1. Mangels normativer definitorischer Vorgaben kommt dem Begriff des akuten Nierenversagens in ICD-10-GM (2014) N17.- der Sinngehalt zu, der ihm 2014 im wissenschaftlich-medizinischen Sprachgebrauch beigemessen wurde, der bereits damals von den KDIGO-Leitlinien geprägt war.
2. Ein akutes Nierenversagen im Sinne von ICD-10-GM (2014) N17.- lag nach dem medizinisch-wissenschaftlichen Sprachgebrauch im Jahr 2014 vor, wenn eines der Kriterien der KDIGO-Leitlinien erfüllt war, und nicht erst mit Erreichen des Schweregrads 3 nach den KDIGO-Leitlinien, obwohl erst dieser Schweregrad dem RIFLE-Stadium "Failure" entspricht.
- Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 8. Oktober 2019 wird zurückgewiesen.
- Die Beklagte trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens.
- Die Revision wird nicht zugelassen.
- Der Streitwert wird auf 1.335,39 € festgesetzt.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Vergütung einer stationären Krankenhausbehandlung, insbesondere über die Kodierung der Nebendiagnose ICD-10-GM (2014) N17.9 (akutes Nierenversagen, nicht näher bezeichnet).
Die Klägerin bzw. ihre Rechtsvorgängerin (im Folgenden einheitlich: Klägerin) betreibt ein nach § 108 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) zugelassenes Krankenhaus in A...., in dem die 1932 geborene und bei der Beklagten gesetzlich krankenversicherte Y.... (im Folgenden: Versicherte) vom 13.06.2014 bis 16.06.2014 stationär behandelt wurde. Die Krankenhausaufnahme erfolgte aufgrund Exsikkose bei Verweigerung der Nahrungsaufnahme und fortschreitendem demenziellen Syndrom. Während des Krankenhausaufenthalts erfolgte eine Infusionstherapie mit Vollelektrolytlösung. Mit pflegerischer Unterstützung konnte eine gute orale Nahrungsaufnahme erreicht werden.
Für diese stationäre Krankenhausbehandlung stellte die Klägerin der Beklagten unter dem 15.07.2014 auf der Grundlage der Fallpauschale (Diagnosis Related Group [DRG]) K62A (Verschiedene Stoffwechselerkrankungen bei Para-/Tetraplegie oder mit komplizierender Diagnose oder endoskopischer Einlage eines Magenballons oder äußerst schweren CC) 3.257,42 € in Rechnung. Zu dieser DRG gelangte die Beklagte u.a. durch Kodierung der hier streitigen Nebendiagnose N17.9.
Die Beklagte beglich die Rechnung zunächst vollständig, leitete jedoch sodann ein Prüfverfahren des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) ein. Dieser beanstandete im Gutachten vom 05.12.2014 die kodierten Haupt- und Nebendiagnosen. Als Hauptdiagnose sei E86 (Volumenmangel) zu kodieren, nicht R63.3 (Ernährungsprobleme und unsachgemäße Ernährung). Ein akutes Nierenversagen entsprechend RIFLE-Stadium Failure sei nicht belegt, sodass auch die Kodierung der Nebendiagnose N17.9 unzutreffend sei. Die Beklagte unterrichtete die Klägerin mit Schreiben vom 10.12.2014 hiervon, teilte ihr die sich daraus ergebende DRG K62B (Verschiedene Stoffwechselerkrankungen außer bei Para-/Tetraplegie, ohne komplizierende Diagnose, ohne endoskopische Einlage eines Magenballons, ohne äußerst schwere CC) mit und bat um entsprechende Rechnungskorrektur.
Dem widersprach die Beklagte sowohl hinsichtlich der Haupt- wie auch der Nebendiagnose, bei letzterer unter Verweis auf die mittels Infusionstherapie erreichte Senkung des Kreatininspiegels von 254 µmol/l auf 130µmol/lHaHauH.
Der daraufhin nochmals befasste MDK schätzte im Gutachten vom 23.07.2017 ein, dass als Hauptdiagnose R63.6 (Ungenügende Aufnahme von Nahrung und Flüssigkeit infolge Vernachlässigung der eigenen Person) in Ansatz zu bringen sei. Hinsichtlich der Nebendiagnose N17.9 ergäben sich jedoch keine neuen Aspekte. Der von der KDIGO-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Nephrologie (DGfN) geforderte Anstieg des Serumkreatinins sei nicht nachvollziehbar dokumentiert. Es sei lediglich ein Abfall des Kreatinins ersichtlich. Die Beklagte unterrichtete die Klägerin mit Schreiben vom 28.07.2017 davon, dass nach dem Widerspruchsgutachten weiterhin nur die DRG K62B gerechtfertigt sei, und verrechnete deswegen am 22.09.2017 einen Betrag von 1.335,39 € mit unstreitigen Vergütungsforderungen der Klägerin.
