1. Zur Notwendigkeit der verfassungskonformen Auslegung von § 23 Abs. 3 Sätze 3 bis 6 SGB XII (hier: Abgrenzung zu BSG, Urteil vom 29. März 2022 - B 4 AS 2/21 R).
2. Unionsgrundrechte sind nach Art. 51 Abs. 1 GRCh auch dann anzuwenden, wenn materiell-rechtlich die Bedingungen der RL 2004/38/EG nicht mehr erfüllt werden, sondern allein nach günstigerem innerstaatlichem Recht von einer Rechtmäßigkeit des Aufenthalts auszugehen ist (Anschluss an EuGH, Urteil vom 15. Juli 2021 - Rs.
C-709/20).
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Darmstadt vom 7. September 2022 wird zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin im Beschwerdeverfahren.
Der Antragstellerin wird ratenfrei Prozesskostenhilfe für den Beschwerderechtszug unter Beiordnung von Rechtsanwältin B., B-Stadt, gewährt.
Gründe
I.
Zwischen den Beteiligten sind Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch – Sozialhilfe – (SGB XII) streitig.
Die 1983 geborene Antragstellerin ist bulgarische Staatsangehörige. Nach ihren Angaben lebt sie seit vielen Jahren in der Bundesrepublik Deutschland. Im Jahr 2018 meldete sie sich nach § 3 des Gesetzes zum Schutz von in der Prostitution tätigen Personen (Prostituiertenschutzgesetz – ProstSchG) an und erhielt am 14. November 2018 eine Bescheinigung nach § 5 ProstSchG; am 25. August 2021 wurde eine neue, bis zum 24. August 2023 gültige Anmeldebescheinigung nach dem PostSchG ausgestellt. Da die Ausübung der Prostitution aufgrund der Corona-Pandemie im März 2020 im Verordnungswege untersagt wurde, erzielte die Antragstellerin keine Einnahmen mehr. Aufgrund dessen verlor sie nach ihren Angaben ihre Unterkunft in der Stadt A-Stadt und lebt derzeit in einem Hotel in der Stadt A-Stadt. Nachdem die Antragstellerin langjährig keine Meldung bei den Meldebehörden vorgenommen hatte, ist sie seit dem 30. September 2020 in A-Stadt gemeldet. Ab Juli 2021 versuchte die Antragstellerin nach ihren Angaben ihre frühere selbständige Tätigkeit wieder aufzunehmen; dies ist nicht gelungen.
Nachdem ein einstweiliges Verfügungsverfahren gegen das Jobcenter im Wesentlichen erfolglos geblieben ist (vgl. Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 30. Dezember 2021 – L 6 AS 455/21 B ER), wurde die Antragsgegnerin verpflichtet, der Antragstellerin für die Zeit vom 8. Februar 2022 bis zum 30. April 2022 Leistungen nach § 23 Abs. 3 Sätze 3 bis 6 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch Sozialhilfe – SGB XII – in Höhe von (ggf. anteilig) monatlich 404 € abzüglich der im Regelbedarf vorgesehenen Kosten der Abt. 4 (Wohnen, Energie und Wohnungsinstandhaltung) der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe zuzüglich Kosten der Unterkunft und Heizung zu gewähren (vgl. Senatsbeschluss vom 28. April 2022 – L 4 SO 39/22 B ER). In einem weiteren Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes wurde im Beschwerdeverfahren der Beschluss des Sozialgerichts Darmstadt aufgehoben und die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin für die Zeit vom 4. Mai 2022 bis zum 31. Juli 2022 Leistungen nach § 23 Abs. 3 Sätze 3 bis 6 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch Sozialhilfe – SGB XII – in Höhe von (ggf. anteilig) 404 Euro abzüglich der im Regelbedarf vorgesehenen Kosten der Abt. 4 (Wohnen, Energie und Wohnungsinstandhaltung) der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe zuzüglich Kosten der Unterkunft und Heizung zu gewähren (Senatsbeschluss vom 7. Juni 2022 – L 4 SO 84/22 B ER).
Mit Bescheid vom 21. September 2022, der Antragstellerin wahrscheinlich zugegangen am 23. September 2022, stellte das Ausländeramt der Antragsgegnerin das Nichtbestehen eines Freizügigkeitsrechts fest, forderte die Antragstellerin zur Ausreise auf und drohte die Abschiebung nach Bulgarien an. Der Bescheid ist zwischenzeitlich bestandskräftig geworden.
