1. Die Voraussetzung der "erkennungsdienstlichen Behandlung" in § 74 Abs. 1 und Abs. 2 SGB II ist ein anspruchsbegründendes Tatbestandsmerkmal, nicht nur eine Ordnungsvorschrift.
2. Eine nicht erkennungsdienstlich behandelte Person, die sich zunächst nach § 2 Abs. 1 UkraineAufenthÜV und danach nach § 81 Abs. 3 AufenthG rechtmäßig in der Bundesrepublik Deutschland aufhält, aber anfänglich mangels Antrag auf einen Aufenthaltstitel und danach wegen eines die Erwerbstätigkeit ausdrücklich nicht gestattenden Vermerks in der Fiktionsbescheinigung nicht die Voraussetzungen des § 8 Abs. 2 SGB II erfüllt, hat nach drei Monaten des Aufenthalts einen Anspruch auf Leistungen der Sozialhilfe auf der Grundlage von § 23 Abs. 1 SGB XII.
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 29. Juli 2022 wird zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin hat den Antragstellern auch die außergerichtlichen Kosten der Beschwerde zu erstatten.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten im Wesentlichen um den zuständigen Träger für die Gewährung existenzsichernder Leistungen an die Antragsteller.
Die 1997 geborene Antragstellerin zu 1) ist eine simbabwische Staatsangehörige. Der am 2022 geborene Antragsteller zu 2) ist das Kind der Antragstellerin zu 1). Die Antragstellerin zu 1) übt das Sorgerecht allein aus. Die Antragstellerin zu 1) reiste aufgrund eines Visums vom 31. August 2018 in die Ukraine ein und hielt sich nach ihren unwidersprochen gebliebenen Angaben in den letzten Jahren als Studentin in der Ukraine auf. Sie ist im Besitz einer am 11. Dezember 2018 ausgestellten, bis 31. August 2022 gültigen Aufenthaltserlaubnis für die Ukraine.
Die Antragstellerin zu 1) reiste nach unwidersprochen gebliebenem Vortrag kurz nach Kriegsbeginn aus der Ukraine aus und am 4. März 2022 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Seit dem 7. März 2022 hält sie sich in A-Stadt auf. Die Sicherung des Lebensunterhalts erfolgte zunächst durch Spenden. Ein Kontoauszug einer ukrainischen Bank vom 20. Juni 2022 weist einen Saldo von 17.212,31 Hrywnja (zum Zeitpunkt der Entscheidung ca. 471,70 €) aus.
Am 14. April 2022 erfolgte eine Vorsprache bei einem Sozialamt der Antragsgegnerin. Dort wurde der Antragstellerin zu 1) mitgeteilt, sie solle in D-Stadt einen Asylantrag stellen. Die Antragsgegnerin bot Hilfe in Gestalt der Fahrtkosten zur Auslandsvertretung nach Berlin an. Am 3. Juni 2022 wurde ein Antrag auf Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) bei der Antragsgegnerin gestellt. Einen Asylantrag stellte die Antragstellerin zu 1) nicht.
Der Eingang eines Antrages auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) wurde von der Ausländerbehörde am 12. August 2022 bestätigt; die Fiktionsbescheinigung der Antragstellerin zu 1) datiert vom 12. August 2022. In der Fiktionsbescheinigung ist vermerkt: „Erwerbstätigkeit nicht erlaubt.“
Eine erkennungsdienstliche Behandlung der Antragsteller erfolgte nicht.
Am 21. Juni 2022 haben die Antragsteller beantragt, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den Antragstellern vorläufig ab Antragstellung Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII), hilfsweise nach dem AsylbLG, in gesetzlich vorgesehenem Umfang zu gewähren.
Die Bevollmächtigte der Antragsteller hat gegenüber dem Sozialgericht vorgetragen, der Aufenthalt gelte nach § 2 Ukraine-Aufenthalts-Übergangsverordnung als rechtmäßig bis 31. August 2022. Die Antragstellerin zu 1) werde rechtzeitig eine Aufenthaltserlaubnis beantragen. Es bestehe keine Notwendigkeit, einen Asylantrag zu stellen. Die Beschränkung der Leistungen auf Fahrtkosten sei rechtswidrig.
