanspruchnahme betrüge dieser Zahlbetrag unter Berücksichtigung von monatlichen Abschlägen von 0,3 % ungefähr 935 Euro. Damit werde die Hilfsbedürftigkeit nach dem SGB II beseitigt. Die Aufforderung zur Antragsstellung sei auch nicht unbillig nach § 3 UnbilligkeitsV, da die Klägerin erst am 20. September 2017 die Voraussetzungen erfülle, um einen ungekürzten Anspruch auf Rentenzahlungen zu erlangen und damit nicht „alsbald“ im Sinne der UnbilligkeitsV. Das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG sei nicht verletzt. Dieses finde nur Anwendung, wenn ein Gesetz, das aufgrund eines Gesetzesvorbehalts in einer Grundrechtsnorm ergangen sei, ein Grundrecht einschränke. Es sei allenfalls denkbar, dass die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG berührt sei. Bei der Pflicht zur Beantragung vorzeitiger Rente handele es sich um eine Inhalts- und Schrankenbestimmung im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG. Dies sei kein Gesetzesvorbehalt im Sinne des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG.
Am 25. April 2017 hat die Klägerin für sich die Regelaltersrente zum 1. Oktober 2017 beantragt. Diese ist ihr mit Bescheid vom 12. Oktober 2017 zum 1. Oktober 2017 mit einem Zahlbetrag von 957,75 Euro bewilligt worden.
Am 3. Mai 2017 hat der Beklagte für die Klägerin die vorgezogene Altersrente beantragt. Das Schreiben enthält den Hinweis, dass die Klägerin von dem Beklagten mit Schreiben vom 12. Mai 2016 aufgefordert worden sei, bei der Beigeladenen spätestens bis zum 10. Juni 2016 eine vorgezogene Altersrente zu beantragen. Diese Antragstellung sei bisher nach Kenntnis des Beklagten unterblieben. Hinsichtlich dieses Rentenantrags ist noch keine Entscheidung der Beigeladenen ergangen.
Das Sozialgericht hat den zuständigen Rentenversicherungsträger zum Verfahren beigeladen. Die Beigeladene hat erklärt, dass die vorgezogene Altersrente ab dem 1. Mai 2017 bewilligt werden könnte.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 6. Juli 2020 als zulässig, aber unbegründet abgewiesen. Der angefochtene Bescheid sei rechtmäßig und beschwere die Klägerin nicht im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Der Beklagte habe die Klägerin zu Recht aufgefordert, einen Antrag auf vorzeitige Altersrente zu stellen.
Streitgegenstand sei die an die Klägerin gerichtete Aufforderung des Beklagten zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente mit Bescheid vom 12. Mai 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. August 2016.
Statthafte Klageart sei die Anfechtungsklage gem. § 54 Abs. 1 Satz 1 SGG. Die Aufforderung zur vorzeitigen Beantragung einer Altersrente habe sich auch nicht gemäß § 39 Abs. 2 SGB X erledigt und die Anfechtungsklage sei weiterhin zulässig, nachdem über den Antrag der Beklagten auf Bewilligung einer vorzeitigen Altersrente vom 3. Mai 2017 noch nicht bestandskräftig entschieden worden sei.
Der Widerspruchsbescheid sei durch die Bekanntgabe gegenüber der Klägerin wirksam geworden. Eine Bekanntgabe auch oder nur gegenüber ihrem Prozessbevollmächtigten sei nicht erforderlich gewesen. Nach § 37 Abs. 1 Satz 1 SGB X sei ein Verwaltungsakt demjenigen Beteiligten bekanntzugeben, für den er bestimmt sei oder der von ihm betroffen werde. Nach Satz 2 könne die Bekanntgabe eines Verwaltungsakts gegenüber dem im Verwaltungsverfahren bestellten Bevollmächtigten erfolgen. Dabei handele es sich um eine Spezialvorschrift, die § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB X verdränge und der Behörde Ermessen einräume, ob sie den Verwaltungsakt gegenüber dem Adressaten oder Betroffenen des Verwaltungsakts oder dessen Bevollmächtigten bekanntgebe (Littmann in: Hauck/Noftz, SGB X, Stand Mai 2017, § 37 Rn. 24 m.w.N). Dabei sei es nicht nötig, die Ermessensentscheidung zu begründen (vgl. zum inhaltsgleichen § 41 Abs. 1 Satz 2 VwVfG Stelkens in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 41 Rn. 41). Vorliegend seien keine gerichtlich überprüfbaren Ermessensfehler (§ 54 Abs. 2 Satz 2 SGG) ersichtlich. Es sprächen keine besonderen Umstände dafür, dass der Widerspruchsbescheid nicht gegenüber der Klägerin hätte ergehen dürfen (vgl. zu ermessenslenkenden Umständen etwa Littmann in: Hauck/Noftz, SGB X, Stand Mai 2017, § 37 Rn. 26,).
Ermächtigungsgrundlage für die streitige Aufforderung zur vorzeitigen Beantragung einer Altersrente sei § 12a i.V.m. § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II. Nach § 12a Satz 1, 2 Nr. 1 SGB II seien Leistungsberechtigte verpflichtet, Sozialleistungen anderer Träger in Anspruch zu nehmen und die dafür erforderlichen Anträge zu stellen, sofern dies zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung der Hilfebedürftigkeit führe, wobei Leistungsberechtigte nicht verpflichtet seien, bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres eine Rente wegen Alters vorzeitig in Anspruch zu nehmen. Stellten Leistungsberechtigte trotz Aufforderung einen erforderlichen Antrag auf Leistungen eines anderen Trägers nicht, so könnten nach § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II die Leistungsträger nach diesem Buch den Antrag stellen sowie Rechtsbehelfe und Rechtsmittel einlegen.
Die Klägerin sei zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente verpflichtet, denn diese sei zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung ihrer Hilfebedürftigkeit erforderlich. Erforderlich in diesem Sinne sei nicht nur jede Inanspruchnahme von Sozialleistungen, die Hilfebedürftigkeit nicht eintreten oder eine bestehende Hilfebedürftigkeit wegfallen lasse. Vielmehr genüge es, wenn die Dauer einer Hilfebedürftigkeit verkürzt bzw. begrenzt oder der Höhe nach verringert werde (BSG, Urteil vom 19. August 2015 – B 14 AS 1/15 R – juris Rn. 21). Hier werde die Hilfebedürftigkeit der Klägerin durch den Bezug der vorzeitigen Altersrente beseitigt, denn nach § 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II erhalte keine Leistungen nach dem SGB II, wer Rente wegen Alters beziehe.
Insoweit sei es unbeachtlich, dass die Klägerin möglicherweise ihren Lebensunterhalt nicht durch die vorzeitige Altersrente decken könne und auf ergänzende Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch – Sozialhilfe (SGB XII) angewiesen sein könnte. Allein maßgeblich sei die Hilfebedürftigkeit im Sinne des SGB II, welche durch den grundlegenden Ausschluss von Leistungen nach diesem Buch vollständig beseitigt werde (BSG, Urteil vom 23. Juni 2016 − B 14 AS 46/15 R – juris Rn. 19).
Die Antragstellung sei auch erforderlich im Sinne des § 12a Satz 1 SGB II, weil Renten aus eigener Versicherung nur auf Antrag geleistet würden, § 99 Abs. 1 Satz Sozialgesetzbuch Sechstes Buch – Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI).