Das Sozialgericht Darmstadt hat den am 16. August 2022 eingegangenen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit Beschluss vom 7. September 2022, der Bevollmächtigten der Antragstellerin zugestellt am selben Tage, abgelehnt. Die Antragstellerin habe einen Härtefall im Sinne des § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII nicht glaubhaft gemacht. Nur ganz außergewöhnliche individuelle Situationen könnten eine weitergehende Leistungsgewährung rechtfertigen. Es solle kein dauerhafter Leistungsbezug ermöglicht werden. Der damit verbundene vollständige Leistungsausschluss sei mit Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG vereinbar (Hinweis auf BSG, Urteil vom 29. März 2022 – B 4 AS 2/21 R, juris Rn. 35 ff.).
Mit der hiergegen gerichteten Beschwerde vom 6. Oktober 2022 verfolgt die Antragstellerin ihr Begehren unter Bezugnahme auf die Senatsrechtsprechung weiter. Auf rechtliche Hinweise des Berichterstatters hin hat die Antragstellerin ihre Bedarfe mittels Versicherung an Eides statt konkretisiert und glaubhaft gemacht und den Antrag auf den Zeitraum bis einschließlich 23. Oktober 2022 begrenzt. Der Verein S. e.V. habe ihr darlehensweise Notgeld gegeben und die Kosten der Notunterkunft bezahlt. Hinsichtlich des weiteren Vorbringens und des Inhalts der eidesstattlichen Versicherung wird auf den Schriftsatz vom 17. Oktober 2022 verwiesen (Bl. 42 ff. d.A.).
Die Antragstellerin beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts Darmstadt vom 7. September 2022 abzuändern und die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, der Antragstellerin Überbrückungsleistungen nach dem SGB XII für die Zeit ab dem 15. August 2022 bis zum 23. Oktober 2022 zu erbringen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Sie ist der Rechtsauffassung, der Gesetzgeber habe mit § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII verfassungskonform die Nachrangigkeit des deutschen Sozialleistungssystems gegenüber desjenigen des Herkunftslandes ausgestaltet (Hinweis auf BSG, Urteil vom 29. März 2022 – B 4 AS 2/21 R –, juris Rn. 34 ff.). Der Leistungsausschluss sei auch unionsrechtskonform (Hinweis auf EuGH, Urteil vom 25. Februar 2016 – Rs. C-299/14 – García-Nieto u.a.). Hinsichtlich des weiteren Vorbringens wird auf den Schriftsatz vom 21. Oktober 2022 verwiesen (Bl. 58 ff. d.A.).
II.
Die Beschwerde ist zulässig, aber nicht mehr begründet.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 und 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist damit, dass der Antragsteller einen materiell-rechtlichen Leistungsanspruch in der Hauptsache hat (Anordnungsanspruch) und es ihm nicht zuzumuten ist, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten (Anordnungsgrund). Nach § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) sind der Anordnungsanspruch und der Anordnungsgrund glaubhaft zu machen.
Diese Anforderungen sind im Lichte der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) zu konkretisieren (zum Folgenden: BVerfG, Beschluss vom 6. August 2014 – 1 BvR 1453/12 –, juris, Rn. 10 m.w.N.). Je gewichtiger die drohende Grundrechtsverletzung und je höher ihre Eintrittswahrscheinlichkeit ist, desto intensiver hat die tatsächliche und rechtliche Durchdringung der Sache bereits im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu erfolgen. Ist eine der drohenden Grundrechtsverletzung entsprechende Klärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich – etwa, weil es dafür weiterer, in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nicht zu verwirklichender tatsächlicher Aufklärungsmaßnahmen bedürfte –, ist es von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, wenn die Entscheidung über die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes dann auf der Grundlage einer Folgenabwägung erfolgt. Übernimmt das einstweilige Rechtsschutzverfahren allerdings vollständig die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens und droht eine endgültige Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung der Beteiligten, müssen die Gerichte bei den Anforderungen an die Glaubhaftmachung zur Begründung von Leistungen zur Existenzsicherung in den Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes der Bedeutung des Grundrechts aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG Rechnung tragen. Die Anforderungen an die Glaubhaftmachung haben sich am Rechtsschutzziel zu orientieren, das mit dem jeweiligen Rechtsschutzbegehren verfolgt wird.