Am 23.01.2018 hat die Klägerin Klage auf Zahlung des Aufrechnungsbetrages vor dem Sozialgericht (SG) Chemnitz erhoben. Die Voraussetzungen der Nebendiagnose N17.9 lägen vor. Die Kodierung stütze sich auf die Vergleichswerte aus den Voraufenthalten. Am 08.06.2014 – und damit eine Woche vor dem streitigen Krankenhausaufenthalt – sei bei der Versicherten ein Kreatininwert von 102 µmol/l dokumentiert worden, am 13.06.2014 einer von 254 µmol/l. Dies entspreche einem Anstieg von > 100% innerhalb von sieben Tagen und somit einem akuten Nierenversagen laut KDIGO. Entgegen der Auffassung der Beklagten liege ein akutes Nierenversagen nicht erst dann vor, wenn die Voraussetzung eines RIFLE-Stadiums 3 erfüllt seien.
Das SG hat Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens bei dem Facharzt für Innere Medizin/Nephrologie Prof. Dr. X..... Dieser hat in seinem Gutachten vom 01.04.2019 unter Berücksichtigung der dokumentierten Kreatinin- und Urinwerte eingeschätzt, dass sichere Kriterien für ein akutes Nierenversagen Stadium 2, nicht aber für ein Stadium 3 vorlägen. Anhand eines Stadiums 2 sei 2014 die Kodierung mit N17.9 zu Recht erfolgt sei. Erst ab 2017 werde gefordert, dass für die Kodierung des akuten Nierenversagens ein Stadium 3 vorhanden sein müsse oder aber – bei niedrigeren Stadien – ein strukturelles Nierenversagen, nicht ausschließlich Flüssigkeitsmangel. Statt der N17.9 könnte alternativ auch N17.0 (Akutes Nierenversagen mit Tubulusnekrose) kodiert werden, weil die Tubulusnekrose das typische feingewebliche Korrelat jedes akuten Nierenversagens außerhalb von stauungsbedingten und autoimmunologischen Formen sei.
Mit Urteil vom 08.10.2019 hat das SG der Klage stattgegeben und die Beklagte zur Zahlung von 1.335,39 € nebst Zinsen verurteilt. Die Klägerin habe die Nebendiagnose N17.9 zu Recht kodiert, weil ein akutes Nierenversagen vorgelegen habe und mittels Infusionstherapie ein entsprechender therapeutischer Aufwand betrieben worden sei. Nach dem gerichtlichen Sachverständigengutachten habe aufgrund der 100%igen Erhöhung des Kreatininwerts nach den Kriterien der KDIGO-Leitlinien ein akutes Nierenversagen im Stadium 2 vorgelegen, welches im Jahr 2014 zu Recht mit N17.9 habe kodiert werden können, weil damals noch keine Schweregradeinteilung im DRG-System hinterlegt gewesen sei.
Gegen das der Beklagten am 14.10.2019 zugestellte Urteil richtet sich deren am 30.10.2019 bei dem Sächsischen Landessozialgericht (LSG) eingelegte Berufung. Die Kodierung der Nebendiagnose N17.9 sei nicht gerechtfertigt. Aus der sozialmedizinischen Stellungnahme des MDK vom 23.10.2019, die das SG verfahrensfehlerhaft nicht abgewartet habe, gehe hervor, dass sich die Diagnose des akuten Nierenversagens im Jahr 2014 noch an den RIFLE-Kriterien orientiert habe, weil die KDIGO-Leitlinien von 2012 erst 2015 in die ICD-10-GM aufgenommen worden seien. Aus der deutschen Übersetzung der KDIGO-Leitlinie in "Der Nephrologe" 2013, S. 247 ff. ergebe sich nichts anderes. Denn ausweislich des englischen Originals handele es sich bei den drei Stadien des Acute Kidney Injury nicht um drei Stadien des akuten Nierenversagens, sondern um drei Stadien der akuten Nierenschädigung, von denen das Acute Renal Failure nur eines sei. Die im Jahr 2014 noch maßgeblichen Voraussetzungen des RIFLE-Stadiums Failure seien im vorliegenden Behandlungsfall nicht erfüllt gewesen seien.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 8. Oktober 2019 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte verkenne, dass sich die Kriterien zur Einordnung eines akuten Nierenversagens bereits im Jahre 2012 geändert hätten. Zu diesem Zeitpunkt seien die zuvor geltenden RIFLE-Kriterien durch die KDIGO-Leitlinie abgelöst worden. In der ICD-10-GM Version 2014 finde sich keine Bezugnahme auf die RIFLE-Kriterien. Nach der in "Der Nephrologe" 2013, S. 247 ff. veröffentlichten deutschen Fassung der KDIGO-Leitlinie liege auch im Stadium 2 ein akutes Nierenversagen vor.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge, die Patientenakte und die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, die Gegenstand des Verfahrens gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet.
1. Zu Recht hat das SG der Klage stattgegeben und die Beklagte zur Zahlung von 1.335,39 € nebst Zinsen verurteilt. Der Klägerin steht der von ihr im Gleichordnungsverhältnis zulässigerweise mit der echten Leistungsklage (dazu nur Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 16.12.2008 – B 1 KN 1/07 KR R – juris Rn. 9; Urteil vom 16.08.2021 – B 1 KR 18/20 R – juris Rn. 9) verfolgte Vergütungsanspruch aus der Behandlung anderer Versicherten zu, weil die Beklagte nicht wirksam mit einem Erstattungsanspruch in derselben Höhe wegen Überzahlung der Vergütung für die Krankenhausbehandlung der Versicherten aufrechnen konnte.