Der Ausschlussgrund des § 12a Satz 2 Nr. 1 SGB II, wonach eine Altersrente nicht vor Ablauf des 63. Lebensjahres beantragt werden müsse, stehe der Aufforderung vom 12. Mai 2016 nicht entgegen, da die Klägerin schon mit Ablauf des 20. März 2015 das 63. Lebensjahr vollendet habe.
Die Verpflichtung der Klägerin zur Beantragung und Inanspruchnahme der vorzeitigen Altersrente sei nicht durch die auf § 13 Abs. 2 SGB II beruhende UnbilligkeitsV ausgeschlossen. Maßgeblich sei die UnbilligkeitsV in ihrer ursprünglichen Fassung vom 14. April 2008 (BGBl. I S. 734), da es sich bei der Aufforderung zur Rentenantragstellung um einen belastenden Verwaltungsakt handele, so dass regelmäßig die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung maßgeblich sei (st. Rspr. des BSG, z.B. BSG, Urteil vom 7. Juli 2011 − B 14 AS 153/10 R; BSG, Urteil vom 28. Oktober 2014 – B 14 AS 39/13 R, Rn. 19). Bei der Überprüfung von Ermessensentscheidungen, die mit reiner Anfechtungsklage angefochten würden, komme es stets auf den Zeitpunkt der letzten Verwaltungshandlung an (BSG, Urteil vom 23. Juni 2016 – B 14 AS 4/15 R – juris). Dabei bestimmten die Tatbestände der UnbilligkeitsV abschließend, wann Leistungsberechtigte nach Vollendung des 63. Lebensjahres ausnahmsweise zur Vermeidung von Unbilligkeiten nicht verpflichtet seien, eine Rente wegen Alters vorzeitig in Anspruch zu nehmen (h.M., vgl. etwa BSG, Urteil vom 19. August 2015 – B 14 AS 1/15 R; BSG, Urteil vom 23. Juni 2016 − B 14 AS 46/15 R; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 4. Dezember 2014 – L 7 AS 1775/14 – juris Rn. 28).
Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld, den sie durch Beantragung der Altersrente verlieren könnte (§ 2 UnbilligkeitsV). Die Klägerin habe auch nicht in nächster Zukunft die Altersrente abschlagsfrei in Anspruch nehmen können (§ 3 UnbilligkeitsV). Maßgeblich sei danach die Zeitspanne, die zwischen der abschlagsbehafteten und der abschlagsfreien Inanspruchnahme einer Altersrente liege. Dabei sei nicht darauf abzustellen, ab wann die Klägerin tatsächlich die vorzeitige Altersrente beanspruchen könne, sondern, ab wann sie sie beanspruchen sollte. Denn streitgegenständlich sei allein die Aufforderung, die vorzeitige Altersrente zu beantragen.
Das BSG habe einerseits entschieden, dass, jedenfalls wenn die abschlagsfreie Altersrente vier Monate nach der abschlagsbehafteten Altersrente beansprucht werden könne, der Verweis auf die abschlagsbehaftete Rente unbillig sei, weil der Anspruch auf abschlagsfreie Altersrente „in nächster Zukunft“ bestehe (BSG, Urteil vom 9. August 2018 – B 14 AS 1/18 R – juris Rn. 16). Andererseits sei ein Zeitraum von zwei Jahren oder länger zwischen Beginn der vorzeitigen Inanspruchnahme mit Abschlägen nach Vollendung des 63. Lebensjahres bis zur abschlagsfreien Inanspruchnahme aber nicht eine bevorstehende abschlagsfreie Altersrente „in nächster Zukunft“ bzw. „alsbald“ (BSG, Urteil vom 19.8.2015 – B 14 AS 1/15 R – juris Rn. 35). Zwischen der Aufforderung vom 12. Mai 2016 in Form des Widerspruchsbescheids vom 12. August 2016, die vorzeitige Altersrente „unverzüglich“ zu beantragen, und der abschlagsfreien Altersrente, welche die Klägerin ab Oktober 2017 habe beanspruchen können, lägen 14 Monate. Bei einem Zeitraum von mehr als einem Jahr könne nicht mehr davon gesprochen werden, dass die abschlagsfreie Rente „in nächster Zukunft“ beansprucht werden könne.
Unbeachtlich sei insoweit, dass die Klägerin tatsächlich die geminderte Altersrente erst ab dem 1. Mai 2017 und damit nur fünf Monate vor der abschlagsfreien Altersrente beanspruchen könne, weil der Beklagte erst mit Schreiben vom 3. Mai 2017 bei der Beigeladenen einen entsprechenden Rentenantrag für die Klägerin gestellt habe. Denn Streitgegenstand sei allein die Aufforderung zur Antragsstellung, sodass Umstände, die nach dem Widerspruchsverfahren eingetreten seien, außer Betracht zu bleiben hätten.
Auch die Unbilligkeitstatbestände der §§ 4, 5 UnbilligkeitsV seien nicht erfüllt. Die Klägerin habe seit dem 16. März 2016 keine Beschäftigung mehr. Zudem habe bis zum Erlass des Widerspruchsbescheids auch keine Erwerbstätigkeit bevorgestanden.
Der Beklagte habe das ihm zustehende Ermessen fehlerfrei ausgeübt. Stellten Leistungsberechtigte trotz Aufforderung einen erforderlichen Antrag auf Leistungen eines anderen Trägers nicht, könnten die Leistungsträger nach dem SGB II den Antrag stellen sowie Rechtsbehelfe und Rechtsmittel einlegen, § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II. Damit stehe das „Ob“ der Antragstellung im Ermessen des Leistungsträgers. Noch vor der Ermessensentscheidung der Leistungsträger über ihre Antragstellung sei indes bereits über die Aufforderung der Leistungsberechtigten zur Antragstellung durch die Leistungsträger eine Ermessensentscheidung zu treffen. Auch die der eigenen Antragstellung vorausgehende Aufforderung der Leistungsberechtigten zur Beantragung einer vorrangigen Leistung stehe im Ermessen der Leistungsträger (BSG, Urteil vom 19. August 2015 – B 14 AS 1/15 R – juris Rn. 27). Die Ermessensausübung sei gerichtlich nur eingeschränkt darauf zu prüfen (§ 39 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil [SGB I], § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG), ob Ermessen überhaupt ausgeübt, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden sei (vgl. BSG, Urteil vom 23. Juni 2016 – B 14 AS 46/15 R – juris Rn. 24). Dabei entspreche es regelmäßig pflichtgemäßem Ermessen, den Leistungsempfänger, der nach § 12a SGB II zur Antragstellung verpflichtet sei, zur Antragstellung aufzufordern. Nur im Einzelfall könne es zur Abwendung unbilliger Härten erforderlich sein, von der Aufforderung abzusehen (vgl. BSG Urteil vom 19. August 2015 – B 14 AS 1/15 R – juris Rn. 28 f.).
