S 33 AS 954/16

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Darmstadt (HES)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 33 AS 954/16
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 AS 486/20
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 4 AS 48/22 B
Datum
Kategorie
Urteil

Die Klage wird abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.


Tatbestand

Die Parteien streiten um eine Aufforderung zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente.

Die 1952 geborene Klägerin bezog seit 2006, mit Unterbrechung im Jahr 2015, Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) von der Beklagten. Bis zum 15.3.2016 war die Klägerin bei der „D. GmbH“ in B-Stadt beschäftigt. Laut einer der Klägerin erteilten Rentenauskunft vom 10.12.2015 stünde der Klägerin eine monatliche Regelaltersrente von 979,12 Euro ab dem 1.10.2017 zu. Ab dem 1.4.2015 hätte die Klägerin eine Altersrente für langjährig Versicherte vorzeitig in Anspruch nehmen können. Dies hätte zu einer Rentenminderung von 0,3 % für jeden Monat der vorzeitigen Inanspruchnahme geführt. 

Mit Bescheid vom 16.5.2016 forderte die Beklagte die Klägerin auf, unverzüglich einen Antrag auf vorzeitige Gewährung einer Altersrente für langjährig Versicherte zu stellen und die Erledigung bis zum 10.6.2016 nachzuweisen. 

Der dagegen eingelegte Widerspruch der Klägerin vom 2.6.2016 wurde mit Widerspruchsbescheid vom 12.8.2016, adressiert an die Klägerin, als unbegründet zurückgewiesen. Die Klägerin sei nach § 12a SGB II verpflichtet, die Rente wegen Alters vorzeitig in Anspruch zu nehmen. Die vorzeitige Inanspruchnahme der Altersrente führe zwar zu verringerten Rentenzahlungen im Vergleich zur Regelaltersrente, dies sei aber vom Gesetz- und Verordnungsgeber so gewollt, wenn dadurch der Anspruch auf Grundsicherung für Arbeitssuchende gemindert werde oder sogar ganz entfalle. Nur wenn die Inanspruchnahme der vorzeitigen Rente unbillig wäre, sei der Hilfsbedürftige von der Antragstellung entbunden. Insoweit habe der Verordnungsgeber die Verordnung zur Vermeidung unbilliger Härten durch Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente (Unbilligkeitsverordnung) erlassen, die zwar nicht abschließend, aber doch wegweisend sei. Kein Tatbestand der Unbilligkeitsverordnung sei erfüllt. Die von der Klägerin geltend gemachte verringerte monatliche Rentenzahlung bei vorzeitiger Inanspruchnahme der Rente sei gerade keine Unbilligkeit im Sinne der Unbilligkeitsverordnung, sondern vielmehr vom Gesetz- und Verordnungsgeber in Kauf genommene Folge der Verpflichtung zur vorzeitigen Inanspruchnahme einer Rente. Der weitere ALG-II Bezug habe nur geringe Auswirkungen auf die Höhe der Rente. Zudem lasse sich im Fall der Klägerin nicht ausschließen, dass diese selbst bei Inanspruchnahme der abschlagsfreien Altersrente auf ergänzende Sozialleistungen angewiesen sei. Nach §§ 12a, 13 und 5 Abs. 3 SGB II stehe die Aufforderung zur Beantragung einer vorzeitigen Rente im Ermessen der Beklagten. Die Beantragung der vorzeitigen Rente sei ein adäquates Mittel, um die weitere Bedürftigkeit der Klägerin nach dem SGB II auszuschließen. Es gebe keinen Grund, die Klägerin in der Grundsicherung für Arbeitssuchende zu belassen. Trotz allseitiger Bemühungen habe die Klägerin keine Aussicht auf Eingliederung in den Arbeitsmarkt, so dass das Ziel der Grundsicherung nicht erreicht werden könne. Zur Sicherstellung des Lebensunterhalts eigne sich die Rente genauso wie die Sozialhilfe. 

