S 27 SO 82/22 ER

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Frankfurt (HES)
Sachgebiet
Sozialhilfe
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 27 SO 82/22 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 SO 124/22 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, den Antragstellern vom 21.6.2022 bis zum 31.8.2022 – längstens jedoch bis zu einer bestandskräftigen Entscheidung über einen Antrag nach dem SGB XII – existenzsichernde Leistungen in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Die Antragsgegnerin trägt die zur Rechtsverfolgung notwendigen außergerichtlichen Kosten. 

Den Antragstellern wird Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt und Rechtsanwältin B., B-Straße, A-Stadt, beigeordnet.


Gründe

Der Antrag (Eingang bei Gericht am 21.6.2022) der Antragsteller,

die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den Antragstellern vorläufig ab Antragstellung Leistungen nach dem SGB XII, hilfsweise nach dem AsylbLG, in gesetzlich vorgesehenem Umfang zu gewähren

ist zulässig und aufgrund einer Folgenabwägung auch begründet.

Der Antrag ist zulässig.
Ein Rechtsschutzbedürfnis liegt vor, denn die Antragsteller haben sich bereits mit einer mündlichen Antragstellung am 14. April 2022 an die Antragsgegnerin gewandt. Eine Entscheidung über Ansprüche nach dem SGB XII erfolgte bislang nicht.

Der Antrag ist auch begründet.
Nach § 86 b Absatz 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht auf Antrag zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine einstweilige Anordnung treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint.

Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt in diesem Zusammenhang einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund voraus, welche glaubhaft zu machen sind, Absatz 4 am angegebenen Ort (aaO). 

Der Anordnungsanspruch macht einen materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, zu der der Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll, notwendig. Der Anordnungsgrund setzt eine besondere Eilbedürftigkeit voraus.

Hinsichtlich des Vorhandenseins eines Anordnungsanspruches ist darauf abzustellen, ob eine Klage in der Hauptsache voraussichtlich erfolgreich wäre oder nicht. In Abhängigkeit davon sind unterschiedliche Anforderungen an den Anordnungsgrund zu stellen. Kann aufgrund einer summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage im Rahmen des Eilverfahrens keine vollständige Aufklärung erfolgen und ist aus diesem Grunde der Ausgang des Hauptsacheverfahrens offen, dann ist im Wege der Folgenabwägung eine Entscheidung zu treffen. Dabei sind insbesondere die grundrechtlichen Belange der Antragsteller umfassend zu würdigen und in die Abwägung mit einzubeziehen – Gerichte müssen sich in diesem Zusammenhang schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen (grundlegend dazu Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12.5.2005 – 1 BvR 569/05). 

Das Gericht geht davon aus, dass die Erfolgsaussichten einer Klage im Hauptsachverfahren offen sind. Ohne den Erlass einer einstweiligen Anordnung würde den Antragstellern ein nicht hinnehmbarer gegenwärtiger und existenzieller Nachteil drohen, so dass im Rahmen der Folgenabwägung eine einstweilige Anordnung zu treffen war:

Die Antragstellerin hat die simbabwische Staatsangehörigkeit. Unstreitig hielt sie sich als Studentin mit einer bis zum 31.8.2022 befristeten Aufenthaltserlaubnis in der Ukraine auf. Nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine am 24.2.2022 floh sie aus der Ukraine und kam am 4.3.2022 in Deutschland an. Seit dem 7.3.2022 hält sie sich in A-Stadt auf und lebt von Spendengeldern – am 22.5.2022 wurde der Antragsteller geboren.

Die Antragstellerin stellte am 14.4.2022 einen Antrag auf Leistungen nach dem SGB XII und am 3.6.2022 auf Leistungen nach dem AsylBlG. Die Anträge wurden noch nicht beschieden.
 