Wenngleich die Ermessenausführungen im Ausgangsbescheid knapp gehalten seien, habe der Beklagte doch erkennen lassen, dass er sich bewusst sei, dass die Entscheidung über die Aufforderung zur Antragstellung in seinem Ermessen stehe. Überdies sei Gegenstand der gerichtlichen Überprüfung der Bescheid in Gestalt des Widerspruchsbescheids (§ 95 SGG), sodass Ermessenserwägungen auch noch im Vorverfahren hätten nachgeholt werden können. Solche seien im Widerspruchsbescheid ausreichend erfolgt, denn die Behörde habe die für ihre Entscheidung tragenden Umstände dargelegt. Besondere Härten seien von der Klägerin nicht vorgetragen worden und hätten deshalb auch nicht von dem Beklagten ermittelt werden müssen. Allein die theoretische Möglichkeit, dass die Klägerin aufgrund der vorzeitigen Inanspruchnahme der Altersrente auf ergänzende Leistungen nach dem SGB XII angewiesen sein könnte, sei von dem Beklagten nicht besonders zu berücksichtigen gewesen, da die daraus folgenden dauerhaften Rentenabschläge und die damit einhergehenden geringeren Rentenerhöhungen dem Gesetzgeber bekannt gewesen seien und nicht zur Annahme einer außergewöhnlichen Härte führen könnten (BSG, Urteil vom 23. Juni 2016 – B 14 AS 46/15 R – juris Rn. 27).
Dieses Ergebnis verletze die Klägerin auch nicht in ihren Grundrechten.
Art. 14 Abs. 1 GG sei nicht verletzt. Bei der Rentenanwartschaft handele es sich um verfassungsrechtlich geschütztes Eigentum im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG. Allerdings ergebe sich die Reichweite der Eigentumsgarantie nicht unmittelbar aus dem Grundgesetz, sondern erst aus der Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums, die nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG Sache des Gesetzgebers sei. Eingriffe in rentenrechtliche Anwartschaften müssten einem Gemeinwohlzweck dienen und verhältnismäßig sein. Sie müssten zur Erreichung des angestrebten Zieles geeignet und erforderlich sein. Insbesondere dürften sie den Betroffenen nicht übermäßig belasten und für ihn deswegen unzumutbar sein (BVerfG, Beschluss vom 11. November 2008 – 1 BvL 3/05 u.a. – juris m.w.N.).
§ 12a SGB II i.V.m. der UnbilligkeitsV verfolge den legitimen Zweck, die Nachrangigkeit der Leistungen nach dem SGB II, wie er von § 2 SGB II festgelegt werde, zu fördern, indem Leistungsberechtigte verpflichtet würden, vorrangig Rentenleistungen in Anspruch zu nehmen. Die Vorschriften seien zur Erreichung des Ziels geeignet, denn der Rentenbezug lasse wegen § 7 Abs. 4 SGB II ohne weiteres den Leistungsbezug nach dem SGB II entfallen. Die Vorschriften seien auch erforderlich. Ein weniger belastendes, gleich effektives Mittel zur Beseitigung der Hilfebedürftigkeit sei nicht ersichtlich. Die Hilfebedürftigkeit im Sinne des SGB II würde nur dann vollständig entfallen, wenn ein den Bedarf deckendes Einkommen vorhanden wäre. Dann bestünde aber ebenso kein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II. Die Verpflichtung zur Inanspruchnahme vorzeitiger Altersrente sei auch verhältnismäßig im engeren Sinne. Beeinträchtigt werde das Recht des Betroffenen auf seinen Existenzsicherungsanspruch, wie er durch das SGB II gewährleistet werde. Dem gegenüber stehe das Interesse der Allgemeinheit, durch Steuermittel nur denjenigen zu unterstützen, der dazu nicht selbst in der Lage sei. Dabei würden die Interessen der Leistungsbezieher dadurch berücksichtigt, dass sie erst ab Vollendung des 63. Lebensjahres verpflichtet seien, eine Altersrente zu beantragen, wenn also in der Regel davon ausgegangen werden könne, dass die Erwerbsbiografie abgeschlossen und somit die Ziele des § 2 SGB II, insbesondere die Verringerung oder Beendigung der Hilfsbedürftigkeit durch Aufnahme einer Erwerbstätigkeit, nicht mehr erreicht werden könnten. Überdies werde besonderen Härten durch die UnbilligkeitsV entgegengewirkt, indem in den dort normierten Fällen die Pflicht zur Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente ausgeschlossen werde. Weiter führe das Missachten der Pflicht aus § 12a SGB II zu keiner Sanktion, sondern könne allenfalls über § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II dazu führen, dass der Leistungsträger die Rente für den Leistungsberechtigten beantrage. Soweit der Leistungsberechtigte seiner gesetzlichen Verpflichtung folge und einen Antrag auf vorzeitige Rente stelle, führe dies zwar zu monatlich geringeren Rentenzahlungen. Dies rechtfertige sich aber daraus, dass insgesamt ein längerer Rentenbezug erfolge, was nach der Rechtsprechung des BVerfG wie des BSG nicht zu beanstanden sei (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11. November 2008 – 1 BvL 3/05 u.a – juris; BSG, Urteil vom 19. August 2015 – B 14 AS 1/15 R – juris Rn. 45 m.w.N.).
Die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG sei nicht verletzt. Zwar sei die Beantragung der abschlagsbehafteten Altersrente durch den Leistungsträger ein Eingriff in die Dispositionsfreiheit des Leistungsempfängers. Dieser sei aber verfassungsrechtlich dadurch gerechtfertigt, dass kein gleich geeignetes, aber den Betroffenen weniger belastendes Mittel zur Sicherung des Nachrangs bei fehlender Mitwirkung des Leistungsberechtigten zur Verfügung stehe. Zudem sei der Eingriff verhältnismäßig im engeren Sinne, weil auf die Interessen der Leistungsempfänger hinreichend Rücksicht genommen werde (s.o.).
Das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG sei nicht verletzt. Nach Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG müsse, soweit nach dem Grundgesetz ein Grundrecht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden könne, das Gesetz allgemein und nicht nur für den Einzelfall gelten. Nach Satz 2 müsse das Gesetz außerdem das Grundrecht unter Angabe des Artikels nennen. Nach der Rechtsprechung des BVerfG diene das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG zur Sicherung derjenigen Grundrechte, die aufgrund eines speziellen, vom Grundgesetz vorgesehenen Gesetzesvorbehalts über die im Grundrecht selbst angelegten Grenzen hinaus eingeschränkt werden könnten (BVerfG, Urteil vom 18. Dezember 1968 – 1 BvR 638/64 u.a.). Das Zitiergebot solle sicherstellen, dass nur gewollte Grundrechtseingriffe erfolgten, indem es den Gesetzgeber zwinge, solche Eingriffe im Gesetzeswortlaut auszuweisen (BVerfG, Beschluss vom 4. Mai 1983 – 1 BvL 47/80 u.a.). Von solchen Grundrechtseinschränkungen würden andersartige grundrechtsrelevante Regelungen unterschieden, die der Gesetzgeber in Ausführung der ihm obliegenden, im Grundrecht vorgesehenen Regelungsaufträge, Inhaltsbestimmungen oder Schrankenbeziehungen vornehme (BVerfG, Urteil vom 18. Dezember 1968 – 1 BvR 638/64 u.a.; BVerfG, Beschluss vom 26. Mai 1970 – 1 BvR 657/68). In diesen Fällen sei die Warn- und Besinnungsfunktion des Zitiergebots von geringerem Gewicht, weil dem Gesetzgeber in der Regel ohnehin bewusst sei, dass er sich im grundrechtsrelevanten Bereich bewege. Durch die Erstreckung des Zitiergebots auf solche Regelungen würde es zu einer die Gesetzgebung unnötig behindernden leeren Förmlichkeit kommen (BVerfG, Beschluss vom 30. Mai 1973 – 2 BvL 4/73), weshalb in diesen Fällen das Zitiergebot nicht anwendbar sei.