Gemessen an diesem Maßstab kommt zwar entgegen der Auffassung des Sozialgerichts ein Anordnungsanspruch nach § 23 Abs. 3 Sätze 3 bis 6 SGB XII in verfassungskonformer Auslegung in Betracht, dessen Tatbestandsvoraussetzungen glaubhaft gemacht worden sind (dazu unter 1). Indes ist wegen der vorläufigen darlehensweisen Bedarfsdeckung durch den Verein S. e.V. und wegen des abgeschlossenen Leistungszeitraums bis einschließlich 23. Oktober 2022 der Senat nicht mehr mit hinreichender Gewissheit vom Vorliegen eines Anordnungsgrundes überzeugt (dazu 3.). Zur Vermeidung von Folgestreitigkeiten nimmt der Senat gleichwohl zu den Einwänden des Sozialgerichts und der Antragsgegnerin gegen die Rechtsauffassung des Senats Stellung (dazu 2).
1. Da die Antragstellerin – zuletzt nach übereinstimmender Auffassung der Beteiligten – kein materielles Aufenthaltsrecht hat und hinreichende Bemühungen zur Arbeitsuche in der Bundesrepublik Deutschland nicht glaubhaft gemacht hat, unterfällt sie dem Leistungsausschluss des § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 1. Variante SGB XII, mit der Folge, dass allein eine Leistungsgewährung im Rahmen des § 23 Abs. 3 Sätze 3 bis 6 SGB XII in Betracht kommt.
Die „besondere Härte“ nach § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII ist nach ständiger Rechtsprechung des Senats aus verfassungsrechtlich zwingenden Gründen weit auszulegen (grundlegend Senatsurteil vom 1. Juli 2020 – L 4 SO 120/18 – juris Rn. 66-74; vgl. auch Senatsbeschluss vom 28. April 2022 – L 4 SO 39/22 B ER). Die Härtefallregelung muss wegen Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG grundsätzlich jeden während des tatsächlichen Aufenthalts entstehenden Bedarfsfall erfassen. D.h. der gesetzliche Leistungsanspruch muss so gefasst sein, „dass der gesamte existenznotwendige Bedarf im Ergebnis stets gedeckt wird. Doch kann der Gesetzgeber entscheiden, wie er den Bedarf berechnet und wie er ihn deckt, (…) pauschal oder (…) nach einzeln nachzuweisenden Bedarfen“ (zusf. zu § 1a Nr. 2 AsylbLG a.F.: BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2021 – 1 BvR 2682/17 –, juris Rn. 22). Dies kann „auch zu einer Absenkung der Leistungen führen; zwingend ist dies aber nicht.“ Auch die Leistungshöhe der Härtefallregelung ist – vergleichbar § 1a Nr. 2 AsylbLG a.F. – „rein bedarfsorientiert zu ermitteln“ (BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2021 – 1 BvR 2682/17 –, juris Rn. 23). Auch bei nicht befristeten besonderen Bedarfslagen und damit für die tatsächliche Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet sind existenzsichernde Sozialleistungen, hier: Leistungen nach dem Dritten und Fünften Kapitel, zu gewähren. Werden darüber hinaus andere Bedarfe als die nach Absatz 3 Satz 5 typisierend vorgesehenen geltend gemacht und liegen sie tatsächlich vor, sind auch diese in verfassungskonformer Auslegung des Satzes 6 für die Zeit des tatsächlichen Aufenthalts (wie hier: Siefert, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 23 Rn. 108) bis zur vollziehbaren Ausreisepflicht (vgl. § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG i.V.m. § 23 Abs. 2 SGB XII) zu decken (hinsichtlich der Dauer: LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11. Juli 2019 – L 15 SO 181/18 –, juris Rn. 69). Der Unterschied zu „normalen“ Leistungen nach dem Dritten Kapitel besteht in Übereinstimmung mit der o.g. bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung mithin darin, dass die bedürftige Person von dem pauschalierten Leistungsmodell des Dritten Kapitels auf die Anmeldung des individuellen Bedarfs insbesondere im Bereich der soziokulturellen Existenz verwiesen wird und im Falle der fehlenden Darlegung des Bedarfes auch nicht von der Pauschalierung profitieren kann (vgl. zur Parallelproblematik bei § 1a AsylbLG auch Senatsbeschluss vom 26. Februar 2020 – L 4 AY 14/19 B ER).