Nach dem Durchführungsbeschluss (EU) 2022/382 (Celex Nr. 32022D0382) vom 4.3.2022 zur Feststellung des Bestehens eines Massenzustroms von Vertriebenen aus der Ukraine im Sinne des Art. 5 der Richtlinie 2001/55/EG („Massenzustrom-Richtlinie“) und zur Einführung eines vorübergehenden Schutzes – Erwägungsgrund 13 - können Mitgliedstaaten diesen Schutz auf alle anderen Staatenlosen oder nicht-ukrainischen Drittstaatsangehörigen ausweiten, die ihren rechtmäßigen Aufenthalt in der Ukraine hatten und nicht sicher und dauerhaft in ihr Herkunftsland oder ihre Herkunftsregion zurückkehren können. Zu diesen Personen könnten Drittstaatsangehörige gehören, die zum Zeitpunkt der Ereignisse, die zu dem Massenzustrom von Vertriebenen geführt haben, kurzfristig in der Ukraine studiert oder gearbeitet haben. Diesen Personen sollte die Einreise in die Union in jedem Fall aus humanitären Gründen gestattet werden, ohne dass von ihnen verlangt wird, insbesondere im Besitz eins gültigen Visums oder ausreichender Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts oder gültiger Reisedokumente zu sein, um eine sichere Durchreise im Hinblick auf die Rückkehr in ihr Herkunftsland oder ihre Herkunftsregion zu gewährleisten. 

Aus § 2 Absatz 1 der Ukraine-Aufenthalts-Übergangsverordnung vom 7.3.2022 – gültig bis zum 31.8.2022 – folgt, dass Ausländer, die sich am 24.2.2022 in der Ukraine aufgehalten haben und die bis zum Außerkrafttreten dieser Verordnung in das Bundesgebiet eingereist sind, ohne den für einen langfristigen Aufenthalt im Bundesgebiet erforderlichen Aufenthaltstitel zu besitzen, vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels befreit sind.

Ausgehend von diesen Vorgaben halten sich die Antragsteller (jedenfalls bis zum 31.8.2022) rechtmäßig in Deutschland auf und ihr Lebensunterhalt ist kurzfristig aus verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten, Art. 1 iVm 20 GG, zu sichern. 
Welche existenzsichernden Leistungsansprüche nach dem SGB XII/II oder dem AsylblG sich konkret aus diesem Aufenthaltsstatus aktuell ableiten und welcher Leistungsträger dafür zuständig ist, ist unklar. Nach Aktenlage wurde noch kein Aufenthaltstitel beantragt. Es liegt auch keine Zuweisungsentscheidung im Sinne des § 24 Absatz 5 AufenthG vor.

Aufgrund der unklaren Rechtslage hält das Gericht die Erfolgsaussichten der noch abzuschließenden Verwaltungsverfahren und einer sich ggf. anschließenden Klage im Hauptsachverfahren für offen - die schwierigen Rechtsfragen sind in einem Eilverfahren nicht abschließend zu klären.

Deshalb besteht für das Gericht die Verpflichtung, anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. 
Abzuwägen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die Anordnung nicht erginge, sich aber im Hauptsacheverfahren herausstellen würde, dass die Antragsteller einen entsprechenden Anspruch gehabt hätten, mit den Folgen, die entstünden, wenn die Leistung einstweilen zugesprochen würde, sich im Hauptsacheverfahren aber ergäbe, dass ein Anspruch nicht bestanden hatte. Bei dieser Folgenabwägung sind sämtliche Belange von Antragsteller und Antragsgegnerin vor dem Hintergrund der ihnen zustehenden Rechte und Grundrechte gegeneinander abzuwägen.

Auf der Seite der Antragsgegnerin ist festzustellen, dass sie möglicherweise existenzsichernde Leistungen als unzuständige Behörde erbringt. Etwaige Rückforderungsansprüche wären in dem Fall in einem Erstattungsverfahren gegenüber dem zuständigen Leistungsträger zu verfolgen.
Demgegenüber droht den Antragstellern eine nicht ausreichende aktuelle Deckung ihres Lebensunterhaltes und somit ein nicht wiedergutzumachender Nachteil. 

Im Hinblick auf die vorzunehmende Folgenabwägung überwiegt dies die Nachteile der Antragsgegnerin. Es sind daher ab Antragstellung bei Gericht vorübergehend Leistungen nach den Vorschriften des SGB XII zu erbringen. Die einstweilige Anordnung war bis zum 31.8.2022 zu begrenzen. Die Antragsteller sind daher gehalten, ihren Aufenthaltsstatus und damit einhergehend ihre Leistungsberechtigung über den 31.8.2022 hinaus unverzüglich zu klären.

Den Antragstellern war für das Rechtsschutzverfahren gemäß § 73 a SGG in Verbindung mit § 114 ZPO Prozesskostenhilfe zu bewilligen und die Verfahrensbevollmächtigte nach § 121 Absatz 2 ZPO beizuordnen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
 

Rechtskraft
Aus
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