Die Antragsgegnerin hat vorgetragen, am 14. April 2022 sei der Antragstellerin zu 1) nach § 23 Abs. 1 SGB XII nur eingeschränkte Hilfe in Gestalt der Fahrtkosten zur Auslandsvertretung nach Berlin angeboten worden. Die Antragstellerin zu 1) werde voraussichtlich keinen vorübergehenden Schutz nach § 24 AufenthG erhalten.
Das Sozialgericht hat die Antragsgegnerin mit Beschluss vom 29. Juli 2022, der Antragsgegnerin zugestellt am 3. August 2022, verpflichtet, den Antragstellern vom 21. Juni 2022 bis zum 31. August 2022 – längstens jedoch bis zu einer bestandskräftigen Entscheidung über einen Antrag nach dem SGB XII – existenzsichernde Leistungen in gesetzlicher Höhe zu gewähren. Die Entscheidung ist aufgrund einer Folgenabwägung erfolgt. Die Antragsteller hielten sich rechtmäßig in Deutschland auf. Der Nachteil einer fehlenden Deckung des Lebensunterhalts überwiege den Nachteil der Antragsgegnerin, möglicherweise als unzuständige Behörde Leistungen zu erbringen.
Hiergegen hat die Antragsgegnerin am 31. August 2022 Beschwerde erhoben.
Die Antragsgegnerin trägt vor, aufgrund des rechtmäßigen Aufenthalts unterfalle die Antragstellerin zu 1) dem Leistungssystem des Zweiten Buches des Sozialgesetzbuches – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II). Die Antragstellerin sei erwerbsfähig, da sie die rechtliche Möglichkeit habe, eine Arbeitserlaubnis zu erhalten. Sie sei auch bereits mehr als drei Monate in der Bundesrepublik Deutschland. Die Zuständigkeit des Beigeladenen sei gegeben.
Die Antragsgegnerin beantragt sinngemäß,
den Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 29. Juli 2022 aufzuheben und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zurückzuweisen.
Die Antragsteller beantragen,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Sie tragen vor, nach der Fiktionsbescheinigung sei die Erwerbstätigkeit nicht erlaubt. Die Ausländerbehörde habe der Antragstellerin zu 1) mitgeteilt, dass die Erwerbstätigkeit in der Fiktionsbescheinigung nicht erlaubt werden könne, da dies nur vorgesehen sei, wenn die Voraussetzungen zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 24 AufenthG vorlägen. Zwar sähen die Umsetzungshinweise des Bundesministeriums des Innern und für Heimat vom 14. März 2022 die Möglichkeit vor, gemäß § 81 Abs. 5a AufenthG analog eine Fiktionsbescheinigung mit dem Vermerk „Erwerbstätigkeit erlaubt“ zu versehen. Diese Umsetzungshinweise dürften allerdings nicht ausreichen, um von einer abstrakt-generellen Möglichkeit im Sinne von § 8 SGB II auszugehen.
Ein Leistungsanspruch nach § 74 SGB II komme frühestens ab dem 12. August 2022 in Betracht. Die Antragstellerin zu 1) sei nicht erkennungsdienstlich behandelt worden. Nach den fachlichen Weisungen der Bundesagentur vom 23. Mai 2022 sei indes bei Vorlage einer Fiktionsbescheinigung eine erkennungsdienstliche Behandlung ohne nähere Prüfung zu unterstellen, weil das Dokument nur nach erkennungsdienstlicher Behandlung ausgestellt werden dürfe.
Das beigeladene Jobcenter hat sich nicht geäußert.
Der Vorsitzende des Senats hat einen Antrag der Antragsgegnerin nach § 199 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) mit Beschluss vom 12. September 2022 zurückgewiesen. Mit Beschluss vom 15. September 2022 ist die Beiladung des Jobcenters erfolgt. Der Senat hat den Antragstellern mit Beschluss vom 20. Oktober 2022 Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihrer Bevollmächtigten für das Beschwerdeverfahren bewilligt.
II.
