L 8 R 2664/21

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
8.
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 2 R 1335/19
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 R 2664/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Ein psychiatrisches Gutachten ist grundsätzlich nicht verwertbar, wenn bei der Exploration und Anamneseerhebung Dritte anwesend und beteiligt waren (vgl. so bereits LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 22.09.2016 – L 7 R 2329/15 –, juris Rdnr. 50; einschränkend LSG Hessen, Urteil vom 12.07.2021 - L 5 R 149/20 -, juris Rdnr. 77ff.). Dies gilt unabhängig davon, ob die Sprachkenntnisse des Probanden oder der Probandin für die Exploration und Anamneseerhebung ausreichend waren.
2. Sofern die Sprachkenntnisse des Probanden oder der Probandin nicht ausreichend sind, ist ein vereidigter Dolmetscher hinzuzuziehen. Ein Rückgriff auf anwesende Familienangehörige als Dolmetscher in einer Begutachtungssituation ist nur dann unproblematisch, wenn es um einen Austausch von Informationen geht, bei denen ihrer Natur nach eine Verfälschung ausscheidet. Bei psychiatrischen Gutachten kann eine Verfälschung regelmäßig nicht ausgeschlossen werden.
3. Eine weitere Ausnahme kann nur in absoluten Ausnahmefällen anerkannt werden, beispielsweise wenn der Proband oder die Probandin während der Begutachtung auf die ständige Unterstützung einer Pflegeperson angewiesen ist.

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 06.07.2021 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.
Tatbestand


Die Beteiligten streiten um die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.

Die 1956 geborene Klägerin zog am 19.08.1974 aus ihrem Heimatland T in die Bundesrepublik Deutschland. Sie hat keine abgeschlossene Berufsausbildung und war zuletzt als Küchenhilfe tätig. Die Klägerin ist seit dem 17.10.2014 arbeitsunfähig und arbeitslos und bezog zunächst Arbeitslosengeld von der Agentur für Arbeit und seit dem 15.09.2016 Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II.

Sie beantragte am 25.09.2018 bei der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.

Die Beklagte zog medizinische Behandlungsberichte sowie ein Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Baden-Württemberg aufgrund einer ambulanten Begutachtung der Klägerin am 11.11.2014 bei und lehnte den Antrag mit Bescheid vom 04.12.2018 ab. Aus den beigezogenen medizinischen Unterlagen ergebe sich eine Minderbelastbarkeit des linken Ellenbogens bei degenerativen Veränderungen sowie ein Bluthochdruck. Diese Einschränkungen führten jedoch noch nicht zu einem Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.

Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin erhob hiergegen am 11.12.2018 Widerspruch und führte zur Begründung aus, dass die Klägerin an einem komplexen Krankheitsbild leide. Die erheblichen Schmerzen im Wirbelsäulen- und Schulterbereich verursachten bereits beim Tragen von leichtesten Gegenständen Schmerzen. Auch das linke Knie sei schmerzhaft und die Gehstrecke erheblich eingeschränkt. Die chronische Entzündung in nahezu allen Gelenken führte ebenfalls zu starken Schmerzen. Die Klägerin sei sozial isoliert und verlasse kaum das Haus. Auch leide die Klägerin unter Trockenheit der Augen und sehe schwarze Punkte. Die kognitive Leistungsfähigkeit sei eingeschränkt.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchbescheid vom 16.05.2019 zurück. Die Klägerin sei unter Berücksichtigung dieser Gesundheitsstörungen noch in der Lage, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes 6 Stunden arbeitstäglich und mehr zu verrichten.

Der Prozessbevollmächtigte hat am 29.05.2019 Klage zum Sozialgericht Reutlingen (SG) erhoben und hat zur Begründung auf das Vorbringen im Widerspruchsverfahren verwiesen. Die Klägerin sei infolge der Erkrankungen und Gebrechen nicht mehr in der Lage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter betriebsüblichen Bedingungen einer geregelten Erwerbstätigkeit für die Dauer von zumindest 3 Stunden pro Tag nachzugehen.

Das SG hat Beweis erhoben durch schriftliche Befragung der behandelnden Ärzte der Klägerin als sachverständige Zeugen.