Am 14.9.2016 hat die Klägerin Klage gegen die Aufforderung zur Beantragung vorzeitiger Altersrente erhoben. Ihr Prozessbevollmächtigter habe mit Schreiben vom 7.7.2016 im Vorverfahren angezeigt, dass er sie anwaltlich vertrete und den Widerspruch der Klägerin vom 2.6.2016 weiter begründet. Der Widerspruchsbescheid hätte nicht an die Klägerin persönlich übersandt werden dürfen, sondern nach § 13 Abs. 3 SGB X an den Prozessbevollmächtigten. Schon daraus folge die Rechtswidrigkeit des Bescheids. Überdies liege ein Ermessensfehler vor. Der Beklagte hätte vor der Aufforderung zur Rentenantragsstellung die Höhe der zu erwartenden Rente ermitteln müssen, was nicht geschehen sei. Zudem seien die §§ 12a, 5 Abs. 3 SGB II wegen Verstoßes gegen das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz (GG) mit dem Grundgesetz unvereinbar. Die Pflicht zur Beantragung einer Rente stelle einen Eingriff in das Recht auf allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG dar, dessen Einschränkung der SGB II-Gesetzgeber hätte nennen müssen. Daneben stelle die Zwangsverrentung einen unzulässigen Eingriff in die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG dar. Zwar sei es insoweit denkbar, dass eine Inhalts- und Schrankenbestimmung im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG vorliege. Diese sei jedoch auf ihre Verhältnismäßigkeit zu überprüfen, was das BSG bisher jedoch nicht getan habe, sodass dessen Rechtsprechung insoweit unbeachtlich sei.

Die Klägerin beantragt,
den Bescheid vom 12.5.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12.8.2016 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Die Beklagte trägt vor, dass Verfahrensfehler nicht vorlägen. Nach § 37 Abs. 1 Satz 2 SGB X stehe es im Ermessen der Behörde, ob sie einen Verwaltungsakt gegenüber einem Bevollmächtigen bekanntgebe. Hier habe die Beklagte ihr Ermessen dahin ausgeübt, dass sie von der Bekanntgabe an den Verfahrensbevollmächtigten abgesehen habe. Die Klägerin habe Anspruch auf eine Altersrente an langjährige Versicherte. Dies folge daraus, dass die Wartezeit für eine solche Rente 35 Versicherungsjahre, was 420 Versicherungsmonaten entspreche, betrage. Dabei würden alle Kalendermonate mit rentenrechtlichen Zeiten angerechnet. Bei der Klägerin seien 574 solcher Kalendermonate festgestellt. Die Klägerin habe die Altersgrenze für die vorzeitige Inanspruchnahme dieser Rente mit Ablauf des 20.3.2015 erreicht. Bei Erreichen der Regelaltersgrenze könne sie eine Rente in Höhe von 979,12 Euro beanspruchen. Bei vorzeitiger Inanspruchnahme betrüge dieser Zahlbetrag unter Berücksichtigung von monatlichen Abschlägen von 0,3 % ungefähr 935 Euro. Damit werde die Hilfsbedürftigkeit nach dem SGB II beseitigt. Die Aufforderung zur Antragsstellung sei auch nicht unbillig nach § 3 Unbilligkeitsverordnung, da die Klägerin erst am 20.9.2017 die Voraussetzungen erfülle, um einen ungekürzten Anspruch auf Rentenzahlungen zu erlangen und damit nicht „alsbald“ im Sinne der Unbilligkeitsverordnung. Das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG sei nicht verletzt. Dieses finde nur Anwendung, wenn ein Gesetz, das aufgrund eines Gesetzesvorbehalts in einer Grundrechtsnorm ergangen ist, ein Grundrecht einschränke. Es sei allenfalls denkbar, dass die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG berührt sei. Bei der Pflicht zur Beantragung vorzeitiger Rente handele es sich um eine Inhalts- und Schrankenbestimmung im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG. Dies sei kein Gesetzesvorbehalt im Sinne des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG.

