L 18 R 262/19

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
18
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 6 KN 318/15
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 18 R 262/19
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 21.01.2019 geändert. Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt von der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.

Der am 00.00.1987 in der Ukraine geborene Kläger verfügt nach Beendigung der schulischen Ausbildung über keine abgeschlossene Berufsausbildung. Er hat zum 01.08.2009 eine Berufsausbildung beim Bundeswehr-Dienstleistungszentrum N (Wehrverwaltung) begonnen. Dieses Ausbildungsverhältnis wurde am 07.09.2009 mit Wirkung zum 30.09.2009 aufgelöst. Nach kurzer Arbeitslosigkeit begann der Kläger am 23.02.2010 ein erneutes Ausbildungsverhältnis zum Sozialversicherungsfachangestellten beim Berufsförderungswerk E. Der Ausbildungsvertrag wurde mit Kündigungsschreiben vom 09.05.2011 zum 13.05.2011 gekündigt. Der Kläger sei aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage, die Ausbildung erfolgreich zu beenden. Nach der Meldebescheinigung zur Sozialversicherung gemäß § 25 Verordnung über die Erfassung und Übermittlung von Daten für die Träger der Sozialversicherung handelte es sich um eine berufsfördernde Maßnahme zur Rehabilitation. Nach erneuter kurzzeitiger Arbeitslosigkeit übte der Kläger ein Praktikum bei der Stadt I im Archiv vom 01.08.2011 bis 31.07.2012 aus, nach seinen Angaben im Rahmen einer 39-Stundenwoche. Die danach zum 01.08.2013 aufgenommene Ausbildung zum Verwaltungsfachangestellten bei der Stadt F wurde nach Angaben des Klägers ebenfalls aus gesundheitlichen Gründen durch den Arbeitgeber zum 19.09.2013 gekündigt. Der Kläger hat einen GdB von 80. Die Merkzeichen „G“ und „B“ sind anerkannt.

Am 17.03.2015 beantragte der Kläger die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Die Beklagte holte ein Gutachten des Sozialmedizinischen Dienstes Castrop-Rauxel (SMD) ein. Nach der sozialmedizinischen Leistungsbeurteilung im Gutachten des SMD (Gutachten vom 29.05.2015) ist der Kläger bei Zugrundelegung des anamnestisch bekannten Wirbelsäulensyndroms und der Anlage eines dauerhaften Ileostomas nach Kolektomie bei Morbus Crohn in der Lage, körperlich leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vollschichtig zu verrichten.

Mit Bescheid vom 24.06.2015 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers auf Gewährung der Rente wegen Erwerbsminderung ab. Dem Antrag könne nicht entsprochen werden, weil der Kläger die allgemeine Wartezeit nicht erfülle. Sein Versicherungskonto enthalte nur 44 Kalendermonate. Auch sei vorliegend keine vorzeitige Wartezeiterfüllung eingetreten.

Dagegen legte der Kläger mit Schreiben vom 12.07.2015 Widerspruch ein. Er sei bereits seit über 19 Jahren in Behandlung und es liege dauerhafte Arbeitsunfähigkeit bei einer weiteren Verschlechterung seiner Krankheit vor.

Nach Einholung einer ergänzenden Stellungnahme des SMD wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 10.11.2015 zurück. Zur Begründung wies sie erneut auf die Nichterfüllung der allgemeinen Wartezeit von 5 Jahren hin. Auf Grund des ärztlicherseits festgestellten vollschichtigen Leistungsvermögens könne auch nicht von einer vorzeitigen Wartezeiterfüllung i. S. d. § 53 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) ausgegangen werden.

Der Kläger hat am 26.11.2015 Klage beim Sozialgericht (SG) Dortmund erhoben und die Auffassung vertreten, dass eine vorzeitige Wartezeiterfüllung möglich sei, weil der Rentenantrag vor Ablauf von sechs Jahren nach Beendigung der Ausbildung (hier: 30.09.2009) gestellt worden sei. Auch die erforderlichen Pflichtbeitragszeiten von einem Jahr lägen vor. Die Erwerbsminderung sei ferner in der Zeit zwischen Ausbildungsbeendigung und Antragstellung eingetreten. Die Beklagte habe insbesondere die sich aus der chronischen Darmerkrankung ergebenden Beeinträchtigungen nicht hinreichend berücksichtigt. Im Bereich des Stomas sei es zu einer chronischen Wundheilungsstörung gekommen und eine Besserung des Krankheitsbildes sei nicht zu erwarten. Er leide ständig unter Abdominalschmerzen, Übelkeit, Erbrechen und Diarrhoe. Es sei zumindest von einer schweren spezifischen Leistungseinschränkung auszugehen.