Der C hat in seiner schriftlichen Zeugenaussage vom 28.08.2019 von einer ängstlich-depressiven Störung und Spannungskopfschmerzen berichtet. Aktuell bestehe keine hinreichende Stabilisierung des Gesundheitszustandes, unter geeigneter Therapie wären mehr als 6 Stunden arbeitstäglich möglich.

Die H hat mit Schreiben vom 16.09.2019 als Diagnosen eine Depression, eine arterielle Hypertonie, eine Adipositas bei einem BMI von 31,6 sowie einen Zustand nach Magen-Bypass-Operation im Jahr 2018 mitgeteilt. Angaben zum Leistungsvermögen konnte sie keine machen.

Der B hat in seiner schriftlichen Zeugenaussage vom 28.12.2019 als Diagnosen ein Fibromyalgiesyndrom und rezidivierende BWS-Beschwerden angegeben und hat ebenfalls keine Angaben zum Leistungsvermögen gemacht.

Der Prozessbevollmächtigte hat Befundberichte über die Behandlung der Klägerin infolge einer Wundheilungsstörung vom 02.10.2019 bis zum 28.10.2019 in der Berufsgenossenschaftlichen Uklinik T1 sowie in der ambulanten Notaufnahme der Kkliniken R am 02.10.2019 eingereicht.

Die Beklagte hat unter Vorlage einer sozialmedizinischen Stellungnahme von P, vom 09.03.2020 an der bisherigen Bewertung des Sachverhaltes festgehalten.

Das SG hat den L mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt. In seinem Gutachten vom 14.09.2020 hat L ein schmerzhaftes Wirbelsäulensyndrom mit ausstrahlenden Beschwerden sowie eine rezidivierende depressive Störung und unterschwelligen Angst diagnostiziert. Die Klägerin könne seit Anfang 2019 leichte Tätigkeiten nur noch weniger als 3 Stunden arbeitstäglich ausüben. Dieser Zustand bestehe seit dem Beginn der Behandlung mit dem Medikament Escitalopram im Februar 2019 und sei nicht dauerhaft, er gehe davon aus, dass unter entsprechender Therapie innerhalb eines halben bis ganzen Jahres eine deutliche Stabilisierung erreichbar sei.

Die Beklagte hat zum Gutachten von L eine sozialmedizinische Stellungnahme von N vom 07.10.2020 eingereicht, wonach der mitgeteilte psychopathologische Befund von einer leichtgradigen Depressivität spreche. Eine entsprechende Psychopharmakotherapie, stationäre Aufenthalte oder Ähnliches seien in der Behandlungsanamnese nicht dokumentiert. Derartige Maßnahmen seien jedoch zu erwarten, wenn ein entsprechendes schwergradiges Erkrankungsbild vorliege. Auch fehle die Konsistenzprüfung bezüglich des Tagesablaufes und der weiteren Angaben. Eine Minderung der Erwerbsfähigkeit könne auf der Grundlage des Gutachtens von L nicht angenommen werden.

L hat auf Veranlassung des SG am 06.11.2020 eine ergänzende Stellungnahme abgegeben und an seiner Einschätzung des Leistungsvermögens festgehalten.

Das SG hat mit Urteil vom 06.07.2021 die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 04.12.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16.05.2019 verurteilt, der Klägerin eine befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit vom 01.09.2019 bis zum 31.03.2022 in gesetzlicher Höhe zu gewähren. Das SG hat zur Begründung auf die Einschätzung von C sowie des Gutachters L Bezug genommen. Beide gingen davon aus, dass die Klägerin aufgrund der bei ihr bestehenden depressiven Störung nicht mehr in der Lage sei, leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in einem zeitlichen Umfang von mehr als 6 Stunden arbeitstäglich auszuüben. Zwar bemängele der Medizinische Dienst der Beklagten, dass sich im Gutachten von L nur wenig Angaben zum Tagesablauf der Klägerin finden würden. Jedoch weise L in seiner ergänzenden Stellungnahme zu Recht daraufhin, dass bei einem an einer Depression leidenden Menschen, und damit an einer Krankheit die gerade dadurch geprägt sei, dass ein Rückzug und eine soziale Isolation üblicherweise damit verbunden seien und sich aufgrund dieses Umstandes nur sehr wenig an Tagesablauf erheben lasse. So gebe er an, die Klägerin habe angegeben, dass sie sich selbst versorge, wobei der Tag wenig strukturiert sei und die Tochter sie unterstützen müsse. Gelegentlich gehe sie zum Bäcker und kaufe ein. Ansonsten gehe sie Spazieren, verbringe aber ansonsten den Tag weitgehend zu Hause. Vor diesen Hintergrund scheine das Vorliegen einer Depression verbunden mit sozialem Rückzug nachvollziehbar.