Bei der Verpflichtung aus § 12a SGB II handele es sich um eine Inhalts- und Schrankenbestimmung i.S.d. Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG (vgl. BSG, Urteil vom 19. August 2015 – B 14 AS 1/15 R – juris Rn. 45 m.w.N.). Auf eine solche Bestimmung sei das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG nach der oben dargestellten Rechtsprechung des BVerfG nicht anwendbar, da sich der Gesetzgeber ohnehin bewusst gewesen sei, dass er sich im grundrechtsrelevanten Bereich bewegt habe. Die Zitierung von Art. 14 GG wäre eine reine Förmelei.
Auch auf die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG sei das Zitiergebot nicht anwendbar, da die allgemeine Handlungsfreiheit von vornherein nur unter dem Vorbehalt der verfassungsmäßigen Ordnung gewährleistet sei (BVerfG, Urteil vom 29. Juli 1959 – 1 BvR 394/58). Die Vorschrift des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG gelte aber nur für Gesetze, die darauf abzielten, ein Grundrecht über die in ihm selbst angelegten Grenzen hinaus einzuschränken (BVerfG, Beschluss vom 18. Februar 1970 – 2 BvR 531/68).
Die Klägerin hat gegen das ihr am 30. August 2020 zugestellte Urteil am 28. September 2020 Berufung beim Hessischen Landessozialgericht eingelegt.
Zur Begründung hat sie vorgetragen, die Aufforderung des Beklagten zur Inanspruchnahme einer abschlagsbehafteten Altersrente sei rechtswidrig, da sie gegen höherrangiges Recht verstoße.
Es sei bereits fraglich, ob ein legitimer Zweck vorliege. Das Sozialgericht habe diesen darin gesehen, dass mit der vorzeitigen Inanspruchnahme einer Altersrente die Nachrangigkeit der Leistungen nach dem SGB II sichergestellt werden solle (Urteil Seite 10). Hierbei werde jedoch übersehen, dass hierdurch nur diejenigen in ihrer grundgesetzlich geschützten Eigentumsgarantie hinsichtlich der Rentenanwartschaft betroffen seien, die eine solche erworben hätten. Mithin werde der Nachrang der Grundsicherung für Arbeitsuchende zu Lasten derjenigen verwirklicht, die sich eine Rentenanwartschaft aufgebaut hätten. Allerdings sei dies nicht der vom Gesetzgeber in den Gesetzesmaterialien festgehaltene Zweck (Schriftsatz vom 14. März 2019, S. 3). Es sei nicht ersichtlich, dass die Frühverrentung von Arbeitslosengeld II-Empfängern einem Gemeinwohlinteresse diene. Rein fiskalische Ziele seien im Anwendungsbereich des Art. 14 GG nur bedingt anführbar.
Es fehle insoweit zudem an der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in die Eigentumsgarantie, da es an der Freiwilligkeit des Leistungsberechtigten fehlt. Anders als in den vom BVerfG entschiedenen Fällen werde über die §§ 5, 12a SGB II die abschlagsbehaftete Rente gerade nicht infolge eines Entschlusses des Rentenberechtigten in Anspruch genommen, sondern aufgrund eines Zwangs.
Überdies sei Verwirkung eingetreten. Das Verfahren nach §§ 5, 12a SGB II diene entweder der Antragstellung durch den Leistungsberechtigten selbst oder – im Falle von dessen Weigerung – der Ermöglichung der Antragstellung unmittelbar durch den Grundsicherungsträger. Obwohl die Klägerin den Nachweis über die Antragstellung bis zum 10. Juni 2016 hätte erbringen müssen, habe der Beklagte bis zum 3. Mai 2017 – und damit annähernd ein Jahr – zugewartet, um selbst den Rentenantrag bei der Beigeladenen zu stellen. Angesichts dessen, dass der Beklagte eine selbständige Antragstellung bei ausbleibendem Rentenantrag durch die Klägerin in Aussicht gestellt habe, habe die Klägerin darauf vertrauen dürfen, dass ein derartiger Antrag nach rund elf Monaten nicht mehr gestellt werde, zumal über den Widerspruch durch den Beklagten bereits am 12. August 2016 entschieden worden sei.
Die Ausführungen des Sozialgerichts zum Zitiergebot überzeugten trotz der in Bezug genommenen Rechtsprechung des BVerfG nicht, da derartige Einschränkungen in Art. 19 Abs. 1 Satz 2 SGG [gemeint: Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG] keinen Niederschlag gefunden hätten. Es sei schon bezeichnend, dass selbst das BVerfG anerkannte Auslegungsmethoden ignoriere und grundgesetzliche Vorgaben einschränke. Dabei sei die besondere Fassung von Vorbehalten kein Grund, das Zitiergebot nicht anzuwenden, soweit sie jedenfalls auch Grundrechtseinschränkungen ermöglichten (so Sachs, in: Sachs, GG, 8. Aufl., 2018, Art. 19, Rn. 29). Schließlich berufe sich die Klägerin auf § 6 UnbilligkeitsV in der Fassung vom 4. Oktober 2016, gültig ab 1. Januar 2017, da die Rentenantragstellung des Beklagten nach Inkrafttreten dieser Bestimmung erfolgt sei.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 6. Juli 2020 zum Aktenzeichen S 33 AS 954/16 sowie den Bescheid des Beklagten vom 12. Mai 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. August 2016 aufzuheben und
den Beklagten zu verurteilen, seinen Rentenantrag vom 3. Mai 2017 bei der Beigeladenen zurückzunehmen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen und die im Berufungsrechtszug im Wege der Klageerweiterung in das Verfahren eingeführte Klage abzuweisen.
Der Beklagte rügt die Klageerweiterung in der Berufungsinstanz und lässt sich ausdrücklich nicht auf diese ein. Er hält das angefochtene erstinstanzliche Urteil für zutreffend.
Die Beigeladene stellt keinen Antrag und hat sich zur Sache nicht eingelassen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes, insbesondere des Vortrags der Beteiligten, wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der dem Gericht teils in elektronischer, teils in Papierform vorliegenden Leistungsakte des Beklagten sowie die Verwaltungsakte der Beigeladenen verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist zulässig, aber nicht begründet.
A. Das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 6. Juli 2020 ist nicht zu beanstanden. Der Bescheid des Beklagten vom 12. Mai 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids 12. August 2016 ist rechtmäßig.
I. Die vor dem Sozialgericht erhobene Klage ist als Anfechtungsklage zulässig. Denn die Aufforderung der Klägerin zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente stellt einen belastenden Verwaltungsakt i.S. des § 31 Satz 1 SGB X dar (BSG, Beschluss vom 16. Dezember 2011 – B 14 AS 138/11 B – juris Rn. 5). Die Aufforderung setzt die allgemein für Leistungsberechtigte geltende gesetzliche Verpflichtung nach § 12a Satz 1 SGB II, vorrangige Leistungen in Anspruch zu nehmen, in eine konkrete Regelung im Einzelfall der Klägerin um, bis zum 10. Juni 2016 eine vorzeitige Altersrente zu beantragen.