Das Gericht hat den zuständigen Rentenversicherungsträger zum Verfahren beigeladen.

Am 25.4.2017 hat die Klägerin für sich die Regelaltersrente beantragt. Diese ist ihr mit Bescheid vom 12.10.2017 zum 1.10.2017 bewilligt worden.

Am 3.5.2017 hat die Beklagte für die Klägerin die vorgezogene Altersrente beantragt. Insoweit ist noch keine Entscheidung ergangen.

Die Beigeladene hat erklärt, dass die vorgezogene Altersrente ab dem 1.5.2017 bewilligt werden könnte.


Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist unbegründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig und beschwert die Klägerin nicht im Sinne von § 54 Abs. 2 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Die Beklagte hat die Klägerin aufgefordert zu Recht, einen Antrag auf vorzeitige Altersrente zu stellen.

Streitgegenstand ist die Aufforderung zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente mit Bescheid der Beklagten vom 12.5.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12.8.2016.

Statthafte Klageart ist die Anfechtungsklage gem. § 54 Abs. 1 Satz 1 SGG. Denn die Klägerin begehrt die Aufhebung der Aufforderung zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente, bei der es sich um einen Verwaltungsakt i.S. des § 31 Satz 1 SGB X handelt (BSG, Beschluss vom 16.12.2011 – B 14 AS 138/11 B – juris Rn. 5). Die Aufforderung setzt die allgemein für Leistungsberechtigte geltende gesetzliche Verpflichtung nach § 12a Satz 1 SGB II, vorrangige Leistungen in Anspruch zu nehmen, in eine konkrete Regelung im Einzelfall der Klägerin um, bis zum 10.6.2016 eine vorzeitige Altersrente zu beantragen.

Die Aufforderung zur vorzeitigen Beantragung einer Altersrente hat sich nicht gem. § 39 Abs. 2 SGB X erledigt und die Anfechtungsklage ist weiterhin zulässig, nachdem über den Antrag der Beklagten auf Bewilligung einer vorzeitigen Altersrente vom 3.5.2017 noch nicht bestandskräftig entschieden worden ist. Für die Anfechtungsklage besteht auch nach dem 1.10.2017, seit dem die Klägerin eine abschlagsfreie Regelaltersrente bezieht, noch ein Rechtsschutzbedürfnis. Denn solange das auf dem Antrag der Beklagten beruhende Rentenverfahren nicht bestandskräftig abgeschlossen ist, begründet und erhält die angefochtene Aufforderung die Verfahrensführungsbefugnis der Beklagten für die Klägerin im Rentenverfahren, in dem eine rückwirkende Bewilligung einer vorzeitigen Altersrente in Betracht kommt (BSG, Urteil vom 19.8.2015 – B 14 AS 1/15 R – juris Rn. 13).

Der Widerspruchsbescheid ist durch die Bekanntgabe gegenüber der Klägerin wirksam geworden. Eine Bekanntgabe auch oder nur gegenüber ihrem Prozessbevollmächtigten war nicht erforderlich. Nach § 37 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt demjenigen Beteiligten bekannt zu geben, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird. Nach Satz 2 kann die Bekanntgabe eines Verwaltungsakts gegenüber dem im Verwaltungsverfahren bestellten Bevollmächtigten erfolgen. Dabei handelt es sich um eine Spezialvorschrift, die § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB X verdrängt und der Behörde Ermessen einräumt, ob sie den Verwaltungsakt gegenüber dem Adressaten oder Betroffenen des Verwaltungsakts oder dessen Bevollmächtigten bekannt gibt (Littmann in: Hauck/Noftz, SGB X, Stand Mai 2017, § 37 Rn. 24 m.w.N). Dabei ist es nicht nötig, die Ermessensentscheidung zu begründen (vgl. zum inhaltsgleichen § 41 Abs. 1 Satz 2 VwVfG Stelkens in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 41 Rn. 41). Vorliegend sind keine gerichtlich überprüfbaren Ermessensfehler (§ 54 Abs. 2 Satz 2 SGG) ersichtlich. Es sprechen keine besonderen Umstände dafür, dass der Widerspruchsbescheid nicht gegenüber der Klägerin hätte ergehen dürfen (vgl. zu ermessenslenkenden Umständen etwa Littmann in: Hauck/Noftz, SGB X, Stand Mai 2017, § 37 Rn. 26,).