Das SG halte es auch für schlüssig, dass L den Leistungsfall auf den Februar 2019 und damit auf den Beginn der medikamentösen Behandlung der Depression der Klägerin mit dem Medikament Escitalopram lege. Da L für das SG nachvollziehbar und schlüssig ausführe, dass der bei der Klägerin bestehende Gesundheitszustand nicht von Dauer sein müsse, sondern durch entsprechend adäquate therapeutische Maßnahmen innerhalb eines Zeitraumes von einem halben bis zu einem ganzen Jahr gebessert werden könne, komme nur die Bewilligung einer befristeten Rente wegen Erwerbsminderung in Betracht. Soweit der Medizinische Dienst den Beklagten darauf hinweise, dass die therapeutischen Möglichkeiten nicht ausgeschöpft seien, sei zum einen darauf hinzuweisen, dass nach den Angaben der Klägerbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung die Klägerin mittlerweile monatlich bei C vorspreche und dies bereits seit Mai 2020 und zudem sich der von der Klägerin vorgelegten Bescheinigung von C vom 15.06.2021 entnehmen lasse, dass eine medikamentöse Therapie stattfinde. Im Übrigen werde auf die Rechtsprechung des LSG Baden-Württemberg Bezug genommen, wo-nach selbst bei Nichtausschöpfen der möglichen Therapiemöglichkeiten nicht vom Ausschluss des Vorliegens einer Erwerbsminderung ausgegangen werden könne, sondern dass in diesem Fall eine Erwerbsminderungsrente zu gewähren sei und den nicht durchgeführten Therapiemaß-nahmen gegebenenfalls mit den Mitteln, die bei fehlender Mitwirkung vom Gesetzgeber vorgesehen seien, von Seiten der Beklagten begegnet werden müsse.

Die Beklagte hat gegen das ihr am 16.07.2021 zugestellte Urteil am 16.08.2021 Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt.

Die Beklagte hat zur Berufungserwiderung eine sozialmedizinische Stellungnahme von N vom 27.07.2021 vorgelegt. Sie hat vorgetragen, dass sich das SG nicht mit den Argumenten von N in dessen Stellungnahme vom 07.10.2020 auseinandergesetzt habe. Zu der von N geäußerten Kritik am Gutachten von L finde sich dort zum Einwand der fehlenden Erhebung des Tagesablaufs sinngemäß der lapidare Hinweis, ein solcher sei entbehrlich, da sich bei an Depression leidenden Menschen „nur sehr wenig an Tagesablauf“ erheben ließe. Diese Argumentation allerdings sei weder zutreffend noch nachvollziehbar und nicht geeignet das Fehlen eines wesentlichen Gutachtenbestandteils zu rechtfertigen. Zudem moniere das SG sinngemäß, N habe zu Unrecht auf nicht ausgeschöpfte Therapiemöglichkeiten hingewiesen, da sich einer Bescheinigung von C vom 15.06.2021 entnehmen ließe, dass eine medikamentöse Therapie stattfände. Hierbei verkenne das SG jedoch, dass sich im Gegensatz dazu noch bei der Begutachtung durch L am 26.08.2020 - also zu einem rund neun Monate früher liegenden Zeitpunkt - offenbar kein einziger Hinweis zu einer aktuell durchgeführten Therapie in Form einer Psychopharmaka-Medikation ergeben habe. Auch ein entsprechender Medikamentenspiegel sei im Rahmen des Gutachtens nicht erhoben worden.