Die Beschwerde ist zulässig, aber unbegründet.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 und 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist damit, dass der Antragsteller einen materiell-rechtlichen Leistungsanspruch in der Hauptsache hat (Anordnungsanspruch) und es ihm nicht zuzumuten ist, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten (Anordnungsgrund). Nach § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) sind der Anordnungsanspruch und der Anordnungsgrund glaubhaft zu machen.
Diese Anforderungen sind im Lichte der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) zu konkretisieren (zum Folgenden: BVerfG, Beschluss vom 6. August 2014 – 1 BvR 1453/12 –, juris, Rn. 10 m.w.N.). Je gewichtiger die drohende Grundrechtsverletzung und je höher ihre Eintrittswahrscheinlichkeit ist, desto intensiver hat die tatsächliche und rechtliche Durchdringung der Sache bereits im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu erfolgen. Ist eine der drohenden Grundrechtsverletzung entsprechende Klärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich – etwa weil es dafür weiterer, in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nicht zu verwirklichender tatsächlicher Aufklärungsmaßnahmen bedürfte –, ist es von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, wenn die Entscheidung über die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes dann auf der Grundlage einer Folgenabwägung erfolgt. Übernimmt das einstweilige Rechtsschutzverfahren allerdings vollständig die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens und droht eine endgültige Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung der Beteiligten, müssen die Gerichte bei den Anforderungen an die Glaubhaftmachung zur Begründung von Leistungen zur Existenzsicherung in den Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes der Bedeutung des Grundrechts aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG Rechnung tragen. Die Anforderungen an die Glaubhaftmachung haben sich am Rechtsschutzziel zu orientieren, das mit dem jeweiligen Rechtsschutzbegehren verfolgt wird.
Gemessen an diesem Maßstab ist der Senat hinreichend vom Vorliegen eines Anordnungsanspruchs der Antragsteller überzeugt.
Im streitgegenständlichen Zeitraum ab 21. Juni 2022 sind die Antragsteller nicht nach § 23 Abs. 2 SGB XII von Leistungen wegen einer Leistungsberechtigung nach dem AsylbLG ausgeschlossen.
Hier gilt bereits die zum 31. Mai 2022 in Kraft getretene Änderung des § 1 AsylbLG durch Art. 4 Gesetz zur Regelung eines Sofortzuschlages und einer Einmalzahlung in den sozialen Mindestsicherungssystemen sowie zur Änderung des Finanzausgleichsgesetzes und weiterer Gesetze. Aufgrund der Änderung des § 1 Abs. 1 Nr. 3 AsylbLG und der Anfügung des § 1 Abs. 1 Nr. 8 AsylbLG sind aus dem Personenkreis der aus der Ukraine geflüchteten Menschen nur noch diejenigen nach dem AsylbLG leistungsberechtigt, die eine Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes besitzen, die ihnen nach dem 24. Februar 2022 und vor dem 1. Juni 2022 erteilt wurde, oder eine entsprechende Fiktionsbescheinigung nach § 81 Absatz 5 in Verbindung mit Absatz 3 oder Absatz 4 des Aufenthaltsgesetzes besitzen, die nach dem 24. Februar 2022 und vor dem 1. Juni 2022 ausgestellt wurde, und bei denen weder eine erkennungsdienstliche Behandlung nach § 49 des Aufenthaltsgesetzes oder nach § 16 des Asylgesetzes durchgeführt worden ist, noch deren Daten nach § 3 Absatz 1 des AZR-Gesetzes gespeichert wurden; das Erfordernis einer erkennungsdienstlichen Behandlung gilt nicht, soweit eine erkennungsdienstliche Behandlung nach § 49 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorgesehen ist.
Hierunter fallen die Antragsteller nicht, weil der Eingang des Antrages auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erst am 12. August 2022 bestätigt wurde und die Fiktionsbescheinigung der Antragstellerin zu 1) vom 12. August 2022 datiert. Die fehlende erkennungsdienstliche Behandlung ist nur ein weiteres einschränkendes Tatbestandsmerkmal.