Es ist zwischen den Beteiligten nicht streitig, dass die Klägerin aufgrund stationärer Krankenhausbehandlung anderer Versicherter der Beklagten einen Anspruch auf Zahlung von 1.335,39 € hat; eine nähere Prüfung erübrigt sich insoweit (zur Zulässigkeit dieses Vorgehens: BSG, Urteil vom 19.06.2018 – B 1 KR 39/17 R – juris Rn. 29; Urteil vom 23.06.2015 – B 1 KR 26/14 R – juris Rn. 32; Urteil vom 03.07.2012 – B 1 KR 16/11 R – juris Rn. 10). Streitig ist zwischen den Beteiligten allein, ob dieser Zahlungsanspruch entsprechend § 387 Bürgerliches Gesetzbuch durch die Aufrechnung der Beklagten mit einem öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch wegen Überzahlung der Vergütung für die stationäre Krankenhausbehandlung der Versicherten erloschen ist (zur entsprechenden Anwendung auf überzahlte Krankenhausvergütung: BSG, Urteil vom 19.12.2017 – B 1 KR 19/17 R – juris Rn. 8; Urteil vom 23.06.2015 – B 1 KR 26/14 R – juris Rn. 33; Urteil vom 16.12.2008 – B 1 KN 1/07 KR R – juris Rn. 8). Dies ist nicht der Fall. Denn die Klägerin hatte Anspruch auf die hier letztlich streitige, von der Beklagten zunächst gezahlte Vergütung von 3.257,42 € für die Krankenhausbehandlung der Versicherten in der Zeit vom 13.06.2014 bis 16.06.2014 nach der DRG K62A. Ein Erstattungsanspruch der Beklagten ergibt sich aus dieser Zahlung nicht.
Rechtsgrundlage des Vergütungsanspruchs der Klägerin gegen die Beklagte für die stationäre Krankenhausbehandlung der Versicherten in der Zeit vom 13.06.2014 bis 16.06.2014 ist § 109 Abs. 4 Satz 3 SGB V i.V.m. § 7 Satz 1 Nr. 1, § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Krankenhausentgeltgesetz (KHEntgG), § 17b Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG), § 1 Fallpauschalenvereinbarung 2014 (FPV 2014) sowie Anlage 1 der FPV 2014 (Fallpauschalenkatalog 2014). Das Gesetz regelt in diesen Vorschriften die Höhe der Vergütung der zugelassenen Krankenhäuser bei stationärer Behandlung gesetzlich Krankenversicherter und setzt das Bestehen des Vergütungsanspruchs als Gegenleistung für die Erfüllung der Pflicht, erforderliche Krankenhausbehandlung nach § 39 SGB V zu gewähren (§ 109 Abs. 4 Satz 2 SGB V), dem Grunde nach als Selbstverständlichkeit voraus (BSG, Urteil vom 19.03.2020 – B 1 KR 20/19 R – juris Rn. 11; vgl. auch Sächsisches LSG, Urteil vom 25.09.2019 – L 1 KR 142/14 – juris Rn. 17).
Der Vergütungsanspruch der Klägerin für die streitige Krankenhausbehandlung ist dem Grunde nach entstanden. Dies ist zwischen den Beteiligten nicht streitig. Der Vergütungsanspruch für eine Krankenhausbehandlung und dazu korrespondierend die Zahlungsverpflichtung einer Krankenkasse entstehen unabhängig von einer Kostenzusage unmittelbar mit Inanspruchnahme der Leistung durch den Versicherten kraft Gesetzes, wenn die Versorgung – wie hier – in einem zugelassenen Krankenhaus durchgeführt wird und im Sinne von § 39 Abs. 1 Satz 2 SGB V erforderlich und wirtschaftlich ist (BSG, Urteil vom 17.12.2019 – B 1 KR 19/19 R – juris Rn. 10; Urteil vom 19.06.2018 – B 1 KR 39/17 R – juris Rn. 8). Dies war hier der Fall.
Streitig ist nur die Höhe des Vergütungsanspruchs. Diese bemisst sich im DRG-Vergütungssystem, in welches das Krankenhaus der Klägerin einbezogen ist, nach vertraglichen Fallpauschalen auf gesetzlicher Grundlage. Die Fallpauschalenvergütung für die stationäre Krankenhausbehandlung in zugelassenen Einrichtungen ergibt sich aus § 109 Abs. 4 Satz 3 SGB V i.V.m. § 7 KHEntgG und § 17b KHG. Der Anspruch wird auf Bundesebene durch Normenverträge konkretisiert. Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen und der Verband der privaten Krankenversicherung gemeinsam vereinbaren nach § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KHEntgG mit der Deutschen Krankenhausgesellschaft als "Vertragsparteien auf Bundesebene" mit Wirkung für die Vertragsparteien nach § 11 KHEntgG einen Fallpauschalen-Katalog einschließlich der Bewertungsrelationen sowie Regelungen zur Grenzverweildauer und der in Abhängigkeit von diesen zusätzlich zu zahlenden Entgelten oder vorzunehmenden Abschlägen. Ferner vereinbaren sie auf der Grundlage des § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 KHEntgG Abrechnungsbestimmungen in der FPV.