Zudem werde anhand der vorgelegten Berichte von C - auch unabhängig vom Inhalt des Gutachtens von L - der präzise zeitliche Ablauf und Umfang einer vermeintlich schon seit längerem bei der Klägerin durchgeführten medikamentösen Therapie mit Antidepressiva-Wirkstoffen nicht recht klar. In der schriftlichen Zeugenaussage von C vom 28.08.2019 finde sich noch die Aussage „Unter geeigneten und verträglichen Therapiemaßnahmen könnte aber eine Verbesserung erreicht werden…“. Anhand der von C in seinem späteren Verlaufsbericht vom 15.06.2021 gewählten Formulierung „Die Patientin hat sich jetzt wieder vorgestellt.“ lasse sich auch nicht nachvollziehen, wie oft und in welchem Rhythmus die Klägerin überhaupt noch zwischen dem 09.07.2019 (laut Auskunft von Herrn C vom 28.08.2019) und dem 15.06.2021 (gemäß dem Verlaufsbericht vom 15.06.2021) bei ihm vorstellig geworden sei bzw. ihr Medikamente verschrieben worden seien und sie diese auch tatsächlich eingenommen habe. Die im Rahmen der mündlichen Verhandlung - wie in den Entscheidungsgründen hervorgehoben - seitens der Klägerbevollmächtigten gemachte Angabe, wonach die Klägerin „mittlerweile monatlich“ bei Herrn C vorspreche, ersetze in diesem Punkt nicht eine belastbare Sachaufklärung. Trotz der genannten Unklarheiten und Widersprüchlichkeiten halte es das SG ausdrücklich für schlüssig, dass bei der Klägerin seit Februar 2019 durchgängig eine adäquate medikamentöse Therapie mit Antidepressiva-Wirkstoffen stattfinde. Darüber hinaus mache das SG an diesem Zeitpunkt auch den vermeintlichen Eintritt des Leistungs-falls für den tenorierten Rentenanspruch fest. Angesichts der nur unzureichend erfolgten Sach-aufklärung sei dies nicht nachvollziehbar. Zusätzlich stütze das SG seine Entscheidung auf eine bei L eingeholte ergänzende Stellungnahme vom 06.11.2020, in welcher dieser die von N vorgetragene Kritik zu entkräften versucht habe. Hierzu sei auf eine erneute sozialmedizinische Stellungnahme von N vom 27.07.2021 zu verweisen. Soweit danach Ängste vor Psychopharmaka als Begründung für die mangelnden therapeutischen Anstrengungen angeführt würden, habe L diese als nur „unterschwellig“, also nicht wirklich prominent und nachvollziehbar quantifiziert. Auch dürfe sich eine psychiatrische Behandlung nicht nur an einer Verschreibung von Medikamenten messen lassen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 06.07.2021 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Die Klägerin hat zur Berufungserwiderung vorgetragen, dass das SG zutreffend entschieden habe, dass ihr eine Rente wegen voller Erwerbsminderung zu stehe. Sie sei von L umfassend begutachtet worden. L habe überzeugend dargestellt, dass die Leistungsminderung der Klägerin auf unter 3 Stunden täglich herabgesunken sei. Die Einwände der Gegenseite überzeugten nicht. Auch treffe es nicht zu, dass eine Therapie nicht stattfinde. Hierzu könne der Psychiater C befragt werden.

Der Senat hat S mit der Erstellung eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens von Amts wegen beauftragt. S hat in seinem Gutachten vom 16.05.2022 mitgeteilt, dass keine Störung auf psychiatrischem oder neurologischem Fachgebiet von Krankheitswert vorliege. Es habe sich keine relevante Störung des Antriebs, der Stimmung, keine relevante Denkstörung, keine Störung von Konzentration und Aufmerksamkeit und keine Störung der Fähigkeit zur adäquaten sozialen Interaktion und Kommunikation gezeigt. Eine Behandlung, die auf eine auch nur vorübergehende schwerere psychische Störung hinweisen würde, sei nie erfolgt. Die Klägerin sei in der Lage, leichte Tätigkeiten 6 Stunden arbeitstäglich zu verrichten.