Diese Aufforderung zur Rentenantragstellung hat sich auch nicht mit der Rentenantragstellung der Klägerin vom 25. April 2017 zum 1. Oktober 2017 erledigt. Denn die Klägerin hat keinen Antrag auf vorzeitige Altersrente, sondern einen Antrag auf Regelaltersrente gestellt. Anstelle der Klägerin hat der Beklagte am 3. Mai 2017 seinerseits einen Antrag auf vorzeitige Altersrente gestellt, über den noch nicht entscheiden ist. Insoweit ist der angegriffene Bescheid, in dem die Prüfung eines solchen Vorgehens angekündigt worden war, noch nicht erledigt. Hat die Anfechtungsklage keinen Erfolg, muss der beigeladene Rentenversicherungsträger über den noch nicht beschiedenen Antrag des Beklagten vom 3. Mai 2017 auf vorzeitige Altersrente entscheiden (vgl. BSG, Urteil vom 19. August 2015 – B 14 AS 1/15 R – juris Rn. 13), wenn nicht der Antrag des Beklagten auf vorzeitige Altersrente aus anderen Gründen nicht mehr zu bescheiden ist (dazu unten unter B.).
II. Hinsichtlich der Bekanntgabe des Bescheids an die Klägerin ist den Ausführungen des Sozialgerichts nichts hinzuzufügen (§ 153 Abs. 2 SGG).
III. Auch hinsichtlich des Nichteingreifens von Unbilligkeitstatbeständen nach der UnbilligkeitsV wird nach eigener Prüfung zur Vermeidung von Wiederholungen auf die zutreffenden und ausführlichen Ausführungen des Sozialgerichts verwiesen (§ 153 Abs. 2 SGG). Insbesondere hat das Sozialgericht auch zutreffend auf die UnbilligkeitsV in ihrer ursprünglichen Fassung vom 14. April 2008 (BGBl. I S. 734) abgestellt, da es sich bei der Aufforderung zur Rentenantragstellung um einen belastenden Verwaltungsakt handelt, so dass regelmäßig die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung maßgeblich ist (st. Rspr. des BSG, z.B. BSG, Urteil vom 7. Juli 2011 − B 14 AS 153/10 R; BSG, Urteil vom 28. Oktober 2014 – B 14 AS 39/13 R, Rn. 19).
Auch das Sächsische Landessozialgericht hat mit Urteil vom 17. Oktober 2019 (L 3 AS 330/17 – juris Rn. 50, 51) entschieden, dass § 6 UnbilligkeitsV in der neuen, ab 1. Januar 2017 geltenden Fassung keine Anwendung findet auf Fälle, in denen der Widerspruchsbescheid bis zum 31. Dezember 2016 ergangen ist (ebenso auch LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 12. April 2017 – L 5 AS 340/16 B ER – juris Rn. 34), weil die Neuregelung nicht rückwirkend eingeführt wurde.
IV. Soweit die Klägerin einen Eingriff in ihr Eigentumsrecht aus Art. 14 GG rügt und vorträgt, die Aufforderung des Beklagten zur Inanspruchnahme einer abschlagsbehafteten Altersrente sei rechtswidrig, da sie gegen höherrangiges Recht verstoße, kann sie mit ihrer Argumentation nicht durchdringen.
In der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung ist geklärt, dass das Anwartschaftsrecht auf eine Altersrente eine durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützte vermögenswerte Rechtsposition ist (BVerfG, Urteil vom 16. Juli 1985 –1 BvL 5/80 u.a. – BVerfGE 69, 272, 298 m.w.N.) und dass Rentenabschläge bei Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente mit Art. 14 Abs. 1 GG vereinbar sind. Auch die fehlende Möglichkeit, Rentenanwartschaften nach verpflichtender Rentenantragstellung erhöhen zu können, stellt keinen Verstoß gegen Art. 14 GG dar (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11. November 2008 – 1 BvL 3/05 ua; Beschluss vom 5. Februar 2009 – 1 BvR 1631/04). Hierauf beruft sich das Bundessozialgericht in seinem Urteil vom 19. August 2015 (B 14 AS 1/15 R – juris Rn. 45).
Der Klägerin ist zuzugeben, dass damit noch nicht ausdrücklich und abschließend durch das BVerfG geklärt ist, ob auch die Aufforderung durch den Leistungsträger nach dem SGB II, eine solche mit Abschlägen behaftete Rente zu beantragen, mit der Verfassung vereinbar ist. Die Klägerin macht geltend, Eingriffe in rentenrechtliche Anwartschaften müssten einem Gemeinwohlzweck dienen und verhältnismäßig sein. Sie müssten zur Erreichung des angestrebten Zieles geeignet und erforderlich sein. Insbesondere dürften sie den Betroffenen nicht übermäßig belasten und für ihn deswegen unzumutbar sein. Diesem zutreffend beschriebenen Maßstab hält § 12a SGB II aus Sicht des Senats stand (ebenso schon Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 4. Dezember 2014 – L 7 AS 1775/14 – juris Rn. 38-41).
Die Gesetzesbegründung zu § 12a SGB II lautet: „Hilfebedürftige im Sinne des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (SGB II) haben vor Inanspruchnahme der Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende andere vorrangige Leistungen in Anspruch zu nehmen (sog. Nachrang der Grundsicherung für Arbeitsuchende). Diese Pflicht wird bislang bereits in den §§ 5, 7 und 9 SGB II vorausgesetzt. Satz 1 der Neuregelung stellt nunmehr ausdrücklich klar, dass zur Inanspruchnahme einer vorrangigen Sozialleistung nur verpflichtet ist, wer dadurch die Hilfebedürftigkeit beseitigen, vermeiden, verringern oder verkürzen kann. Satz 2 schränkt die in Satz 1 geregelte Verpflichtung für den Fall der Altersrente ein. Als vorrangige Leistung wäre sie vorbehaltlich der in § 65 Abs. 4 SGB II geregelten Fälle grundsätzlich ab dem frühest möglichen Zeitpunkt in Anspruch zu nehmen, also bereits dann, wenn sie vor dem für den Versicherten maßgeblichen Rentenalter bezogen werden kann (Rente mit Abschlägen). Nach Satz 2 muss eine (vorzeitige) Altersrente frühestens mit Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch genommen werden. Damit wird einheitlich für alle Hilfebedürftigen ein Alter festgelegt, ab dem sie eine vorzeitige Altersrente mit Abschlägen in Anspruch zu nehmen haben. Davon unberührt bleibt das Recht der Hilfebedürftigen, selbst einen Rentenantrag zu stellen, damit sie nicht mehr alle Möglichkeiten nutzen müssen, um ihre Hilfebedürftigkeit zu überwinden. Erwerbsfähige Hilfebedürftige, die erst zu einem späteren Zeitpunkt eine vorgezogene Altersrente in Anspruch nehmen können, haben bis zu diesem Alter Anspruch auf Eingliederungsleistungen sowie auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts.“ (BT-DRs. 16/7460 vom 11. Dezember 2007, S. 12).