2. Die hiergegen vom Sozialgericht und von der Antragsgegnerin vorgebrachten Argumente schließen einen Anordnungsanspruch nicht aus.
a) Die Rechtssätze des Urteils des Bundessozialgerichts vom 29. März 2022 – B 4 AS 2/21 R –, enthalten keine Aussage zur behaupteten fehlenden Notwendigkeit einer verfassungskonformen Auslegung von § 23 Abs. 3 SGB XII. In der Passage zu § 23 Abs. 3 SGB XII (Rn. 48) finden sich keine verfassungsrechtlichen Überlegungen. Zu den knappen allgemeinen verfassungsrechtlichen Ausführungen zum Leistungsausschluss (Rn. 35 ff.) ist anzumerken, dass in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Gegenwärtigkeitsgrundsatz (BVerfG vom 18. Juli 2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 – BVerfGE 132, 134 <172, Rn. 94>) kein Ansatzpunkt dafür gefunden werden kann, dass das Existenzminimum bereits dann vollständig ungedeckt bleiben darf, wenn Hilfebedürftige durch eine zumutbare Ausreise in einen anderen Staat die Voraussetzungen für einen dortigen Anspruch auf existenzsichernde Leistungen schaffen können. Ein solches Verständnis wird in verschiedenen Stellungnahmen von Rechtsprechung und Literatur vielmehr überzeugend abgelehnt (über die Senatsrechtsprechung hinaus: BSG, Urteil vom 20. Januar 2016 – B 14 AS 35/15 R –, juris Rn. 42, die dortigen verfassungsrechtlichen Ausführungen beanspruchen nach wie vor Geltung; Brings/Oehl, ZAR 2016, 20 <26>; Devetzi/Janda, ZESAR 2017, 197 <201>; F. Kirchhof, NZS 2015, 1 <4>; Pattar, SGb 2016, 665 <669>; Schreiber, SR 2018, 181 <184, 189 ff.>; Wallrabenstein JZ 2016, 109 <118 f.>: „Ein ‚sozialrechtlicher Squeeze-out‛ verträgt sich nicht mit der Menschenwürde“; ähnl. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11. Juli 2019 – L 15 SO 181/18 –, juris Rn. 65; Beschluss vom 17. März 2022 – L 18 AS 232/22 B ER –, juris Rn. 18 ff.). Insbesondere hat das Bundesverfassungsgericht nicht nur den Kreis der potentiell Asylberechtigten im Blick, die nicht in ihren Herkunftsstaat zurückkehren können, sondern unterschiedslos auch die Personen, die sich nur vorübergehend in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten (a.a.O. Rn. 94). Auch nach der bereits zitierten Kammerrechtsprechung ist aus verfassungsrechtlichen Gründen selbst bei ausreisepflichtigen Personen der konkrete Bedarf bis zur Ausreise „stets“ zu decken (BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2021 – 1 BvR 2682/17 –, juris, Rn. 22 und 23). Nach alledem kann das Nachrangprinzip den Gegenwärtigkeitsgrundsatz nicht in der Weise begrenzen, dass eine hilfebedürftige Person auf Existenzsicherungsleistungen des Herkunftsstaates verwiesen wird, obwohl während des hiesigen Aufenthalts ein entsprechender Anspruch mangels Anwendbarkeit des Sozialrechts des Herkunftsstaates (hier: Art. 70 Abs. 4 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit) bzw. wegen einer fehlenden Leistungsexportpflicht gar nicht besteht.