Der Kläger hat beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 24.06.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.11.2015 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm Rente wegen voller Erwerbsminderung nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung ihres Antrages hat sie sich auf den Inhalt der angefochtenen Bescheide bezogen.

Das SG hat zunächst Befundberichte der den Kläger behandelnden Ärzte eingeholt. Es hat Beweis erhoben durch Einholung eines fachchirurgischen Gutachtens von Herrn A (Gutachten vom 27.06.2016 mit ergänzender Stellungnahme vom 10.02.2017) sowie eines fachinternistischen Gutachten von Dr. H (Gutachten vom 22.09.2016 mit ergänzender undatierter Stellungnahme, Eingang am 04.04.2017). Beide Sachverständige haben ein vollschichtiges Leistungsvermögen festgestellt.

Das SG hat weitere medizinische Ermittlungen durchgeführt durch Einholung eines internistisch-gastroenterologischen Gutachtens von Dr. L (Gutachten vom 13.03.2018). Dieser ist in seiner sozialmedizinischen Leistungsbeurteilung zu dem Ergebnis gelangt, dass der Kläger aktuell keine Tätigkeiten von wirtschaftlichem Wert verrichten könne. Er könne zurzeit nicht regelmäßig auch nur stundenweise arbeiten. Dieses Leistungsbild sei mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit seit dem 17.03.2015 gegeben und sei seitdem im Wesentlichen unverändert. In seiner ergänzenden Stellungnahme (Stellungnahme vom 10.09.2018) hat Dr. L sein Gutachtenergebnis aufrechterhalten und ausgeführt, dass der Kläger bereits seit Oktober 2013 keine Erwerbstätigkeit von wirtschaftlichem Wert mehr habe ausüben können.

Auf erneute Kritik der Beklagten hat der Sachverständige Dr. L mit einer weiteren Stellungnahme vom 04.12.2018 seine Leistungsbeurteilung erneut erläutert und mitgeteilt, dass er auch nach Vorlage eines psychiatrischen Zusatzgutachtens, dass aus rein psychiatrischer Sicht zu einem vollschichtigen Leistungsvermögen käme, nicht von seiner persönlichen gutachterlichen Haltung abweichen werde.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Ergebnisses der medizinischen Beweiserhebung wird auf den Inhalt der Befundberichte und Gutachten einschließlich der ergänzenden Stellungnahmen verwiesen.

Mit Urteil vom 21.01.2019 hat das SG die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 24.06.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.11.2015 verurteilt, dem Kläger ausgehend von dem Leistungsfall im Oktober 2013 Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit bis zum 30.06.2020 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Der Kläger habe einen Anspruch auf die Gewährung der von ihm begehrten Rentenleistung wegen voller Erwerbsminderung. Es sei davon auszugehen, dass der Kläger aktuell ohne unmittelbare Gefährdung seiner Gesundheit keine Tätigkeit von wirtschaftlichem Wert ausüben könne. Er könne zurzeit auch nicht regelmäßig und auch nicht unter betriebsüblichen Bedingungen arbeiten. Diese Beurteilung ergebe aus dem internistisch-gastroenterologischen Gutachten von Dr. L vom 13.03.2018 und dessen ergänzenden Stellungnahmen vom 10.09.2018 und vom 04.12.2018. In Übereinstimmung mit dem Sachverständigen Dr. L werde insoweit auch die Einholung eines gesonderten neurologisch-psychiatrischen Gutachtens nicht für erforderlich gehalten. Ebenfalls folge das SG der Festlegung des Leistungsfalles durch den Sachverständigen Dr. L im Oktober 2013. Da nach den Feststellungen der Sachverständigen Dr. H  und Dr. L eine Besserung des zeitlichen Leistungsvermögens nicht unwahrscheinlich sei, komme vorliegend die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer nicht in Betracht. Schließlich seien auch die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen des § 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB VI erfüllt. Das Gericht geht dabei in Übereinstimmung mit der Beklagten davon aus, dass bei einem Leistungsfall im Oktober 2013 sowohl die sog. 3/5-Belegung mit Pflichtbeiträgen als auch eine vorzeitige Wartezeiterfüllung im Sinne des § 53 Abs. 2 SGB VI gegeben sind.