Ermächtigungsgrundlage für die streitige Aufforderung zur vorzeitigen Beantragung einer Altersrente ist § 12a i.V.m. § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II. Nach § 12a Satz 1, 2 Nr. 1 SGB II sind Leistungsberechtigte verpflichtet, Sozialleistungen anderer Träger in Anspruch zu nehmen und die dafür erforderlichen Anträge zu stellen, sofern dies zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung der Hilfebedürftigkeit führt, wobei Leistungsberechtigte nicht verpflichtet sind, bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres eine Rente wegen Alters vorzeitig in Anspruch zu nehmen. Stellen Leistungsberechtigte trotz Aufforderung einen erforderlichen Antrag auf Leistungen eines anderen Trägers nicht, so können nach § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II die Leistungsträger nach diesem Buch den Antrag stellen sowie Rechtsbehelfe und Rechtsmittel einlegen. 

Die Klägerin ist zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente verpflichtet, denn diese ist zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung ihrer Hilfebedürftigkeit erforderlich. Erforderlich in diesem Sinne ist nicht nur jede Inanspruchnahme von Sozialleistungen, die Hilfebedürftigkeit nicht eintreten oder eine bestehende Hilfebedürftigkeit wegfallen lassen. Vielmehr genügt es, wenn die Dauer einer Hilfebedürftigkeit verkürzt bzw. begrenzt oder der Höhe nach verringert wird (BSG, Urteil vom 19.8.2015 – B 14 AS 1/15 R – juris Rn. 21). Hier wird die Hilfebedürftigkeit der Klägerin durch den Bezug der vorzeitigen Altersrente beseitigt, denn nach § 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II erhält keine Leistungen nach dem SGB II, wer Rente wegen Alters bezieht. Insoweit ist es unbeachtlich, dass die Klägerin möglicherweise ihren Lebensunterhalt nicht durch die vorzeitige Altersrente decken kann und auf ergänzende Leistungen nach dem SGB XII angewiesen sein könnte. Allein maßgeblich ist die Hilfebedürftigkeit im Sinne des SGB II, welche durch den grundlegenden Ausschluss von Leistungen nach diesem Buch vollständig beseitigt wird (BSG, Urteil vom 23.6.2016 − B 14 AS 46/15 R – juris Rn. 19).

Die aufgeforderte Antragstellung ist auch erforderlich im Sinne des § 12a Satz 1 SGB II, weil Renten aus eigener Versicherung nur auf Antrag geleistet werden, § 99 Abs. 1 Satz 1 SGB VI.

Der Ausschlussgrund des § 12a Satz 2 Nr. 1 SGB II, wonach eine Altersrente nicht vor Ablauf des 63. Lebensjahres beantragt werden muss, steht der Aufforderung vom 12.5.2016 nicht entgegen, da die Klägerin schon mit Ablauf des 20.3.2015 das 63. Lebensjahr vollendet hat.