Bezüglich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes und dem weiteren Vorbringen der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge sowie die beigezogene Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die gemäß § 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten ist gemäß §§ 143, 144 SGG zulässig und begründet. Der Bescheid vom 04.12.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.05.2019 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Das Urteil des SG vom 06.07.2021 war daher aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Versicherte haben nach § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB VI Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze, wenn sie voll erwerbsgemindert sind (Nr. 1), in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (Nr. 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (Nr. 3). Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Eine volle Erwerbsminderung liegt nach der ständigen Rechtsprechung des BSG auch dann vor, wenn der Versicherte täglich mindestens 3 bis unter 6 Stunden erwerbstätig sein kann und er damit nach dem Wortlaut des § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI ohne Berücksichtigung der Arbeitsmarktlage an sich nur teilweise erwerbsgemindert ist, ihm aber der Teilzeitarbeitsmarkt tatsächlich verschlossen ist (sog. konkrete Betrachtungsweise, vgl. etwa BSG, Urteil vom 11.12.2019 – B 13 R 7/18 R –, juris Rdnr. 24). Der Eintritt einer rentenberechtigenden Leistungsminderung muss im Wege des Vollbeweises festgestellt sein; vernünftige Zweifel am Bestehen der Einschränkungen dürfen nicht bestehen.

Die Beurteilung des Leistungsvermögens bezieht sich dabei auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. Dieser umfasst jede nur denkbare Tätigkeit, für die es in nennenswertem Umfang Beschäftigungsverhältnisse gibt (vgl. BT-Drucks. 14/4230, S. 25) und damit auch ungelernte Tätigkeiten (vgl. BSG - Großer Senat - Beschluss vom 19.12.1996 - GS 2/95 - BSGE 80, 24; juris). Bezugspunkt ist dabei eine körperlich leichte Tätigkeit (BSG, Urteil vom 19.10.2011 - B 13 R 78/09 R –, juris) und damit nicht zwingend die zuletzt ausgeübte Beschäftigung, die etwa für die Frage der Arbeitsunfähigkeit im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung maßgeblich sein kann.

Ausgehend hiervon lässt sich für den Zeitraum seit der Antragstellung eine volle oder auch nur teilweise Erwerbsminderung der Klägerin nicht zur Überzeugung des Senats nachweisen, so dass der geltend gemachte Anspruch nicht besteht. Das Gericht entscheidet dabei nach § 128 Abs. 1 SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Absolute Gewissheit ist nicht erforderlich, aber an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit. Gewisse Zweifel sind unschädlich, so lange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (MKLS/Keller SGG 13. Aufl. 2020 § 128 Rdnr. 3b).

Der Schwerpunkt der Erkrankungen der Klägerin betrifft nach der Gutachtenslage das psychische Fachgebiet.

Der Senat stellt mit dem überzeugenden Gutachten von S fest, dass auch unter Berücksichtigung der Einschränkungen auf psychiatrisch-neurologischem Fachgebiet die Klägerin noch in der Lage ist, leichte Tätigkeiten 6 Stunden arbeitstäglich und mehr an 5 Tagen in der Woche zu verrichten. S konnte bei der Begutachtung keine relevante psychische Störung von Krankheitswert feststellen. Die Klägerin zeigte sich nicht antriebsgemindert. Konzentration und Aufmerksamkeit waren ungestört. Themenabhängig zeigte sich die Klägerin zwar affektiv nicht ganz stabil, fing sich jedoch bei Themenwechsel wieder. Die affektive Schwingungsfähigkeit war daher teilweise etwas eingeschränkt, jedoch nicht aufgehoben. Auf neurologischem Fachgebiet zeigte sich ebenfalls kein pathologischer Befund. Das Gutachten von S ist nach Überzeugung des Senats schlüssig und fundiert. Die Klägerin hat einen normalen Tagesablauf geschildert. Dass sie durch das schlechte Verhältnis zu ihrem Sohn und dessen Frau belastet ist, reicht zur Annahme einer krankhaften Störung nicht aus. Zudem besteht zu ihrer Tochter und deren Familie ein gutes Verhältnis. Der Senat kann somit keinen sozialen Rückzug und keine Antriebsminderung feststellen. Die nervenfachärztliche Behandlung findet lediglich sporadisch statt. Die Klägerin hat nach ihren Angaben bei der Begutachtung bei S am 16.05.2022 im Jahr 2022 noch keinen Behandlungstermin bei C oder einem anderen Behandler auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet wahrgenommen. Ein höhergradiger Leidensdruck und eine weitergehende Behandlungsmotivation ist somit nicht erkennbar.