Gegen das ihr am 11.03.2019 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 05.04.2019 Berufung eingelegt. Der Kläger habe die allgemeine Wartezeit für den Anspruch auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nach § 50 SGB VI nicht erfüllt. Bis zur Rentenantragstellung am 17.03.2015 bzw. bis zum Zeitpunkt des ausgeurteilten Leistungsfalls im Oktober 2013 seien lediglich 44 Kalendermonate mit Beitragszeiten zurückgelegt worden. Ein Leistungsanspruch könne lediglich über die Wartezeitfiktion nach § 53 SGB VI realisiert werden. Da einer der privilegierenden Tatbestände nach § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1-4 SGB VI erkennbar nicht vorliege, könnten die wartezeitrechtlichen Voraussetzungen lediglich über Abs. 2 der Regelung erfüllt werden. Diese Voraussetzungen seien nicht gegeben. Losgelöst hiervon stütze sich das SG auf eine unzureichende medizinische Sachaufklärung. Die Befundergebnisse des gastroenterologischen Sachverständigen Dr. L seien ihrer Auffassung nach nicht ausreichend, um zu dem Ergebnis eines auch zeitlich eingeschränkten Leistungsvermögens zu kommen.

Nachdem der Kläger in der Zeit vom 11.09.2019 bis 02.10.2019 ein stationäres Heilverfahren durchgeführt hat und im Entlassungsbericht  das Leistungsvermögen des Klägers auf unter 3 Stunden eingeschätzt worden ist, hat sich die Beklagte nach Auswertung des Entlassungsberichts der Leistungseinschätzung des erstinstanzlichen Sachverständigen Dr. L angeschlossen. Von einem Dauerzustand könne jedoch noch nicht ausgegangen werden. Gleichwohl werde im Hinblick auf die erheblichen gesundheitlichen Einschränkungen, wie sich bereits zu Beginn des Versicherungslebens des Klägers gezeigt habe, von einem sogenannten „eingebrachten Leiden“ ausgegangen, dass der Realisierung des Leistungsanspruchs entgegenstehe. Der jetzige Gesundheitszustand sei seit dem Jahre 2002 (Anlage des Ileostomas) anzunehmen. Damit sei der Kläger bereits zu Beginn seiner Versicherungsbiografie zu einer wirtschaftlich verwertbaren Arbeitsleistung dauerhaft nicht in der Lage gewesen. Unter der (fiktiven) Annahme eines im Oktober 2013 eingetretenen Leistungsfalls seien die Voraussetzungen im Sinne einer Wartezeitfiktion erfüllt. Auch seien die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen im Sinne des § 53 Abs. 2 SGB VI gegeben.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 21.01.2019 zu ändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Dem Gutachten von Dr. L sei zu folgen, dieser habe seinem Gutachten und auch seinen ergänzenden Stellungnahmen nicht nur eine ausführliche Befunderhebung anhand der vorhandenen medizinischen Unterlagen zugrunde gelegt, sondern auch eine umfassende persönliche Untersuchung. Bereits das SG habe in seinem Urteil ausgeführt, dass die Festlegung des Leistungsfalls im Oktober 2013 bei Auswertung des Krankheitsverlaufs plausibel und nachvollziehbar erscheine.

Der Senat hat Auskünfte von den früheren Arbeitgebern des Klägers eingeholt. Wegen der Einzelheiten wird auf die Auskünfte des Berufsförderungswerks E (Auskunft vom 24.11.2020), der Stadt F (Auskunft vom 25.11.2020), des Bundeswehr-Dienstleistungszentrums N (Auskunft vom 10.12.2020) und der Stadt I (Auskunft vom 08.01.2021) verwiesen.

Schließlich hat der Senat eine weitere Stellungnahme von dem Sachverständigen Dr. L (Stellungnahme vom 10.04.2021) eingeholt. Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt dieser Stellungnahme verwiesen. Der Kläger hat dem entgegengehalten, dass der Sachverständige nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit beurteilen könne, ob bereits 2002 ein eingeschränktes Leistungsvermögen, welches die Annahme einer Erwerbsminderung rechtfertige, vorgelegen habe.

Zuvor hatte die Beklagte den Antrag des Klägers auf Weitergewährung der Rente wegen voller Erwerbsminderung vom 06.01.2020 mit Bescheid vom 07.10.2020 abgelehnt. Hiergegen hat der Kläger nach eigenen Angaben Widerspruch eingelegt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet.