Der Zweck des § 12a SGB II verwirklicht damit im Gesamtsystem der Sozialleistungen die Subsidiarität der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts gegenüber anderen Sozialleistungen. Der Einwand der Klägerin, der Nachrang der Grundsicherung für Arbeitsuchende werde zu Lasten derjenigen verwirklicht, die sich eine Rentenanwartschaft aufgebaut haben, ist nur eine Beschreibung des Nachrangmechanismus, wonach vorrangig andere Vermögenswerte (Geldvermögen, Immobilienvermögen, Rentenanwartschaften, sobald ein Anspruch verwirklicht werden kann) in Anspruch genommen werden müssen. Es trifft zu, dass bei Personen, die über kein Einkommen oder Vermögen verfügen, das Nachrangprinzip nicht zur Geltung kommen kann. Hieraus folgt aber nichts für die Verfassungsmäßigkeit des Nachrangprinzips, das in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung grundsätzlich gebilligt wird (vgl. etwa BVerfG, Urteil vom 5. November 2016 – 1 BvL 7/16, Rn. 123). Ein bedingungsloses Grundeinkommen unabhängig von der Einkommens- oder Vermögenslage der Bürger ist verfassungsrechtlich nicht geboten.
Der von der Klägerin angezweifelte Gemeinwohlbelang der Regelung ist die Schaffung eines sozialen Grundsicherungssystems, das vom Gedanken der Subsidiarität getragen ist und deshalb die vorrangige Inanspruchnahme von anderen Sozialleistungen, Eigentum und Vermögen vorsieht. Der Gemeinwohlzweck ist dabei durchaus kein rein fiskalischer, sondern berührt das Verhältnis der Verantwortung des Staates zur Eigenverantwortung seiner Bürger und Einwohner. Die Obliegenheit zur Rentenantragstellung geht einher mit dem Wegfall der sanktionsbewehrten Verpflichtung, alle Möglichkeiten zu Erwerbsarbeit nutzen zu müssen, um die eigene Hilfebedürftigkeit zu überwinden (§ 2 SGB II), denn sie geht davon aus, dass eine Erwerbsmöglichkeit nicht mehr gegeben ist. § 12a Satz 2 Nr. 1 SGB II privilegiert dabei schwerbehinderte Menschen mit einem Wahlrecht, da sie (abhängig vom Geburtsjahr) u.U. schon ab Alter 60 eine vorzeitige Altersrente in Anspruch nehmen können, dies aber nach § 12a SGB II erst ab Alter 63 zur Vermeidung von Hilfebedürftigkeit müssen. Der Eingriff in die Eigentumsgarantie ist auch verhältnismäßig, da nur über die – im Übrigen von einer vorherigen Ermessensausübung des Grundsicherungsträgers abhängige – Obliegenheit zur Rentenantragstellung der Vorrang der Verwertung eigenen Vermögens gegenüber der Inanspruchnahme von Grundsicherungsleistungen durchsetzbar ist.
Art. 14 GG wird auch nicht dadurch verletzt, dass die Klägerin durch die Gewährung der vorzeitigen Altersrente ihren Anspruch auf Grundsicherungsleistungen verloren hätte. Im Gegensatz zu den Ansprüchen aus der gesetzlichen Rentenversicherung, jedenfalls denen, die aus eigenen Beiträgen eines Versicherten resultieren, unterliegen die steuerfinanzierten Leistungen der Grundsicherung nicht dem Eigentumsschutz des Art. 14 GG (vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. Dezember 12.2010 – 1 BvR 2628/07; Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 4. Dezember 2014 – L 7 AS 1775/14 – juris Rn. 41).
V. Eine andere Frage ist, ob es dem Gesetzgeber bei der Privilegierung bestimmter von Art. 14 GG geschützter Formen des Altersvorsorgevermögens in bestimmten Grenzen (Absetzbeträge geregelt in § 12 Abs. 2 Nr. 2 und 3 SGB II, Schonvermögen in angemessenem Umfang nach § 12 Abs. 3 Nr. 3 SGB II, Heranziehung von Altersvorsorgevermögen in Form gesetzlicher Rentenwartscharten nach § 12a Satz 1 und 2 Nr. 1 SGB II, zudem Privilegierung von auch der Altersvorsorge dienenden selbstgenutzten Immobilien nach § 12 Abs. 3 Satz Nr. 4 und 5 SGB II) durchgehend gelungen ist, eine in sich konsistente Regelung zu finden. In Anbetracht der Vielgestaltigkeit der Altersvorsorgemöglichkeiten einschließlich der in verschiedenen Vorsorgeformen ganz unterschiedlich geregelten Optionen, vor Erreichen der Regelaltersgrenze auf das eigene Vermögen zur aktuellen Bedarfsdeckung zuzugreifen, hat der Senat aber jedenfalls keinen Anhalt, dass sich die ausdifferenzierten Regelungen zur Inanspruchnahme von in unterschiedlichem Maß steuerlich gefördertem Altersvorsorgevermögen in Form von angespartem Kapital, Grundeigentum und Rentenanwartschaften aus der umlagefinanzierten Rentenversicherung vor Art. 3 Abs. 1 GG nicht rechtfertigen lassen.
VI. Der Senat sieht auch in der Rentenantragstellung durch den Beklagten keinen Verfassungsverstoß. Der Senat hat bereits an anderer Stelle entschieden, dass soweit in der Rentenantragstellung durch den Leistungsträger anstelle des Leistungsberechtigten ein eigenständiger Eingriff in dessen Dispositionsfreiheit als Ausdruck seiner allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG liegt, weil sich der Leistungsberechtigte gerade gegen die Inanspruchnahme der Rente entschieden hat, dieser Eingriff verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist. Denn die diese Ermächtigung des Leistungsträgers regelnden Vorschriften des SGB II dienen mit der Sicherung des Nachrangs existenzsichernder Leistungen einem verfassungsrechtlich legitimen Zweck und sind geeignet, diesen Zweck zu erreichen, ohne dass ein gleich geeignetes, aber den Betroffenen weniger belastendes Mittel zur Sicherung des Nachrangs bei fehlender Mitwirkung des Leistungsberechtigten zur Verfügung steht. Der Senat folgt dem BSG auch darin, dass diese Heranziehung des Leistungsberechtigten zur Selbsthilfe gegen seinen Willen auch die Grenzen der Angemessenheit wahrt: Denn im Rahmen der hier vorzunehmenden verfassungsrechtlichen Abwägung steht dem Existenzsicherungsanspruch des Einzelnen unter Wahrung seiner Dispositionsfreiheit zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente das Interesse der Allgemeinheit gegenüber, durch steuerfinanzierte Mittel nur dem Hilfebedürftigen zu helfen, der sich mangels zumutbarer Selbsthilfemöglichkeiten nicht zu helfen vermag und deshalb der Hilfe des Existenzsicherungsrechts bedarf (vgl. dazu neben BSG, Urteil vom 19. August 2015 – B 14 AS 1/15 R –, BSGE 119, 271, Rn. 45 ff nochmals BVerfG, Urteil vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16 –, BVerfGE 152, 68, Rn. 123 ff.). Den Interessen des Leistungsberechtigten wird auch unter diesem Gesichtspunkt durch die Regelungen der UnbilligkeitsV hinreichend Rechnung getragen (vgl. näher Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 15. Dezember 2020 – L 6 AS 554/20 B ER – juris Rn. 42).