Der Senat sieht durch das Gutachten von L eine zeitliche Einschränkung des Einsatz-vermögens der Klägerin auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht als nachgewiesen an. So wendet die Beklagte zu Recht gegen das Gutachten von L ein, dass die von ihm erhobenen Befunde lediglich die Diagnose einer leichtgradigen depressiven Erkrankung rechtfertigen und die von ihm gestellte Diagnose einer mittelschwer bis schwer ausgeprägten depressiven Störung somit nicht nachvollziehbar und überzeugend ist. Insofern weist auch S in seiner Stellungnahme zum Gutachten von L darauf hin, dass die anamnestischen Angaben lediglich rudimentär und bereits mit einer Wertung versehen im Gutachten dargestellt werden. Auch der Senat kann nicht nachvollziehen, wie L angesichts eines im Wesentlichen ungestörten Tagesablaufs ohne konkrete Hinweise auf einen höhergradigen sozialen Rückzug oder eine schwergradige Antriebsminderung zur Diagnose einer mittel- bis schwergradigen depressiven Störung gelangt, zumal Gedächtnis, Konzentration und Durchhaltevermögen ungestört waren. Zudem hat die Klägerin nach den von C mitgeteilten Behandlungsdaten in der sachverständigen Zeugenaussage vom 28.08.2019 lediglich niederfrequente Behandlungsmaßnahmen in Anspruch genommen. Soweit nach dem Befundbericht vom 13.02.2019 von C eine Behandlung mit Escitalopram begonnen wurde, wurde diese Medikation von der Klägerin bei der nachfolgenden Begutachtung bei L nicht mehr angegeben. Angesichts der Tatsache, dass die Klägerin nach ihren Angaben im Jahr 2022 bis zur Begutachtung bei S überhaupt noch nicht in nervenfachärztlicher Behandlung war, vermögen auch die von C erhobenen Befunde eine Erwerbsminderung nicht zu begründen. Der Senat kann sich somit auf der Grundlage der von L erhobenen Befunde weder von dessen Diagnose einer mittel- bis schwergradigen depressiven Störung, noch von einer Erwerbsminderung der Klägerin überzeugen.

Soweit bei der Begutachtung durch L die Tochter der Klägerin nach den Angaben von L bei der Erhebung der Angaben gedolmetscht hat, stellt dies ebenfalls einen erheblichen Mangel des Gutachtens von L dar. So ist nach Überzeugung des Senats ein psychiatrisches Gutachten grundsätzlich nicht verwertbar, wenn bei der Exploration und Anamneseerhebung Dritte anwesend und beteiligt waren (vgl. so bereits LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 22.09.2016 – L 7 R 2329/15 –, juris Rdnr. 50; einschränkend LSG Hessen, Urteil vom 12.07.2021 - L 5 R 149/20 -, juris Rdnr. 77ff.). Dies gilt unabhängig davon, ob die Sprachkenntnisse der Klägerin für die Exploration und Anamneseerhebung ausreichend waren. Sofern die Sprachkenntnisse hierfür nicht ausreichend sind, ist bei psychiatrischen Gutachten ein vereidigter Dolmetscher hinzuzuziehen (vgl. hierzu Mushoff in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 103 SGG Rdnr. 177 ff. sowie Roller, in WzS 2013, 332-337). Ein Rückgriff auf anwesende Familienangehörige als Dolmetscher ist nur dann unproblematisch, wenn es um einen Austausch von Informationen geht, bei denen ihrer Natur nach eine Verfälschung ausscheidet. Bei psychiatrischen Gutachten ist dies jedoch nicht zulässig (vgl. Roller a.a.O. m.w.N.).