Die Verpflichtung der Klägerin zur Beantragung und Inanspruchnahme der vorzeitigen Altersrente ist nicht durch die auf § 13 Abs. 2 SGB beruhende Unbilligkeitsverordnung ausgeschlossen. Maßgeblich ist die Unbilligkeitsverordnung in ihrer ursprünglichen Fassung vom 14. April 2008 (BGBl. I S. 734), da es sich bei der Aufforderung zur Rentenantragstellung um einen belastenden Verwaltungsakt handelt, so dass regelmäßig die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung maßgeblich ist (St. Rspr.d. BSG, z.B. BSG, Urteil vom 7. 7. 2011 − B 14 AS 153/10 R = BSGE 108, 289 (298); BSG, Urteil vom 28.10.2014 – B 14 AS 39/13 R = NZS 2015, 275 Rn. 19). Bei der Überprüfung von Ermessensentscheidungen, die mit reiner Anfechtungsklage angefochten werden, kommt es stets auf den Zeitpunkt der letzten Verwaltungshandlung an (BSG, Urteil vom 23.6.2016 – B 14 AS 4/15 R – juris). Dabei bestimmen die Tatbestände der Unbilligkeitsverordnung abschließend (hM, vgl. etwa BSG, Urteil vom 19.8.2015 – B 14 AS 1/15 R – juris; BSG, Urteil vom 23.6.2016 − B 14 AS 46/15 R – juris; LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 4.12.2014 - L 7 AS 1775/14 – juris Rn. 28) wann Leistungsberechtigte nach Vollendung des 63. Lebensjahres ausnahmsweise zur Vermeidung von Unbilligkeiten nicht verpflichtet sind, eine Rente wegen Alters vorzeitig in Anspruch zu nehmen. 

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld, den sie durch Beantragung der Altersrente verlieren könnte (§ 2 Unbilligkeitsverordnung). Die Klägerin hat auch nicht in nächster Zukunft die Altersrente abschlagsfrei in Anspruch nehmen können (§ 3 Unbilligkeitsverordnung). Maßgeblich ist danach die Zeitspanne, die zwischen der abschlagsbehafteten und der abschlagsfreien Inanspruchnahme einer Altersrente liegt. Dabei ist nicht darauf abzustellen, ab wann die Klägerin tatsächlich die vorzeitige Altersrente beanspruchen kann, sondern, ab wann sie sie beanspruchen sollte. Denn streitgegenständlich ist allein die Aufforderung, die vorzeitige Altersrente zu beantragen. Das BSG hat einerseits entschieden, dass jedenfalls wenn die abschlagsfreie Altersrente vier Monate nach der abschlagsbehafteten Altersrente beansprucht werden kann, der Verweis auf die abschlagsbehaftete Rente unbillig ist, weil der Anspruch auf abschlagsfreie Altersrente „in nächster Zukunft“ besteht (BSG, Urteil vom 9.8.2018 – B 14 AS 1/18 R – juris Rn. 16). Andererseits ist ein Zeitraum von zwei Jahren oder länger zwischen Beginn der vorzeitigen Inanspruchnahme mit Abschlägen nach Vollendung des 63. Lebensjahres bis zur abschlagsfreien Inanspruchnahme aber nicht eine bevorstehende abschlagsfreie Altersrente „in nächster Zukunft“ bzw. „alsbald“ (BSG, Urteil vom 19.8.2015 – B 14 AS 1/15 R – juris Rn. 35). Zwischen der Aufforderung vom 12.5.2016 in Form des Widerspruchsbescheids vom 12.8.2016, die vorzeitige Altersrente „unverzüglich“ zu beantragen und der abschlagsfreien Altersrente, welche die Klägerin ab Oktober 2017 beanspruchen konnte, liegen 14 Monate. Bei einem Zeitraum von mehr als einem Jahr kann nicht mehr davon gesprochen werden, dass die abschlagsfreie Rente „in nächster Zukunft“ beansprucht werden kann. Unbeachtlich ist insoweit, dass die Klägerin tatsächlich die geminderte Altersrente erst ab dem 1.5.2017 und damit nur 5 Monate vor der abschlagsfreien Altersrente beanspruchen kann, weil die Beklagte erst mit Schreiben vom 3.5.2017 bei der Beigeladenen einen entsprechenden Rentenantrag für die Klägerin gestellt hat. Denn Streitgegenstand ist allein die Aufforderung zur Antragsstellung, sodass Umstände, die nach dem Widerspruchsverfahren eingetreten sind, außer Betracht zu bleiben haben.