Welche DRG-Position abzurechnen ist, ergibt sich gemäß § 1 Abs. 6 Satz 1 FPV 2014 rechtsverbindlich aus der Eingabe und Verarbeitung von Daten – insbesondere von Diagnosen und Prozeduren – in einem automatischen Datenverarbeitungssystem, das auf einem zertifizierten Programm basiert (näher dazu BSG, Urteil vom 08.11.2011 – B 1 KR 8/11 R – juris Rn. 19 ff.). Dabei greift das Programm auch auf Dateien zurück, die entweder als integrale Bestandteile des Programms mit vereinbart sind oder an anderer Stelle vereinbarte Regelungen wiedergeben. Zu letzteren gehören die FPV selbst, aber auch die Internationale Klassifikation der Krankheiten (ICD) in der jeweiligen vom Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) herausgegebenen deutschen Fassung (ICD-10-GM – hier in der Version 2014) sowie die Klassifikation des vom DIMDI im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) herausgegebenen Operationen- und Prozedurenschlüssels (OPS). Ebenso gehört zu den einbezogenen Regelungskomplexen die von den Vertragspartnern auf Bundesebene getroffene Vereinbarung zu den DKR für das Jahr 2014. Die Verbindlichkeit der in der FPV und den DKR angesprochenen Klassifikationssysteme folgt allein aus dem Umstand, dass sie in das vertraglich vereinbarte Fallpauschalensystem und insbesondere in dessen Kern, den Grouper, einbezogen sind (BSG, Urteil vom 19.06.2018 – B 1 KR 39/17 R – juris Rn. 13; Urteil vom 19.12.2017 – B 1 KR 19/17 R – juris Rn. 31).
Die Anwendung der DKR und der FPV-Abrechnungsbestimmungen einschließlich ICD und OPS ist nicht automatisiert und unterliegt grundsätzlich den allgemeinen Auslegungsmethoden der Rechtswissenschaft. Die Abrechnungsbestimmungen sind gleichwohl wegen ihrer Funktion im Gefüge der Ermittlung des Vergütungstatbestandes innerhalb eines vorgegebenen Vergütungssystems eng am Wortlaut orientiert und unterstützt durch systematische Erwägungen auszulegen. Denn eine Vergütungsregelung, die für die routinemäßige Abwicklung von zahlreichen Behandlungsfällen vorgesehen ist, kann ihren Zweck nur erfüllen, wenn sie allgemein streng nach ihrem Wortlaut sowie den dazu vereinbarten Anwendungsregeln gehandhabt wird und keinen Spielraum für weitere Bewertungen sowie Abwägungen belässt. Demgemäß sind Vergütungsregelungen stets eng nach ihrem Wortlaut und allenfalls ergänzend nach ihrem systematischen Zusammenhang auszulegen; Bewertungen und Bewertungsrelationen bleiben außer Betracht (BSG, Urteil vom 20.01.2021 – B 1 KR 31/20 R – juris Rn. 21; Urteil vom 19.12.2017 – B 1 KR 18/17 R – juris Rn. 14; Urteil vom 08.11.2011 – B 1 KR 8/11 R – juris Rn 27). Abrechnungsbestimmungen können Begriffe entweder ausdrücklich definieren oder deren spezifische Bedeutung kann sich ergänzend aus der Systematik der Regelung ergeben (BSG, Urteil vom 27.10.2020 – B 1 KR 25/19 R – juris Rn. 18). Ferner kann der Wortlaut ausdrücklich oder implizit ein an anderer Stelle normativ determiniertes Begriffsverständnis in Bezug nehmen. Fehlt es an solchen normativen definitorischen Vorgaben, gilt der Grundsatz, dass medizinische Begriffe im Sinne eines faktisch bestehenden, einheitlichen wissenschaftlich-medizinischen Sprachgebrauchs zu verstehen sind; ergeben sich danach keine eindeutigen Ergebnisse, ist der allgemeinsprachliche Begriffskern maßgeblich (BSG, Urteil vom 16.08.2021 – B 1 KR 11/21 R – juris Rn. 7).
2. Hiervon ausgehend gilt vorliegend Folgendes: Maßgebend für den vorliegenden Abrechnungsfall sind die DKR 2014 und die ICD-10-GM in der vom DIMDI für das Jahr 2014 herausgegebenen Version. Streitig und für die Abrechenbarkeit der von der Klägerin zugrunde gelegten Fallpauschale DRG K62A entscheidend ist, ob die Klägerin die ICD N17.9 (akutes Nierenversagen, nicht näher bezeichnet) zutreffend als Nebendiagnose kodiert hat. Die Beteiligten sich darüber einig, dass der Anspruch der Klägerin auf die höhere Vergütung für die streitige Krankenhausbehandlung nach der DRG K62A statt nach der DRG K62B allein davon abhängt, ob die ICD N17.9 als Nebendiagnose kodiert werden durfte. Soweit Berechnungsergebnisse keinem Streit zwischen Beteiligten mit insoweit besonderer professioneller Kompetenz ausgesetzt sind, sind weitere Ermittlungen des Gerichts entbehrlich (BSG, Urteil vom 19.06.2018 – B 1 KR 39/17 R – juris Rn. 9; Urteil vom 21.04.2015 – B 1 KR 9/15 R – juris Rn. 29).
Nach der im Jahr 2014 geltenden Version der ICD-10-GM durfte die Klägerin die N17.9 kodieren, die als Nebendiagnose vorliegend zu der DRG-Fallpauschale K62A führt. Zu dem Kode N17 bestimmte die ICD-10-GM 2014:
N17.- Akutes Nierenversagen
N17.0 Akutes Nierenversagen mit Tubulusnekrose
Inkl.: Tubulusnekrose:
- akut
- renal
- o.n.A.