Die Sprachkenntnisse der Klägerin waren vorliegend für die Exploration und Anamneseerhebung ausreichend. Die Prozessbevollmächtigten der Klägerin haben weder bei der Begutachtung durch L noch bei der Begutachtung durch S die Hinzuziehung eines Dolmetschers beantragt. S hat in seinem Gutachten ausdrücklich vermerkt, dass die Deutschkenntnisse der Klägerin für die Begutachtung ausreichend waren. Somit war die Hinzuziehung eines Dolmetschers nicht erforderlich. Auch birgt selbst bei ausreichenden Sprachkenntnissen des Probanden die Anwesenheit Dritter, insbesondere Familienangehöriger, die Gefahr, dass die Angaben des Probanden durch die Wertungen und Motive des Dritten beeinflusst und verfälscht werden. Nach der medizinischen Fachliteratur (Ventzlaff/Förster, Psychiatrische Begutachtung, 6. Aufl. 2015, S. 17) ist die Anwesenheit dritter Personen während der Exploration und der Untersuchung grundsätzlich kontraproduktiv und kann den Aufbau einer Beziehung zwischen Proband und Gutachter stören. Vielmehr kann vor oder nach der Exploration mit den Angehörigen gesprochen werden (vgl. auch LSG Baden-Württemberg, a.a.O., Rdnr. 50). Eine Ausnahme kann daher nur in absoluten Ausnahmefällen gemacht werden, beispielsweise wenn der Proband während der Begutachtung auf die ständige Unterstützung einer Pflegeperson angewiesen ist.

Da bereits keine Erkrankung auf psychiatrischem Fachgebiet vorliegt, welche nach dem ihrem Schweregrad zur Annahme einer Erwerbsminderung führen könnte, erübrigt sich auch eine Stellungnahme des Senats zu den Ausführungen des SG zur Rechtsprechung des LSG Baden-Württemberg (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 01.07.2020 – L 5 R 1265/18 –; Urteil vom 23.06.2020 – L 9 R 1194/19 –, beide juris), wonach die Behandelbarkeit einer psychischen Erkrankung für die Frage, ob eine quantitative Leistungsminderung vorliegt, nicht maßgeblich ist, sondern nur für die Befristung bzw. die Dauer einer Rente Bedeutung erhält. Lediglich ergänzend weist der Senat darauf hin, dass nach der Senatsrechtsprechung im Einzelfall jeweils konkret zu prüfen ist, ob der Schweregrad der gestellten Diagnose konsistent und plausibel ist und ob das Unterbleiben einer der gestellten Diagnose entsprechenden Behandlung auf einem verminderten Leidensdruck beruht (vgl. Urteil des Senats vom 21.01.2022 – L 8 R 1139/21 – n.v., unter Ver-weis auf Keller in jurisPR-SozR 20/2020 Anm. 6; Hensen/Keller in NJW, 2021, 974-978 sowie Matlock in NZS 2021, 154). Der Senat kann im zu entscheidenden Fall keine psychische Erkrankung von erwerbsmindernder Relevanz feststellen, so dass die Frage der Bewertung der Nichtausschöpfung der Therapiemaßnahmen keiner weiteren Erörterung bedarf.

Der Senat kann auch nach Prüfung der weiteren Erkrankungen der Klägerin auf orthopädischem und chirurgischem Fachgebiet keine Erwerbsminderung feststellen. Die Klägerin leidet auf orthopädischem Fachgebiet laut der sachverständigen Zeugenaussage von B vom 30.12.2019 an rezidivierenden Brustwirbelsäulenbeschwerden. Diese wurden am 25.03.2019 mit Novaminsulfon behandelt. Weitergehende Behandlungen erfolgten nicht. B konnte aufgrund der wenigen Konsultationen bzw. Befunderhebungen keine Aussage zum Leistungsvermögen abgeben. L hat in seinem Gutachten eine verspannte paravertebrale Wirbelsäulenmuskulatur erhoben. Diese hat jedoch nicht zu entsprechenden Behandlungsmaßnahmen geführt. Orthopädische Befundberichte sind nach dem Jahr 2019 nicht aktenkundig. Zudem konnte L eine Nervenwurzelkompression oder Reizung nicht bestätigen. Die Wirbelsäulenbeschwerden führen daher zum Vermeiden von schweren Heben und Tragen von Lasten, Arbeiten in Nässe und Kälte, Überkopfarbeiten und Arbeiten in Zwangshaltungen. Eine zeitliche Leistungseinschränkung folgt hieraus jedoch auch nach Ansicht von L nicht.