Es gibt keinen Grund, zu einem vom klaren Wortlaut des § 1 Abs. 1 Nr. 8 AsylbLG und der mit § 74 Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) korrespondierenden Gesetzessystematik abweichenden Ergebnis zu gelangen (siehe auch unten zu § 74 SGB II).
Die Antragsteller haben trotz ausdrücklicher Aufforderung kein Asylgesuch geäußert, so dass sie nicht nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 1a leistungsberechtigt sind.
Die Kontaktaufnahme zu einer deutschen Behörde, mit dem Wunsch im Bundesgebiet aufgenommen zu werden, also ein von der förmlichen, das Verwaltungsverfahren einleitenden Antragstellung nach § 24 AufenthG zu unterscheidendes Aufnahmegesuch (vgl. auch die Zustimmung nach Art. 25 Abs. 2 Richtlinie 2001/55/EG), führt auch nicht zur analogen Anwendung von § 1 Abs. 1 Nr. 1a AsylbLG (so aber SG Frankfurt am Main, Beschluss vom 29. September 2022 – S 30 SO 87/22 ER –; unter Bezugnahme auf Frerichs in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 1 AsylbLG (Stand: 30. August 2022), Rn. 89.1 m.w.N.). Angesichts der jüngst angestellten, differenzierten Überlegungen des Gesetzgebers zur Verteilung der von § 24 AufenthG (potentiell) erfassten Personen auf die Leistungssysteme des AsylbLG und des SGB II sowie der bewusst weit gefassten Regelung der Verordnung zur vorübergehenden Befreiung vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels von anlässlich des Krieges in der Ukraine eingereisten Personen (UkraineAufenthÜV, BAnz AT 8. März 2022 V1, dazu unten) bleibt für eine Analogie kein Raum. Eine Analogie widerspräche auch der Systematik der existenzsichernden Leistungssysteme zueinander, wonach es drei spezielle Leistungssysteme (AsylbLG, SGB II, SGB XII Viertes Kapitel) und ein allgemeines Leistungssystem (SGB XII Drittes Kapitel) gibt. Wie noch zu zeigen sein wird, handelt es sich im Fall einer Person mit rechtmäßigem Aufenthalts ohne Möglichkeit der Arbeitsaufnahme um einen typischen Fall der Auffangfunktion des Dritten Kapitels des SGB XII; es gibt jedenfalls nach drei Monaten des Aufenthalts (§ 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB XII) keine Lücke.
Die Antragsteller hielten sich im streitgegenständlichen Zeitraum nach § 2 UkraineAufenthÜV und nach § 81 Abs. 3 AufenthG lückenlos rechtmäßig in der Bundesrepublik Deutschland auf, so dass sie auch nicht § 1 Abs. 1 Nr. 4 und Nr. 5 AsylbLG unterfallen.
Auf der Grundlage von § 99 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. Abs. 1 AufenthG wurde am 7. März 2022 die UkraineAufenthÜV zunächst als Ministerialverordnung erlassen und hinsichtlich der Geltungsdauer bis 31. August 2022 befristet, nunmehr bis 28. Februar 2023 befristet (Art. 1 Zweite ÄndVO vom 24. August 2022, BAnz AT 26. August 2022 V1). Rückwirkend ab dem 24. Februar 2022 wurden bestimmte Gruppen von Geflüchteten aus der Ukraine vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels befreit und geregelt, dass diese Personen Aufenthaltstitel für längerfristige Aufenthalte direkt im Bundesgebiet einholen können. Vom Erfordernis des Aufenthaltstitels befreit waren nach der Ursprungsfassung des § 2 Abs. 1 UkraineAufenthÜV Ausländer, die sich am 24. Februar 2022 in der Ukraine aufgehalten haben und die bis zum Außerkrafttreten dieser Verordnung in das Bundesgebiet eingereist sind, ohne den für einen langfristigen Aufenthalt im Bundesgebiet erforderlichen Aufenthaltstitel zu besitzen. Seit 1. September 2022 ist die Befreiung auf 90 Tage befristet. Nach § 3 UkraineAufenthÜV kann der erforderliche Aufenthaltstitel im Bundesgebiet eingeholt werden; die Befreiung nach § 2 steht der Erteilung nicht entgegen. Bezüglich des