Auch die Unbilligkeitstatbestände der §§ 4, 5 Unbilligkeitsverordnung sind nicht erfüllt. Die Klägerin hat seit dem 16.3.2016 keine Beschäftigung mehr. Zudem hat bis zum Erlass des Widerspruchsbescheids auch keine Erwerbstätigkeit bevorgestanden. 

Die Beklagte hat das ihr zustehende Ermessen fehlerfrei ausgeübt.

Stellen Leistungsberechtigte trotz Aufforderung einen erforderlichen Antrag auf Leistungen eines anderen Trägers nicht, können die Leistungsträger nach dem SGB II den Antrag stellen sowie Rechtsbehelfe und Rechtsmittel einlegen, § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II. Damit steht das „Ob“ der Antragstellung im Ermessen des Leistungsträgers. Noch vor der Ermessensentscheidung der Leistungsträger über ihre Antragstellung ist indes bereits über die Aufforderung der Leistungsberechtigten zur Antragstellung durch die Leistungsträger eine Ermessensentscheidung zu treffen. Auch die der eigenen Antragstellung vorausgehende Aufforderung der Leistungsberechtigten zur Beantragung einer vorrangigen Leistung steht im Ermessen der Leistungsträger (BSG, Urteil vom 19.8.2015 – B 14 AS 1/15 R – juris Rn. 27). Die Ermessensausübung ist gerichtlich nur eingeschränkt darauf zu prüfen (§ 39 Abs. 1 SGB I, § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG), ob Ermessen überhaupt ausgeübt, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist (vgl. BSG, Urteil vom 23.6.2016 – B 14 AS 46/15 R – juris Rn. 24). Dabei entspricht es regelmäßig pflichtgemäßem Ermessen, den Leistungsempfänger, der nach § 12a SGB II zur Antragstellung verpflichtet ist, zur Antragstellung aufzufordern. Nur im Einzelfall kann es zur Abwendung unbilliger Härten erforderlich sein, von der Aufforderung abzusehen (vgl. BSG Urteil vom 19.8.2015 – B 14 AS 1/15 R - juris Rn. 28 f.).

Wenngleich die Ermessenausführungen im Ausgangsbescheid knapp gehalten sind, hat die Beklagte doch erkennen lassen, dass sie sich bewusst ist, dass die Entscheidung über die Aufforderung zur Antragstellung in ihrem Ermessen steht. Überdies ist Gegenstand der gerichtlichen Überprüfung der Bescheid in Gestalt des Widerspruchsbescheids (§ 95 SGG), sodass Ermessenserwägungen auch noch im Vorverfahren nachgeholt werden konnten. Solche sind im Widerspruchsbescheid ausreichend erfolgt, denn die Behörde hat die für ihre Entscheidung tragenden Umstände dargelegt. Besondere Härten wurden von der Klägerin nicht vorgetragen und mussten deshalb auch nicht von der Beklagte ermittelt werden. Allein die theoretische Möglichkeit, dass die Klägerin aufgrund der vorzeitigen Inanspruchnahme der Altersrente auf ergänzende Leistungen nach dem SGB XII angewiesen sein könnte, war von der Beklagten nicht besonders zu berücksichtigen, da die daraus folgenden dauerhaften Rentenabschläge und die damit einhergehenden geringeren Rentenerhöhungen dem Gesetzgeber bekannt waren und nicht zur Annahme einer außergewöhnlichen Härte führen können (BSG, Urteil vom 23.6.2016 – B 14 AS 46/15 R – juris Rn. 27).

Dieses Ergebnis verletzt die Klägerin auch nicht in ihren Grundrechten.

Art. 14 Abs. 1 GG ist nicht verletzt. 