N17.1 Akutes Nierenversagen mit akuter Rindennekrose
Inkl.: Rindennekrose:
- akut
- renal
- o.n.A.
N17.2 Akutes Nierenversagen mit Marknekrose
Inkl.: Papillen- [Mark-] Nekrose:
- akut
- renal
- o.n.A.
N17.8 Sonstiges akutes Nierenversagen
Inkl.: Akutes Nierenversagen mit sonstigen histologischen Befunden
N17.9 Akutes Nierenversagen, nicht näher bezeichnet
Inkl.: Akutes Nierenversagen ohne Vorliegen eines histologischen Befundes.
a) Eine ausdrückliche Definition des akuten Nierenversagens enthält die ICD-10-GM in der Version 2014 nicht. Erst ab der Version 2015 wird in der ICD-10-GM unter Rückgriff auf die KDIGO-Leitlinien definiert, wann ein akutes Nierenversagen vorliegt.
Definitorische Vorgaben ergeben sich auch nicht aus der Entscheidung des Schlichtungsausschusses nach § 19 KHG vom 30.09.2020 – KDE 268 –, obwohl dazu Anlass bestanden hatte.
Durch das MDK-Reformgesetz vom 14.12.2019 (BGBl. I S. 2789) wurden die Regelungen zum Schlichtungsausschuss aus § 17c Abs. 3 KHG nach § 19 KHG überführt und weiterentwickelt. Aufgabe des Schlichtungsausschusses ist weiterhin die verbindliche Klärung von Kodier- und Abrechnungsfragen von grundsätzlicher Bedeutung (§ 19 Abs. 2 KHG). Da der Schlichtungsausschuss in der Vergangenheit trotz einer Vielzahl von Streitfragen nicht angerufen worden war (vgl. BT-Drucks. 19/13397, S. 91), erweiterte das MDK-Reformgesetz den Kreis der Anrufungsberechtigten und verpflichtete den Schlichtungsausschuss innerhalb von acht Wochen eine Entscheidung zu treffen, die für künftige oder bereits anhängige Abrechnungsprüfungen verbindlich ist (§ 19 Abs. 4 KHG) und kraft Gesetzes als Kodierregel gilt (§ 19 Abs. 6 KHG). Ferner wurde der Schlichtungsausschuss verpflichtet, bis zum 31.12.2020 über die zwischen der Sozialmedizinischen Expertengruppe Vergütung und Abrechnung der Medizinischen Dienste (SEG 4) und dem Fachausschuss für ordnungsgemäße Kodierung und Abrechnung der Deutschen Gesellschaft für Medizincontrolling (FoKa) bis zum 31.12.2019 als strittig festgestellten Kodierempfehlungen zu entscheiden (§ 19 Abs. 5 KHG).
Eine solche Kodierempfehlung war Gegenstand des Schlichtungsverfahrens KDE 268 (abrufbar unter https://www.g-drg.de/content/download/9926/file/Entscheidung%20KDE%20268%20Nierenversagen,%20akut,%20pr%C3%A4renal,%20Niereninsuffizienz,%20chronisch%20.pdf). Dabei ging es um folgende Fragen:
- Nach welchen Kriterien wird ein akutes Nierenversagen (ohne Histologiebefund)
verschlüsselt? - Wie wird ein prärenales Nierenversagen z.B. bei Exsikkose kodiert?
- Wann wird von einer chronischen Niereninsuffizienz gesprochen?
- Kann eine chronische Niereninsuffizienz als Nebendiagnose kodiert werden, wenn die glomeruläre Filtrationsrate (GFR) nur unter Verwendung der MDRD (Modification of Diet in Renal Disease)- oder Cockroft-Gault-Formel bestimmt wird ohne sonstige Maßnahmen?
Zum akuten Nierenversagen vertrat die SEG 4 die Auffassung, dass dieses nur bei einem RIFLE-Stadium Failure bzw. bei einem AKIN-Stadium 3 vorliege. Dagegen war der FoKA der Meinung, dass es sich bei der Stadieneinteilung der akuten Nierenschädigung nach AKIN und RIFLE um Einteilungen des akuten Nierenversagens nach Schweregraden handele und ein akutes Nierenversagen jeglicher Schwere kodiert werden könne, sobald ein Ressourcenverbrauch zu verzeichnen sei. Der Schlichtungsausschuss hat folgende Entscheidung – KDE 268 – getroffen:
Die Kodierung des akuten und chronischen Nierenversagens richtet sich nach dem Wortlaut des ICD-10-GM. Die chronische Niereninsuffizienz ist eine strukturelle oder funktionelle Auffälligkeit der Niere über mehr als 3 Monate mit Auswirkung auf die Gesundheit.