Auch auf chirurgischem Fachgebiet ist eine Erwerbsminderung nicht feststellbar. Die Fettschürzenresektion der medialen Oberschenkel im September 2019 hat zwar nachfolgend zu einer Wundinfektion geführt, die in der Berufsgenossenschaftlichen Uklinik T1 vom 02.10.2019 bis zum 28.10.2019 stationär behandelt werden musste. Eine bleibende Leistungs-einschränkung ist jedoch nicht feststellbar.

Der Senat stellt daher fest, dass die Klägerin noch leichte Tätigkeiten 6 Stunden arbeitstäglich unter Berücksichtigung der bereits dargestellten qualitativen Leistungseinschränkungen verrichten kann. Zu einer konkreten Darlegung der Tätigkeiten, zu denen sie aus gesundheitlichen Gründen noch in der Lage ist, besteht bei einem Leistungsvermögen für zumindest körperlich leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes auch bei qualitativen Einschränkungen jedoch keine Verpflichtung (vgl. BSG, Urteil vom 11.12.2019 – B 13 R 7/18 R –, juris). Das dargestellte Restleistungsvermögen erlaubt Verrichtungen oder Tätigkeiten, wie sie in ungelernten Tätigkeiten üblicherweise gefordert werden, wie z.B. das Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Bedienen von Maschinen, Kleben, Sortieren, Verpacken und das Zusammensetzen von Teilen (vgl. BSG, Urteil vom 09.05.2012 – B 5 RJ 68/11 R –, juris, Rdnr. 25 m.w.N.). Dieser Kern an typischen körperlichen Verrichtungen ist nach der Rechtsprechung des BSG nicht überholt. Die Aufzählung der Arbeitsfelder und Verrichtungen ist nicht abschließend; sie kann etwa um einfache Büro- oder Montagetätigkeiten und im Hinblick auf die zunehmende Automatisierung von Prozessen auch z.B. um Verrichtungen wie das Messen, Prüfen, Überwachen und die (Qualitäts-)Kontrolle von Produktionsvorgängen erweitert werden (BSG, Urteil vom 11.12.2019 – a.a.O.). Die Benennung einer Verweisungstätigkeit ist vorliegend auch nicht wegen einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder des Vorliegens einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung oder unter dem Gesichtspunkt der Verschlossenheit des Arbeitsmarktes (vgl. dazu zusammenfassend BSG, Urteil vom 11.12.2019 – a.a.O.) erforderlich. Auch die erforderliche Wegefähigkeit ist nach Aussage der beiden Gutachter gegeben.

Das Risiko, dass sich eine den Anspruch begründende volle oder teilweise Erwerbsminderung nicht zur Überzeugung des Senats nachweisen lässt, hat die Klägerin zu tragen. Denn der Versicherte trägt die objektive materielle Beweislast für die Verwirklichung des Rechtssatzes, der seinen Anspruch stützen könnte (BSG Urteil vom 27.06.1968 – 4 RJ 377/67 –, in juris). Das Risiko, bei einem ausreichenden Leistungsvermögen keinen geeigneten Arbeitsplatz zu erlangen, ist nach dem gegliederten Sozialversicherungssystem der Arbeitslosenversicherung bzw. im Falle der Klägerin dem Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II zugewiesen.

Der Sachverhalt ist vollständig aufgeklärt. Die vorliegenden ärztlichen Unterlagen und insbesondere das Gutachten von S haben dem Senat die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen sachlichen Grundlagen vermittelt (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG, § 412 Abs. 1 ZPO). Der zuletzt gehörte Sachverständige S hat auch keine weiteren Ermittlungen mehr für erforderlich gehalten. Die Beteiligten haben ihrerseits auch keine weitere Beweiserhebung beantragt bzw. angeregt, so dass sich der Senat auch unter diesem Gesichtspunkt nicht zu weiteren medizinischen Ermittlungen gedrängt sieht (vgl. BSG, Beschluss vom 28.09.2020 – B 13 R 45/19 B –, juris Rdnr. 11).

Auf die Berufung der Beklagten war daher das Urteil des Sozialgerichts vom 06.07.2021 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.



 

Rechtskraft
Aus
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