b) Ein vollständiger Leistungsausschluss aus allen drei Leistungssystemen in der Situation der Antragstellerin wäre jedenfalls bis zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens der freizügigkeitsrechtlichen Verlustfeststellung auch mit Unionsgrundrechten unvereinbar. Hält sich ein Unionsbürger nach innerstaatlichem Recht rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats auf, ohne sich auf Gleichbehandlung nach Art. 24 der Unionsbürger- oder Freizügigkeitsrichtlinie (RL 2004/38/EG) berufen zu können, haben sich die zuständigen nationalen Behörden bei der Entscheidung über die Gewährung von Sozialhilfe zu vergewissern, dass eine Ablehnung die Person nicht einem konkreten und gegenwärtigen Risiko der Verletzung ihrer Grundrechte, wie sie in den Artikeln 1, 7 und 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) verbürgt sind, aussetzt (EuGH, Urteil vom 15. Juli 2021 – Rs. C-709/20 – The Department for Communities in Northern Ireland, Tenor und Rn. 84 ff.). Die genannten Unionsgrundrechte (hier: der Schutz würdiger Existenzbedingungen nach Art. 1 GRCh) sind nach Art. 51 Abs. 1 GRCh auch dann anzuwenden, wenn materiell-rechtlich die Bedingungen der RL 2004/38/EG nicht mehr erfüllt werden, sondern allein nach günstigerem innerstaatlichem Recht von einer Rechtmäßigkeit des Aufenthalts auszugehen ist (EuGH a.a.O., Rn. 84, 87 f.). Die nach vorherrschender Ansicht allein durch das Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) vermittelte Rechtsstellung einer Freizügigkeits- oder Rechtmäßigkeitsvermutung (Bergmann/Dienelt/ders., Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 7 Rn. 13; Hasse in: von Harbou/Weizsäcker, Einwanderungsrecht, 2. Aufl. 2020, Kap. F Rn. 16; beide m.w.N.) bis zum Wirksamwerden der Verlustfeststellung (vgl. § 7 Abs. 1 FreizügG/EU) wird hiervon erfasst, denn das nationale Recht vermittelt bis zum Abschluss der Prüfung des Freizügigkeitssachverhalts rechtmäßigen Aufenthalt (Bergmann/Dienelt/ders. a.a.O. Rn. 13) und nicht lediglich Abschiebungsschutz o.ä.
c) Zur methodischen Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung der Vorschrift verweist der Senat auf die Ausführungen im rechtskräftigen Urteil vom 1. Juli 2020 – L 4 SO 120/18 – juris, Rn. 73. Der Senat hatte noch keinen Anlass, die methodischen Grenzen weiter zu konkretisieren. Den Ausführungen unter 1. kann daher nicht die Aussage entnommen werden, dass die dort aufgestellten Rechtssätze in jedem denkbaren Extremfall auch ohne Vorlage an das Bundesverfassungsgericht oder den Gerichtshof der Europäischen Union Geltung beanspruchen.
3. Mag zum Zeitpunkt der Beschwerdeeinlegung noch ungewiss gewesen sein, ob sich die Verlustfeststellung durch ein neu entstehendes Freizügigkeitsrecht erledigt, oder ob der Verein S. e.V. den Bedarf zukunftsoffen und umfassend darlehensweise deckt, so ist der Senat auf der Grundlage der eidesstattlichen Versicherung vom 14. Oktober 2022 (Bl. 44 f. d.A.) nicht in hinreichender Weise von einem Anordnungsgrund überzeugt.
Einem Anordnungsgrund steht stets entgegen, wenn der Antragsteller gegenwärtig auf eigene Mittel oder zumutbare Hilfe Dritter, auch in Gestalt eines Darlehens, zurückgreifen kann (Burkiczak in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 86b SGG <Stand: 24. Oktober 2022>, Rn. 417 f. m.w.N.). Die Berücksichtigung solcher Mittel Dritter im Rahmen der Prüfung, ob eine vorläufige Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile im Einzelfall notwendig ist, ist auch verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. Juli 2016 – 1 BvR 1241/16 –, juris Rn. 7 und 11 f.).
Die Antragstellerin hat im Beschwerdeverfahren ihre Bedarfe von August bis Mitte Oktober 2022 mit einer Zuordnung zu den einzelnen Monaten konkret beziffert und abschließend geschrieben: „Der Verein S. e.V. hat mir darlehensweise Notgeld gegeben und die Kosten meiner Unterkunft bezahlt.“ Diese Angabe kann nur dahingehend verstanden werden, dass nicht nur die Unterkunft, sondern auch die übrigen bezifferten Bedarfe von dem „Notgeld“ gedeckt werden konnten. Umgekehrt hat die Antragstellerin nicht glaubhaft gemacht, dass und welche einzelnen Bedarfe ungedeckt geblieben sind und welche vom „Notgeld“ gedeckt wurden. Zudem endete der streitgegenständliche Zeitraum mit Ablauf des 23. Oktober 2022, so dass nicht allein wegen einer Ungewissheit, dass die Darlehensgewährung nicht zukunftsoffen erfolgt, ein Anordnungsgrund (teilweise) bejaht werden kann.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG. Dabei war zu berücksichtigen, dass die Entscheidung des Sozialgerichts ursprünglich zur Beschwerdeeinlegung Anlass gegeben hat.
5. Aus den vorgenannten Gründen war auch Prozesskostenhilfe für den Beschwerderechtszug zu gewähren (§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 114 S. 1 Zivilprozessordnung).
Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG nicht mit der Beschwerde anfechtbar.