erfassten Personenkreises geht der Wortlaut des § 2 UkraineAufenthÜV über den von § 24 AufenthG i.V.m. Art. 2 des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 des Rates vom 4. März 2022 zur Feststellung des Bestehens eines Massenzustroms von Vertriebenen aus der Ukraine im Sinne des Artikels 5 der Richtlinie 2001/55/EG und zur Einführung eines vorübergehenden Schutzes hinaus. Dies rechtfertigt aber keine einschränkende Auslegung, etwa im Hinblick auf die Erfolgsaussichten für den Erhalt eines Aufenthaltstitels nach § 24 AufenthG (i. Erg. auch VG Aachen, Beschluss vom 26. August 2022 – 8 L 527/22 – BeckRS 2022, 21780 Rn. 17). Zudem erweiterte die Bundesrepublik Deutschland in unionsrechtskonformer Weise über Art. 2 Abs. 3 des Durchführungsbeschlusses 2022/382 den erfassten Personenkreis (vgl. Anwendungshinweise des BMI vom 14. März 2022, M3-21000/33#6, https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/down-loads/DE/veroeffentlichungen/themen/ukraine/beschluss-4-maerz-2022-ukraine.pdf?__ blob=publicationFile&v=1).
Hiernach unterfällt die Antragstellerin bis zur Stellung eines Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels § 2 Abs. 1 UkraineAufenthÜV in der Ursprungsfassung. Der Senat geht mit einer für das Eilverfahren hinreichenden Gewissheit davon aus, dass sich die Antragstellerin am 24. Februar 2022 in der Ukraine aufgehalten hat. Für das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist insoweit hinreichend, dass aufgrund der im Verwaltungsverfahren vorgelegten Dokumente von einer Einreise in die Ukraine 2018 und aufgrund der später ausgestellten, bis 31. August 2022 ausgestellten, ukrainischen Aufenthaltserlaubnis von einem fortgesetzten Aufenthalt der Antragstellerin zu 1) in der Ukraine auszugehen ist und Indizien für einen anderweitigen Aufenthalt nicht ersichtlich sind. Der vorgelegte Kontoauszug weist zwischen dem 9. Februar 2022 und dem 22. Februar 2022 Umsätze mit Personen oder Unternehmen aus Kyjiw aus. Auch führte das aufenthaltsrechtliche Verwaltungsverfahren zur Ausstellung einer Fiktionsbescheinigung, was eine vorherige Prüfung des rechtmäßigen Aufenthalts ohne Aufenthaltstitel voraussetzte.
Seit 12. August 2022 gilt ihr Aufenthalt nach § 81 Abs. 3 AufenthG als rechtmäßig. Beantragt ein Ausländer, der sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, ohne einen Aufenthaltstitel zu besitzen, die Erteilung eines Aufenthaltstitels, so gilt nach der vorgenannten Vorschrift sein Aufenthalt bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde als erlaubt. Die Antragstellerin zu 1) hat (spätestens) am 12. August 2022 einen solchen Antrag aus einem rechtmäßigen Aufenthalt ohne Aufenthaltstitel heraus (s.o.) gestellt. Die Antragstellung erfolgte vor der am 1. September 2022 in Kraft getretenen Befristung der Befreiung vom Aufenthaltstitel auf 90 Tage.
Aufgrund der vorgenannten Rechtsstellung der Antragstellerin zu 1) galt der Aufenthalt des Antragstellers zu 2) zunächst nach § 33 Satz 3 AufenthG als erlaubt. Hiernach gilt der Aufenthalt eines im Bundesgebiet geborenen Kindes, dessen Mutter oder Vater zum Zeitpunkt der Geburt im Besitz eines Visums ist oder sich visumfrei aufhalten darf, bis zum Ablauf des Visums oder des rechtmäßigen visumfreien Aufenthalts als erlaubt. Für den anschließenden Zeitraum profitiert auch der Antragsteller zu 2) von der Fiktionswirkung seiner Antragstellung nach § 81 Abs. 3 AufenthG. Die Fiktionswirkung greift ipso iure, insofern ist unbeachtlich, dass ihm eine Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 5 AufenthG noch nicht ausgestellt werden konnte, da er noch keine simbabwischen Ausweispapiere hat.