Diese Entscheidung enthält weder eine Definition des akuten Nierenversagens noch trägt sie sonst zur Klärung der Frage bei, wann ein akutes Nierenversagen kodiert werden kann. Da der Entscheidung keine Begründung beigegeben ist, kann nur darüber spekuliert werden, was mit dem Hinweis auf den Wortlaut der ICD-10-GM gemeint war – vielleicht, dass sich die Kodierfrage beim akuten Nierenversagen ab der Version 2015 der ICD-10-GM mit der Neufassung der N17.- geklärt hat. Jedenfalls für die vorhergehende Zeit entbehrt die Entscheidung des Schlichtungsausschusses hinsichtlich des akuten Nierenversagens jeglicher Aussagekraft. Formal hat der Schlichtungsausschuss zwar seine Pflicht erfüllt, nach seiner Umstrukturierung über in der Vergangenheit offen geblieben Streitfragen zeitnah zu entscheiden (§ 19 Abs. 5 KHG). Seine materielle Aufgabe, streitige Kodierfragen von grundsätzlicher Bedeutung zu klären (§ 19 Abs. 2 KHG), hat er aber in keiner Weise mit der als definitorische Vorgabe völlig unbrauchbaren Aussage erfüllt, bei einem in der ICD-10-GM verwandten Begriff (hier: akutes Nierenversagen), dessen Sinngehalt umstritten ist, käme es auf den Wortlaut an.
b) Mangels normativer definitorischer Vorgaben muss sich die erforderliche wortlautgetreue Auslegung, ausgehend vom allgemeinen Sprachgebrauch, vernünftigerweise an den in medizinischen Fachkreisen eingebürgerten Begrifflichkeiten orientieren, sofern es solche gibt (BSG, Urteil vom 16.08.2021 – B 1 KR 11/21 R – juris Rn. 7). Dem spezifisch medizinischen Begriff des akuten Nierenversagens kommt daher der Sinngehalt zu, der ihm im medizinisch-wissenschaftlichen Sprachgebrauch beigemessen wurde (allgemein dazu vgl. BSG, Beschluss vom 19.07.2012 – B 1 KR 65/11 B – juris Rn. 18; Urteil vom 23.06.2015 – B 1 KR 21/14 R – juris Rn. 18; Urteil vom 26.09.2017 – B 1 KR 9/17 R – juris Rn.16).
Maßgeblich dafür, was im Jahr 2014 unter "akutem Nierenversagen" im medizinisch-wissenschaftlichen Sprachgebrauch verstanden wurde, sind die KDIGO-Leitlinien (von: Kidney Disease: Improving Global Outcomes). Diese gehen auf die RIFLE- und AKIN-Kriterien zurück, die sie zugleich ablösten. Die RIFLE-Kriterien (von: Risk – Injury – Failure – Loss – End Stage Renal Disease) waren 2004 im Rahmen einer Konsensuskonferenz der Acute Dialysis Quality Initiative (ADQI) vorgestellt worden, um bestehende Definitionen evidenzbasiert zusammenzuführen. Dabei wurde versucht, aus der Veränderung der Messparameter für die Nierenfunktion (Serumkretanin und Urinausscheidung) auf Art, Ausmaß und Dauer der funktionellen und morphologischen Schädigung Rückschlüsse zu ziehen. 2007 wurden die RIFLE-Kriterien durch das Acute Kidney Injury Network (AKIN) weiterentwickelt, wobei insbesondere der Begriff "acute renal failure" (ARF) durch den Begriff "acute kidney injury" (AKI) ersetzt wurde. Im März 2012 wurde die KDIGO-Guideline der International Society of Nephrology (ISN) veröffentlicht (in: Kidney International Supplements, 2012 [2], 1-138), die – anknüpfend an die RIFLE- und AKIN-Kriterien – im Wesentlichen drei Stadien unterscheidet und dabei entweder auf den Anstieg des Serumkreatinins innerhalb von sieben Tagen abstellt oder auf die Diurese über sechs bis zwölf bzw. mindestens zwölf Stunden. In der deutschen Übersetzung der KDIGO-Leitlinien (veröffentlicht in: Nephrologe 2013 [8], 247-251) heißt es:
Ein akutes Nierenversagen (ANV) liegt vor, wenn mindestens eines der folgenden Kriterien erfüllt wird (ohne Graduierung):
- Anstieg des Serumkreatinins um mindestens 0,3 mg/dl (26,5 µmol/l) innerhalb von 48 h;
- Anstieg des Serumkreatinins auf mindestens das 1,5-Fache eines bekannten oder angenommenen Ausgangswerts innerhalb von 7 Tagen;
- Abfall der Urinausscheidung auf weniger als 0,5 ml/kg Körpergewicht/h für mindestens 6 h.