Bei der Rentenanwartschaft handelt es sich um verfassungsrechtlich geschütztes Eigentum im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG. Allerdings ergibt sich die Reichweite der Eigentumsgarantie nicht unmittelbar aus dem Grundgesetz, sondern erst aus der Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums, die nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG Sache des Gesetzgebers ist (BVerfG, Beschluss vom 11.11.2008 – 1 BvL 3/05 u.a. – juris m.w.N.). Eingriffe in rentenrechtliche Anwartschaften müssen einem Gemeinwohlzweck dienen und verhältnismäßig sein. Sie müssen zur Erreichung des angestrebten Zieles geeignet und erforderlich sein. Insbesondere dürfen sie den Betroffenen nicht übermäßig belasten und für ihn deswegen unzumutbar sein (BVerfG, a.a.O.). 

§ 12a SGB II i.V.m. der Unbilligkeitsverordnung verfolgt den legitimen Zweck, die Nachrangigkeit der Leistungen nach dem SGB II, wie er von § 2 SGB II festgelegt wird, zu fördern, indem Leistungsberechtigte verpflichtet werden, vorrangig Rentenleistungen in Anspruch zu nehmen. Die Vorschriften sind zur Erreichung des Ziels geeignet, denn der Rentenbezug lässt wegen § 7 Abs. 4 SGB II ohne weiteres den Leistungsbezug nach dem SGB II entfallen. Die Vorschriften sind auch erforderlich. Ein weniger belastendes, gleich effektives Mittel zur Beseitigung der Hilfebedürftigkeit ist nicht ersichtlich. Die Hilfebedürftigkeit im Sinne des SGB II würde nur dann vollständig entfallen, wenn ein den Bedarf deckendes Einkommen vorhanden wäre. Dann bestünde aber ebenso kein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II. Die Verpflichtung zur Inanspruchnahme vorzeitiger Altersrente ist auch verhältnismäßig im engeren Sinne. Beeinträchtigt wird das Recht des Betroffenen auf seinen Existenzsicherungsanspruch, wie er durch das SGB II gewährleistet wird. Dem gegenüber steht das Interesse der Allgemeinheit, durch Steuermittel nur denjenigen zu unterstützen, der dazu nicht selbst in der Lage ist. Dabei werden die Interessen der Leistungsbezieher dadurch berücksichtigt, dass sie erst ab Vollendung des 63. Lebensjahres verpflichtet sind, eine Altersrente zu beantragen, wenn also in der Regel davon ausgegangen werden kann, dass die Erwerbsbiografie abgeschlossen und somit die Ziele des § 2 SGB II, insbesondere die Verringerung oder Beendigung der Hilfsbedürftigkeit durch Aufnahme einer Erwerbstätigkeit, nicht mehr erreicht werden können. Überdies wird besonderen Härten durch die Unbilligkeitsverordnung entgegengewirkt, indem in den dort normierten Fällen die Pflicht zur Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente ausgeschlossen wird. Weiter führt das Missachten der Pflicht aus § 12a SGB II zu keiner Sanktion, sondern kann allenfalls über § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II dazu führen, dass der Leistungsträger die Rente für den Leistungsberechtigten beantragt. Soweit der Leistungsberechtigte seiner gesetzlichen Verpflichtung folgt und einen Antrag auf vorzeitige Rente stellt, führt dies zwar zu monatlich geringeren Rentenzahlungen. Dies rechtfertigt sich aber daraus, dass insgesamt ein längerer Rentenbezug erfolgt, was nach der Rechtsprechung des BVerfG wie des BSG nicht zu beanstanden ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11.11.2008 - 1 BvL 3/05 u.a – juris; BSG, Urteil vom 19.8.2015 – B 14 AS 1/15 R – juris Rn. 45 m.w.N.).

Die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG ist nicht verletzt.