Auch Leistungen nach dem SGB II können nicht vorrangig beansprucht werden (§ 21 Abs. 1 Satz 1 SGB XII). Die Voraussetzungen des § 74 SGB II, der nach § 74 Abs. 1 Satz 2 SGB II einen Leistungsbezug auch jenseits der Voraussetzungen des § 8 SGB II ermöglicht, sind für den Zeitraum ab 12. August 2022 nicht erfüllt. Abweichend von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nummer 1 und 2 erhalten nach § 74 Abs. 1 Satz 1 SGB II Leistungen nach diesem Buch auch Personen, die gemäß § 49 des Aufenthaltsgesetzes erkennungsdienstlich behandelt worden sind, eine Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes beantragt haben und denen eine entsprechende Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 5 in Verbindung mit Abs. 3 des Aufenthaltsgesetzes ausgestellt worden ist. Die erkennungsdienstliche Behandlung ist nicht lediglich eine Ordnungsvorschrift, sondern vielmehr materiell-rechtliche Tatbestandsvoraussetzung; die Vorschrift zielt auf die bundeseinheitliche Anwendung des Aufenthaltsrechts (vgl. Wunder in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 74 1. Überarbeitung (Stand: 29.06.2022), § 74 Rn. 17). Die Eigenschaft als Tatbestandsvoraussetzung folgt auch aus den Gesetzgebungsmaterialien, im Rahmen der Ausschussanhörung wurde dieses Erfordernis als Anspruchsvoraussetzung verstanden und als solches wiederholt kritisiert (vgl. Ausschussdrucksache 20(11)71, S. 32, 40, 52). Der Gesetzgeber hat aber daran festgehalten und in Abs. 3 und Abs. 4 lediglich Ausnahmevorschriften vorgesehen. Die Regelung korrespondiert in konsequenter Weise mit § 1 Abs. 1 Nr. 8 AsylbLG und der dort grundsätzlich anspruchseröffnenden fehlenden erkennungsdienstlichen Behandlung, freilich mit anderen Anwendungszeiträumen. Der Senat sieht weder Anlass noch Möglichkeit, im Wege von Auslegung oder richterlicher Rechtsfortbildung diese Systementscheidungen zu korrigieren, auch wenn dies zur Folge hat, dass ein rechtswidriges Verwaltungshandeln oder eine Überforderung der Migrationsverwaltung zur Anspruchsvernichtung führt. Dann sind indes Leistungen nach dem Dritten Kapitel des SGB XII zu gewähren (siehe auch unten), was insbesondere bei Personen, bei denen eine Integration in den hiesigen Arbeitsmarkt sich nicht sofort aufdrängt, hinnehmbar erscheint.
Hier fehlt es an einer erkennungsdienstlichen Behandlung vor der Erteilung der Fiktionsbescheinigung. Die Ausnahmevorschriften des § 74 Abs. 3 und 4 SGB II sind offensichtlich nicht erfüllt.
Im Übrigen scheitert ein Anspruch nach dem SGB II an § 8 Abs. 2 SGB II. Hiernach können Ausländerinnen und Ausländer nur erwerbstätig sein, wenn ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt ist oder erlaubt werden könnte. Die rechtliche Möglichkeit, eine Beschäftigung vorbehaltlich einer Zustimmung nach § 39 des Aufenthaltsgesetzes aufzunehmen, ist ausreichend (§ 8 Abs. 2 Satz 2 SGB II).