Dabei werden folgende Schweregrade unterschieden:
Tab. 3 |
Schweregrade des ANV |
|
Grad |
Serumkretanin |
Urinausscheidung |
1 |
Anstieg um >0,3 mg/dl (26,5 µmol/l) oder Anstieg auf das 1,5- bis 1,9-Fache des Ausgangswerts |
<0,5 ml/kg KG/h für 6-12 h |
2 |
Anstieg auf das 2,0- bis 2,9-Fache des Ausgangswerts |
<0,5 ml/kg KG/h für > 12 h |
3 |
Anstieg auf das >3,0-Fache des Ausgangswerts oder Anstieg auf >4,0 mg/dl (353,6 µmol/l) oder Beginn einer Nierenersatztherapie oder bei Patienten unter 18 Jahren Abnahme der eGFR auf <35 ml/min/1,73 m² |
<0,3 ml/kg KG für > 24 h |
ANV Akutes Nierenversagen, KG Körpergewicht, eGFR geschätzte glomeruläre Filtrationsrate |
Während die englische KDIGO-Guideline zur Benennung der betreffenden Erkrankung nicht den Begriff "acute renal failure" (ARF) verwendet, sondern den Begriff "acute kidney injury" (AKI), dem zusätzlich der Begriff "acute kidney impairment" zur Seite gestellt wird, um darauf hinzuweisen, dass es nicht darauf ankommt, ob die Niere geschädigt oder gestört ist, vollzieht die deutsche Übersetzung diese Umbenennung nicht nach, sondern bezeichnet die betreffende Erkrankung weiterhin als "akutes Nierenversagen" (ANV). Dies deshalb, weil damals im deutschen medizinisch-wissenschaftlichen Sprachgebrauch mit dem akuten Nierenversagen die Krankheit gemeint war, die in der KDIGO-Guideline als AKI bezeichnet wird. In wissenschaftlichen Publikationen wird denn auch darauf hingewiesen, dass der Begriff des akuten Nierenversagens weiterverwandt wird und inhaltlich in jeder Hinsicht der AKI entsprechen soll, um die semantische (Inter-) Operabilität zwischen Klassifikation und Diagnostik (N17.-) einerseits und dem internationalen wissenschaftlichen Sprachgebrauch (AKI) andererseits zu gewährleisten (vgl. Alscher/Erley/Kuhlmann, Deutsches Ärzteblatt [International], 2019, 149, 151).
Entgegen der Beklagten liegt daher ein akutes Nierenversagen im medizinisch-wissenschaftlichen Sprachgebrauch und damit letztlich auch im Sinne von ICD-10-GM (2014) N17.9 nicht erst mit Erreichen des RIFLE-Stadium Failure vor, das im Wesentlichen dem Schweregrad 3 nach den KDIGO-Leitlinien entspricht.
Soweit die Beklagte vorbringt, dass bei wörtlicher Übersetzung der KDIGO-Guideline die englische Bezeichnung "acute renal failure" nur als "akutes Nierenversagen" in das Deutsche übertragen werden kann, ist dem entgegenzuhalten, dass die Ermittlung des medizinisch-wissenschaftlichen Sprachgebrauches in den entsprechenden Fachkreisen sich nicht in einer wortlautgenauen Übersetzung der englischsprachigen Fassung der KDIGO-Guideline ins Deutsche erschöpft. Vielmehr kann dabei das Verständnis der deutschen Fachgesellschaften nicht unberücksichtigt bleiben. Diesem entsprach aber nicht eine wortlautgetreue Übertragung jeder einzelnen englischen Bezeichnung; vielmehr war es davon geprägt, dass der deutsche Begriff des "akuten Nierenversagens" inhaltlich in jeder Hinsicht dem englischen Begriff von "acute kidney injury" und "acute kidney impairment" der KDIGO-Guideline entsprach. Dass dieses Verständnis den deutschen medizinisch-wissenschaftlichen Sprachgebrauch der Fachgesellschaften widerspiegelt, ergibt sich aus den entsprechenden Ausführungen in der von der Klägerin zu den Akten gereichten Musterstellungnahme "Kodierung des akuten Nierenversagens" von Lütkes/Bienholz/Tamm/Wanninger/Kribben (abrufbar unter https://www.dgfn.eu/leistungsabrechnung.html) und aus den Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. X.... in dessen Gutachten. Bezeichnenderweise besorgte mit Prof. Kribben ein Mitautor der KDIGO-Guideline (Kidney International Supplements, 2012 [2], 1-138) dessen deutsche Übersetzung (Nephrologe 2013 [8], 247-251) mitsamt der Wiedergabe von englisch AKI als deutsch ANV. Ein abweichendes Verständnis der Fachgesellschaften hat die Beklagte, die ihre Rechtsauffassung vor allem auf eine wortlautgetreue Übersetzung der englischen Fassung der KDIGO-Guideline stützt, nicht behauptet. Da es aber – wie ausgeführt – auf die in den in medizinischen Fachkreisen eingebürgerten Begrifflichkeiten ankommt, ist unerheblich, ob die Übertragung der englischen Fassung wortlautgetreu ist oder nicht.
Dafür dass im Jahr 2014 der Begriff des akuten Nierenversagens im deutschen medizinisch-wissenschaftlichen Sprachgebrauch das "acute renal impairment" mitumfasste, spricht auch der Vergleich der deutschen mit der englischsprachigen Fassung der ICD-10. In der englischsprachigen Fassung des ICD-10 (2014) war der Kode N17.- mit "acute kidney failure" bezeichnet, in den das "acute renal impairment" als Inklusivum einbezogen wurde. In der deutschen Fassung der ICD-10 war dagegen eine Einbeziehung der akuten Nierenschädigung aufgrund des abweichenden Begriffsverständnisses gerade entbehrlich.