VII. Zum Zitiergebot wird auf die Ausführungen des Sozialgerichts, das die Rechtsprechung des BVerfG zu dieser Frage wiedergegeben hat, verwiesen (§ 153 Abs. 2 SGG). Zwar wird in der Literatur, worauf die Klägerin ihrerseits hingewiesen hat, vertreten, dass die besondere Fassung von Vorbehalten kein Grund sei, das Zitiergebot nicht anzuwenden, soweit sie jedenfalls auch Grundrechtseinschränkungen ermöglichten. Für Gesetze, die gestützt auf Art. 5 Abs. 2, Art. 12 Abs. 1 Satz 2 und Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG die Grundrechte einschränken oder Einschränkungen ermöglichten, greife die Funktionen des Zitiergebots ebenso ein wie bei anders formulierten Gesetzesvorbehalten. Anderes gelte nur für die allgemeine Verhaltensfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG, der in Folge seines umfassenden Schutzgegenstandes sonst in nur hier wirklich leerer Förmelei bei fast jedem Gesetz anzusprechen wäre (Sachs, in: Sachs, Grundgesetz, 9. Auflage 2021 Rn. 29). Der Senat schließt sich dieser Kritik an der den Anwendungsbereich des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG eng fassenden Rechtsprechung des BVerfG nicht an. Er sieht gerade in dem Bereich der steuerfinanzierten Grundsicherungsleistungen, die den vorrangigen Einsatz von (auch grundrechtlich geschütztem) Einkommen und Vermögen verlangen, die Erstreckung des Zitiergebots auf alle von diesem Subsidiaritätsgedanken getragenen Regelungen als leere Förmlichkeit an.
B. Im Hinblick auf ihren Vortrag, der Beklagte habe bei Rentenantragstellung für die Klägerin im Mai 2017 sein Recht verwirkt gehabt, anstelle der Klägerin nach § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II die vorzeitige Altersrente zu beantragen, hat die Klägerin in zweiter Instanz einen weiteren Klageantrag gestellt, nämlich den Beklagten zu verurteilen, den Rentenantrag zurückzunehmen.
Die mit diesem zweiten Klageantrag verbundene Klageänderung in Form der Klageerweiterung ist auf der Grundlage von § 153 Abs. 1 in Verbindung mit § 99 SGG grundsätzlich auch in der Berufungsinstanz zulässig (vgl. BSG, Urteil vom 2. Februar 2012 – B 8 SO 15/10 R – juris, Rn. 12; B. Schmidt, in: Meyer-Ladewig u.a., SGG – Kommentar, 13. Aufl. 2020, § 99 Rn. 12 m.w.N.).
Vorliegend hat sich der Beklagte zwar nicht auf die erweiterte Klage eingelassen, jedoch sieht der Senat die Klageerweiterung als sachdienlich an, weil allein mit ihr, wenn die Anfechtungsklage wie vorliegend keinen Erfolg hat, die Klägerin es noch erreichen könnte, dass der von dem Beklagten gestellte Antrag auf vorzeitige Altersrente zurückgenommen wird und damit unbeschieden bleibt.
Die im Wege der Klageerweiterung in das Verfahren eingeführte Klage ist – ungeachtet der Rechtmäßigkeit des Bescheids zu § 12a SGB II – als allgemeine Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 SGG statthaft. Denn wenn der Vortrag der Klägerin zuträfe, dass die Rentenantragstellung am 3. Mai 2017 ungeachtet der Rechtmäßigkeit des Bescheids vom 12. Mai 2016 jedenfalls verwirkt sei, so könnte das begehrte Verwaltungshandeln (Zurücknahme des Rentenantrags) durch den Beklagten nach Abweisung der Anfechtungsklage nur im Wege der echten Leistungsklage erreicht werden.
Die somit zulässige isolierte Leistungsklage ist aber unbegründet. Das von der Klägerin angeführte Rechtsinstitut der Verwirkung ("illoyalen Verspätung") setzt außer dem Verstreichenlassen einer längeren Frist weitere Umstände voraus, die die Geltendmachung des Rechts dem Rechtsgegner gegenüber als unzumutbar erscheinen lassen. Dazu ist erforderlich, dass der Berechtigte ein Verhalten gezeigt hat, aus dem geschlossen werden durfte, dass er von seinem Recht nicht mehr Gebrauch machen werde. Hinzukommen muss, dass bei dem Rechtsgegner ein Bedürfnis bestand, sich auf dieses Verhalten einzustellen, also darauf vertrauen zu können, dass von dem Recht kein Gebrauch mehr gemacht werden würde (vgl. BSG, Urteil vom 23. September 1980 – 12 RK 27/79 – juris Rn. 54).
Vorliegend ist zwar das Zeit-, nicht aber das Umstandsmoment gegeben. Der Beklagte hat erst mit Schreiben vom 3. Mai 2017 bei der Beigeladenen einen entsprechenden Rentenantrag für die Klägerin gestellt. Es ist allerdings nicht erkennbar, weshalb aus diesem Zuwarten des Beklagten ein Vertrauen der Klägerin hätte erwachsen können, dass der Beklagte von einer Rentenantragstellung absehen werde. Er hatte in dem angegriffenen Bescheid vom 12. Mai 2016 ausdrücklich angekündigt, dass er, wenn die Klägerin es versäume, einen Rentenantrag zu stellen, prüfen werde, ob er den Antrag ersatzweise von Amts wegen stelle. Damit war die Bildung schutzwürdigen Vertrauens bei der Klägerin, es werde nicht zu einer Rentenantragstellung durch den Beklagten kommen, ausgeschlossen.
Auch wenn der Vortrag der Klägerin dahin zu verstehen sein sollte, dass sie es für treuwidrig hält, wenn der Beklagte an seinem Rentenantrag festhält, womit er allein ihr noch schaden könne, aber doch keine Leistungen von ihr zurückerstattet bekommen könnte, kann sie mit dieser Berufung auf § 242 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) nicht durchdringen.
Wird über den Rentenantrag des Beklagten nunmehr positiv entschieden, wird die Klägerin monatlich eine um 1,5 Prozent niedrigere Rente rückwirkend ab 1. Mai 2017 dauerhaft beziehen (abzüglich der ihr vom Beklagten in den letzten fünf Monaten des Leistungsbezugs gewährten Leistungen, § 107 Abs. 1 SGB X). Das hätte allerdings keine Auswirkungen mehr auf die Rechtsposition der Klägerin gegenüber der Beklagten. Die zugeflossenen Leistungen nach dem SGB II in den letzten fünf Monate ihres Leistungsbezugs sind ihr rechtmäßig gewährt worden, weil der Zufluss der rückwirkend bewilligten Rente erst im Jahr 2022 erfolgen könnte. Eine Anrechnung der vorzeitigen Altersrente als fiktives Einkommen scheidet aus. Der Umstand, dass ein Antragsteller Leistungen eines anderen Leistungsträgers vorrangig in Anspruch nehmen könnte, mindert seine Hilfebedürftigkeit nicht. Aufgrund der bloßen Möglichkeit, anderweitige Sozialleistungen zu erhalten, erzielt er kein Einkommen im Sinne des § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Einnahmen in Geld sind nur dann Einkommen im Sinne des § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II, wenn sie zugeflossen und geeignet sind, den konkreten Bedarf im jeweiligen Monat zu decken; es muss sich um „bereite Mittel“ handeln. Gerade die Formulierung in § 9 Abs. 1 SGB II, dass die Leistungen anderer Sozialleistungsträger nur zu berücksichtigen sind, wenn der Hilfebedürftige sie „erhält“, verdeutlicht, dass es auf deren tatsächlichen Zufluss ankommt. Dementsprechend ist die Anrechnung fiktiven Einkommens zur Bedarfsminderung ausgeschlossen, was selbst dann gilt, wenn der Leistungsberechtigte wie vorliegend eine naheliegende Selbsthilfe unterlässt. Die Hilfebedürftigkeit kann dabei auch nicht unabhängig vom Einkommen im Sinne des § 11 SGB II unter Rückgriff auf § 5 SGB II verneint werden. § 5 SGB II regelt keine weitere Möglichkeit der faktischen Bedarfsdeckung neben der Bedarfsdeckung durch Einkommen und Vermögen (vgl. G. Becker in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 5, Stand: 17.12.2021, Rn. 29 f.).