Zwar ist die Beantragung der abschlagsbehafteten Altersrente durch den Leistungsträger ein Eingriff in die Dispositionsfreiheit des Leistungsempfängers. Dieser ist aber verfassungsrechtlich dadurch gerechtfertigt, dass kein gleich geeignetes, aber den Betroffenen weniger belastendes Mittel zur Sicherung des Nachrangs bei fehlender Mitwirkung des Leistungsberechtigten zur Verfügung steht. Zudem ist der Eingriff verhältnismäßig im engeren Sinne, weil auf die Interessen der Leistungsempfänger hinreichend Rücksicht genommen wird (s.o.).

Das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG ist nicht verletzt.

Nach Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG muss, soweit nach dem Grundgesetz ein Grundrecht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann, das Gesetz allgemein und nicht nur für den Einzelfall gelten. Nach Satz 2 muss das Gesetz außerdem das Grundrecht unter Angabe des Artikels nennen.

Nach der Rechtsprechung des BVerfG dient das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG zur Sicherung derjenigen Grundrechte, die aufgrund eines speziellen, vom Grundgesetz vorgesehenen Gesetzesvorbehalts über die im Grundrecht selbst angelegten Grenzen hinaus eingeschränkt werden könnten (BVerfG, Urteil vom 18.12.1968 - 1 BvR 638/64 u.a. – NJW 1969, 309). Das Zitiergebot soll sicherstellen, dass nur gewollte Grundrechtseingriffe erfolgen, indem es den Gesetzgeber zwingt, solche Eingriffe im Gesetzeswortlaut auszuweisen (BVerfG, Beschluss vom 4.5.1983 – 1 BvL 47/80 u.a. – NJW 1983, 2869). Von solchen Grundrechtseinschränkungen werden andersartige grundrechtsrelevante Regelungen unterschieden, die der Gesetzgeber in Ausführung der ihm obliegenden, im Grundrecht vorgesehenen Regelungsaufträge, Inhaltsbestimmungen oder Schrankenbeziehungen vornimmt (BVerfG, Urteil vom 18.12.1968 - 1 BvR 638/64 u.a. – NJW 1969, 309; BVerfG, Beschluss vom 26.5.1970 – 1 BvR 657/68NJW 1970, 1837). In diesen Fällen ist die Warn- und Besinnungsfunktion des Zitiergebots von geringerem Gewicht, weil dem Gesetzgeber in der Regel ohnehin bewusst ist, dass er sich im grundrechtsrelevanten Bereich bewegt. Durch die Erstreckung des Zitiergebots auf solche Regelungen würde es zu einer die Gesetzgebung unnötig behindernden leeren Förmlichkeit kommen (BVerfG, Beschluss vom 30.5.1973 – 2 BvL 4/73NJW 1973, 1363, 1364), weshalb in diesen Fällen das Zitiergebot nicht anwendbar ist.

Bei der Verpflichtung aus § 12a SGB II handelt es sich um eine Inhalts- und Schrankenbestimmung i.S.d. Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG (vgl. BSG, Urteil vom 19.8.2015 – B 14 AS 1/15 R – juris Rn. 45 m.w.N.). Auf eine solche Bestimmung ist das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG nach der oben dargestellten Rechtsprechung des BVerfG nicht anwendbar, da sich der Gesetzgeber ohnehin bewusst war, dass er sich im grundrechtsrelevanten Bereich bewegt hat und die Zitierung von Art 14 GG eine reine Förmelei wäre.

Auch auf die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG ist das Zitiergebot nicht anwendbar, da die allgemeine Handlungsfreiheit von vornherein nur unter dem Vorbehalt der verfassungsmäßigen Ordnung gewährleistet ist (BVerfG, Urteil vom 29. 7. 1959 – 1 BvR 394/58NJW 1959, 1675). Die Vorschrift des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG gilt aber nur für Gesetze, die darauf abzielen, ein Grundrecht über die in ihm selbst angelegten Grenzen hinaus einzuschränken (BVerfG, Beschluss vom 18.2.1970 – 2 BvR 531/68NJW 1970, 1268).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Das zulässige Rechtsmittel der Berufung folgt aus § 143 SGG.

Rechtskraft
Aus
Saved