Zudem schließt der allgemeine Sprachgebrauch das Verständnis von akutem Nierenversagens nicht aus, das sich in deutschen medizinischen Fachkreisen eingebürgert hat. Denn Versagen ist das Nichterfüllen von Zielvorgaben und entsprechenden Anforderungen. Ein Versagen liegt nicht nur bei einem vollständigen Ausfall der Funktion vor, sondern auch, wenn das Erwartete nicht geleistet wird. Zielvorgaben und Anforderungen bleiben nicht nur bei einem vollständigen Funktionsverlust unerfüllt, sondern auch bei – gemessen an der zu erfüllenden Aufgabe – inadäquater und unzureichender Funktion. Insoweit ist der Begriff "Versagen" zwar nach oben im Sinne eines vollständigen Funktionsverlustes bestimmbar, jedoch nicht auf einen solchen beschränkt. Der Bezug zu einer zu erfüllenden Funktion und zu erfüllenden Zielvorgaben bemisst das Versagen gerade an derjenigen Grenze, die eingehalten werden muss, um eine ordnungsgemäße Funktion noch zu gewährleisten. Dies steht einem Verständnis ausschließlich im Sinne eines vollständigen Funktionsausfalles, entgegen. Folglich kann ein partieller Nierenfunktionsverlust, der ein therapeutisches Eingreifen bedingt, um die unzureichende Nierenfunktion auszugleichen bzw. wiederherzustellen, allgemeinsprachlich (auch) als Nierenversagen angesehen werden.
Mithin kann entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten im hier betroffenen Behandlungszeitraum dem akuten Nierenversagen und damit der ICD-10-GM (2014) N17.- nicht nur der Schweregrad 3 der KDIGO-Leitlinien zugeordnet werden. Vielmehr liegt ein akutes Nierenversagen im Sinne dieser ICD bereits dann vor, wenn mindestens eines der folgenden Kriterien der KDIGO-Leitlinien erfüllt ist:
- Anstieg des Serumkreatinins über einen gemessenen Ausgangswert um mindestens 0,3 mg/dl innerhalb von 48 Stunden,
- Anstieg des Serumkreatinins von einem gemessenen Ausgangswert oder anzunehmenden Grundwert des Patienten um mindestens 50% innerhalb der vorangehenden 7 Tage,
- Abfall der Urinausscheidung auf weniger als 0,5 ml/kg Körpergewicht/h über mindestens 6 Stunden.
c) In dem der streitigen Vergütungsforderung zugrunde liegenden Behandlungsfall lag bei der Versicherten das KDIGO-Stadium 2 vor. Der gerichtliche Sachverständige Prof. Dr. X.... hat unter Würdigung der vorliegenden medizinischen Unterlagen nachvollziehbar folgende Werte aufgezeigt:
- Anstieg des Serumkreatinins vom 08.06.2014 zum 13.06.2014 von 102 µmol/l auf 254 µmol/l am 13.06.2014
- Einschränkung der Urinausscheidung auf 500 ml am 14.06.2014 und 1000ml am 15.06.2014.
Auf dieser Grundlage hat er nachvollziehbar eine Zuordnung zum KDIGO-Stadium 2 vorgenommen. Denn der für ein KDIGO-Stadium 3 erforderliche Anstieg des Serumkreatinins um 200 % ergibt sich aus den nachgewiesenen Werte von 102 µmol/l am 08.06.2014 und 254 µmol/l am 13.06.2014 nicht. Diese medizinische Beurteilung wird durch den MDK oder die Beklagte letztlich nicht in Frage gestellt.
Mangels histologischer Befunde war die ICD N17.9 (akutes Nierenversagen, nicht näher bezeichnet) zu kodieren.
d) Die ICD N17.9 durfte auch als Nebendiagnose kodiert werden. DKR (2014) D003i definiert die Nebendiagnose als eine Krankheit oder Beschwerde, die entweder gleichzeitig mit der Hauptdiagnose besteht oder sich während des Krankenhausaufenthaltes entwickelt. Zusätzlich zur Hauptdiagnose sind Nebendiagnosen nur zu kodieren, soweit ihnen die DKR zur angemessenen Bewertung von Versorgungsbesonderheiten Abrechnungsrelevanz beimessen (BSG, Urteil vom 08.11.2011 – B 1 KR 8/11 R – juris Rn. 45). Das ist dann der Fall, wenn die fragliche Diagnose das Patientenmanagement beeinflusst hat, indem sie sich auf das Versorgungsgeschehen tatsächlich im Sinne eines zusätzlichen (diagnostischen, therapeutischen oder pflegerischen) Aufwands ausgewirkt hat (BSG, Urteil vom 16.07.2020 – B 1 KR 16/19 R – juris Rn. 19; Urteil vom 23.06.2015 – B 1 KR 13/14 R – juris Rn. 17; Urteil vom 25.11.2010 – B 3 KR 4/10 R – juris Rn. 16). Ein entsprechender therapeutischer Aufwand lag mit der Verabreichung von Infusionen vor. Dass die Infusionstherapie auch der Behandlung der Hauptdiagnose diente, ist unerheblich (anders für Nebendiagnosen untereinander: BSG, Urteil vom 23.06.2015 – B 1 KR 13/14 R – juris Rn. 17 ff.).
e) Der Klägerin steht nach der entsprechenden der landesvertraglichen Regelung (§ 13 des sächsischen Landesvertrages nach § 112 SGB V) der geltend gemachte Zinsanspruch ab dem Verrechnungsdatum zu.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. § 154 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung.
4. Die Revision ist nicht zuzulassen, da Zulassungsgründe im Sinne des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
5. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 63 Abs. 2, § 52 Abs. 3, § 47 Abs. 1 Gerichtskostengesetz.