Für den Zeitraum vor dem 12. August 2022 sind die Voraussetzungen nicht erfüllt, da noch gar kein Titel beantragt wurde, zu dem eine Arbeitserlaubnis beantragt werden kann. Für den Zeitraum danach reicht die Fiktionswirkung der Antragstellung auf einen Titel gemäß § 24 AufenthG nach § 81 Abs. 3 AufenthG nicht aus, um von einer rechtlichen Möglichkeit der Erlaubniserteilung i.S.d. § 8 Abs. 2 SGB II ausgehen zu können. Die Regelung des § 8 Abs. 2 Satz 2 SGB II zielt vorrangig darauf ab, das Zustimmungsverfahren nach § 39 AufenthG nicht abwarten zu müssen. Zudem dürfte § 8 Abs. 2 Satz 2 SGB II nur eine Aussage für Aufenthaltstitel zur Ausübung einer Beschäftigung treffen (so Blüggel, in: Eicher/Luik/Harich, SGB II, 5. Aufl. 2021, § 8 Rn. 84), nicht aber für andere Aufenthaltstitel, bei denen mit der Erteilung des Titels die Arbeitsaufnahme auch untersagt werden kann. Bei einer Fiktionsbescheinigung in Bezug auf einen solchen Titel – wie eben § 24 AufenthG – besteht die Erwerbsfähigkeit nach § 8 SGB II nur, wenn die Arbeitsaufnahme bereits in der Fiktionsbescheinigung gestattet ist (vgl. Hauck/Noftz/Valgolio § 8 SGB II Rn. 94; Hessisches LSG, Beschluss vom 6. September 2011 – L 7 AS 334/11 B ER – juris Rn. 34 f; zur alten Fassung des § 8 SGB II LSG Hamburg, Urteil vom 24. Juni 2010 – L 5 AS 67/07 – juris Rn. 22 f.). Hier kommt der Negativentscheidung in der Fiktionsbescheinigung Tatbestandswirkung zu (zur Tatbestandswirkung im Rahmen der Fiktionsbescheinigung Hauck/Noftz/Valgolio a.a.O.; vgl. auch allgemein BSG, Urteil vom 2. Dezember 2014 – B 14 AS 8/13 R).
Der Leistungsanspruch richtet sich mithin nach § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII: Ausländern, die sich im Inland tatsächlich aufhalten, ist Hilfe zum Lebensunterhalt, Hilfe bei Krankheit, Hilfe bei Schwangerschaft und Mutterschaft sowie Hilfe zur Pflege nach diesem Buch zu leisten.
Leistungsbeschränkungen oder Ausschlüsse nach § 23 SGB Abs. 3 XII sind nicht ersichtlich; insbesondere hielt sich die Antragstellerin zu 1) zu Beginn des streitgegenständlichen Zeitraums schon länger als drei Monate in der Bundesrepublik Deutschland auf. Es handelt sich um eine gebundene Entscheidung. Überlegungen zur Frage der Verfestigung des Aufenthalts oder zur Reduzierung des Anspruches auf Leistungen für Fahrtkosten haben bei Leistungen zur Hilfe zum Lebensunterhalt nach Satz 1 keinen Platz, sondern könnten allenfalls nach den hier systematisch nicht einschlägigen Sätzen 3 und 4 des § 23 Abs. 1 SGB XII Berücksichtigung finden.
Ein Bedarf besteht hinsichtlich der Hilfen zum Lebensunterhalt einschließlich Kosten der Unterkunft und Heizung ohne Anrechnung von Einkommen und Vermögen. Das mit Kontoauszug vom 20. Juni 2022 glaubhaft gemachte Vermögen unterschreitet den Freibetrag des § 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII; wegen der unvollständig vorliegenden Verwaltungsakte nimmt der Senat im Übrigen hinsichtlich der Glaubhaftmachung Bezug auf die im Prozesskostenhilfeprüfungsverfahren vorgelegten Unterlagen. Einer weiteren Konkretisierung oder Überprüfung des Anspruchs bedarf es im Beschwerdeverfahren nicht, da das Sozialgericht die Antragsgegnerin nur zur Leistung dem Grunde nach verpflichtet hat.
Aufgrund der vorgenannten Erwägungen und des Umstandes, dass die Antragsgegnerin den Antragstellern vollständig Leistungen verweigert und auch keine vorläufige Einstandspflicht gesehen hat (§ 43 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch – Allgemeiner Teil), besteht auch ein Anordnungsgrund.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG nicht mit der Beschwerde anfechtbar.