Allerdings kann der Zweck der Regelung der § 12a, § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II – Vorrang anderer Sozialleistungen – über den Erstattungsanspruch des § 103 SGB X im Verhältnis des Beklagten zum beigeladenen Rentenversicherungsträger noch verwirklicht werden.
Schließlich ist das Festhalten am Rentenantrag durch den Beklagten auch nicht aufgrund der vom Bundessozialgericht zu § 3 UnbilligkeitsV angestellten Überlegungen treuwidrig. Das BSG hat, wie das Sozialgericht zutreffend dargelegt hat, entschieden, dass, jedenfalls wenn die abschlagsfreie Altersrente vier Monate nach der abschlagsbehafteten Altersrente beansprucht werden könne, der Verweis auf die abschlagsbehaftete Rente unbillig sei, weil der Anspruch auf abschlagsfreie Altersrente „in nächster Zukunft“ bestehe (BSG, Urteil vom 9. August 2018 – B 14 AS 1/18 R – juris Rn. 16). Ob das BSG auch bei einem Anspruch auf Regelaltersrente fünf Monate nachdem die abschlagsfreie Altersrente beansprucht werden könnte, das Tatbestandmerkmal „in nächster Zukunft“ als erfüllt und damit eine Unbilligkeit im Sinne von § 3 UnbilligkeitsV sehen würde, ist offen. Vorliegend lagen indessen zwischen dem Zeitpunkt der frühestmöglichen Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente am 1. April 2015 und dem Zeitpunkt des Anspruchs auf Regelaltersrente am 1. Oktober 2017 zweieinhalb Jahre. Zwischen der Aufforderung des Beklagten vom 12. Mai 2016, die vorzeitige Altersrente „unverzüglich“ zu beantragen, und der abschlagsfreien Altersrente lagen immerhin noch 14 Monate. Dass zum jetzigen Zeitpunkt der Beklagte nur noch eine Zahlung der abschlagsbehafteten Rente ab 1. Mai 2017 durchsetzen kann, hat den der Klägerin drohenden Einkommensverlust in Form eines dauernden Rentenabschlags eng begrenzt.
Auch soweit sich die Klägerin auf die § 6 UnbilligkeitsV in der Fassung vom 4. Oktober 2016 beruft, gültig ab 1. Januar 2017, führt dies nicht zum Erfolg der Berufung und Klage in zweiter Instanz.
Nach dieser Bestimmung ist die Inanspruchnahme unbillig, wenn Leistungsberechtigte dadurch hilfebedürftig im Sinne der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch werden würden. Dies ist insbesondere anzunehmen, wenn der Betrag in Höhe von 70 Prozent der bei Erreichen der Altersgrenze (§ 7a des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch) zu erwartenden monatlichen Regelaltersrente niedriger ist als der zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Unbilligkeit maßgebende Bedarf der leistungsberechtigten Person nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch.
Hier bestand im Zeitpunkt des Antrags des Beklagten auf die vorgezogene Altersrente am 3. Mai 2017 der maßgebende Bedarf der Klägerin nach dem SGB II in Höhe von 844,82 Euro. Die Regelaltersrente der Klägerin ab 1. Oktober 2017 wurde ihr mit einem Zahlbetrag von 957,75 Euro bewilligt. 70 Prozent hiervon sind 670,43 Euro. Auch wenn man die von der Beigeladenen erteilte Rentenauskunft vom 10. Februar 2015 zugrunde legt (monatliche Regelaltersrente von 979,12 Euro ab dem 1. Oktober 2017) sind 70 Prozent hiervon, nämlich 685,38 Euro, noch deutlich weniger als der der Klägerin zuletzt bewilligte Betrag nach dem SGB II. Damit wäre der Rentenantrag des Beklagten unbillig nach § 6 Satz 2 UnbilligkeitsV in der ab 1. Januar 2017 geltenden Fassung.
Indessen ist diese Bestimmung auf den Rentenantrag des Beklagten nicht anwendbar. Wie bereits dargelegt, ist die UnbilligkeitsV in der ab 1. Januar 2017 geltenden Fassung unanwendbar auf Fälle, in denen der Widerspruchsbescheid bis zum 31. Dezember 2016 ergangen ist. Diese Entscheidung des Verordnungsgebers kann nicht dadurch umgangen werden, dass man im Rahmen der im Hinblick auf die geltend gemachte Verwirkung als zulässig anzusehenden isolierten Leistungsklage nunmehr isoliert auf den Rentenantrag des Leistungsträgers nach dem SGB II abstellt, der hier nach dem 1. Januar 2017 erfolgt ist. Denn § 12a i.V.m. § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II bilden im Zusammenspiel eine Regelung, die es dem Beklagten erlaubt, für den Fall, dass der Betroffene den nach § 12a SGB II geforderten Rentenantrag nicht stellt, selbst einen Antrag auf die vorgezogene Altersrente zu stellen. Die Befugnis des Leistungsträgers nach dem SGB II, für den Leistungsbezieher einen Antrag auf vorzeitige Altersrente zu stellen, hat seinen Rechtsgrund in dem belastenden Aufforderungsbescheid, der nach § 39 Nr. 2 SGB II sofort vollziehbar ist. Würde der Aufforderungsbescheid aufgehoben, wäre der Beklagte ohne weiteres verpflichtet, den Rentenantrag zurückzunehmen (vgl. Sächsisches Landessozialgericht, Urteil vom 17. Oktober 2019 – L 3 AS 330/17– juris Rn. 58).
Auch im Hinblick auf die zum 1. Januar 2017 eingetretene, aber der Klägerin wie dargelegt nicht zugutekommende Rechtsänderung ist es auch nicht treuwidrig der Klägerin gegenüber, wenn der Beklagte an seinem Rentenantrag festhält. Die Rechtsordnung gibt der Klägerin keinen Anspruch, einen pekuniären Vorteil, der durch nachlässiges Verwaltungshandeln entstanden ist (später Rentenantrag durch den Beklagten, damit Rentenabschläge nur noch für fünf Monate vorzeitiger Inanspruchnahme der Rente), noch einmal zu vergrößern, indem man ihr durch die Verurteilung des Beklagten zur Zurücknahme des Antrags auf vorzeitige Altersrente die Regelaltersrente ohne Abschläge in voller Höhe sichert.
C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Revisionszulassungsgründe nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.