Zu Unrecht hat das SG die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 24.06.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.11.2015 verurteilt, dem Kläger ausgehend von dem Leistungsfall Oktober 2013 Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit bis zum 30.06.2020 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Der Bescheid vom 24.06.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.11.2015 (§ 95 SGG) ist rechtmäßig und beschwert den Kläger nicht (§ 54 Abs. 2 Satz 1 SGG). Er hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung. Er erfüllt die allgemeine Wartezeit weder regulär noch vorzeitig.

Der Senat hat über die Verurteilung der Beklagten zur Rentenzahlung bis zum 30.06.2020 zu befinden. Gegen diese Entscheidung hat sich nur die Beklagte im Rahmen der Berufung gewandt. Der von der Beklagten erlassene Bescheid vom 07.10.2020, der den Folgezeitraum betrifft und gegen den der Kläger nach eigenen Angaben Widerspruch eingelegt hat, ist nicht Gegenstand des Verfahrens geworden.

Gemäß § 43 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bzw. wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie

  1. teilweise bzw. voll erwerbsgemindert sind,
  2. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben, und
  3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.

 

Gemäß § 43 Abs. 4 SGB VI verlängert sich der Zeitraum von fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung um folgende Zeiten, die nicht mit Pflichtbeiträgen für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit belegt sind:

  1. Anrechnungszeiten und Zeiten des Bezugs einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit,
  2. Berücksichtigungszeiten,
  3. Zeiten, die nur deshalb keine Anrechnungszeiten sind, weil durch sie eine versicherte Beschäftigung oder selbstständige Tätigkeit nicht unterbrochen ist, wenn in den letzten sechs Kalendermonaten vor Beginn dieser Zeiten wenigstens ein Pflichtbeitrag für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit oder eine Zeit nach Nummer 1 oder 2 liegt,
  4. Zeiten einer schulischen Ausbildung nach Vollendung des 17. Lebensjahres bis zu sieben Jahren, gemindert um Anrechnungszeiten wegen schulischer Ausbildung.

 

Es kann offenbleiben, ob beim Kläger eine rentenberechtigende Leistungsminderung im Oktober 2013, wie vom SG ausgeurteilt, oder zu einem früheren Zeitraum, wie von der Beklagten vertreten, eingetreten ist. Der Kläger erfüllt die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Erwerbsminderungsrente nicht. Zu keinem Zeitpunkt hat der Kläger die allgemeine Wartezeit erfüllt.

Mangels Erfüllung der allgemeinen Wartezeit von 60 mit Pflichtbeiträgen belegten Kalendermonaten (§ 50 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI) hätte der Kläger, der lediglich 44 Kalendermonate belegen kann, nur einen Anspruch auf Erwerbsminderungsrente erwerben können, wenn er einen der in § 53 SGB VI in Verbindung mit § 245 SGB VI aufgeführten Ausnahmetatbestände der vorzeitigen Wartezeiterfüllung verwirklicht hätte. Da einer der privilegierenden Tatbestände nach § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 - 4 SGB VI erkennbar nicht vorliegt, kommt hier nur die Regelung des § 53 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit § 245 SGB VI in Betracht. Danach gilt die allgemeine Wartezeit als vorzeitig erfüllt, wenn Versicherte vor Ablauf von sechs Jahren nach Beendigung einer Ausbildung voll erwerbsgemindert geworden sind und in den letzten zwei Jahren vorher mindestens ein Jahr Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt, unabhängig davon, wann die Erwerbsminderung beim Kläger eingetreten ist.

Der Kläger hat eine Ausbildung im Sinne der Vorschrift des § 53 Abs. 2 SGB VI nicht durchlaufen. Der Begriff „Ausbildung“ im Sinne des § 53 Abs. 2 Satz 1 SGB VI umfasst Schul-, Fachschul-, Hochschul- und Berufsausbildung. Daneben gehören auch Fort- und Weiterbildungen sowie Umschulungen zum Ausbildungsbegriff. Der Umstand, dass der Kläger keine seiner begonnenen Berufsausbildungen abgeschlossen hat, steht der Erfüllung der Wartezeit nach § 53 Abs. 2 SGB VI nicht entgegen. Ein (erfolgreicher) Abschluss der Ausbildung ist nicht erforderlich (BSG, Urteil vom 21.06.2000 – B 4 RA 14/99 R- juris Rdn. 15; Bayerisches LSG, Urteil vom 05.07.2017 – L 19 R 396/16 – juris Rdn. 77; LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 24.06.1998  - L 6 A 25/97- juris Rdn. 32; Heidemann in Schlegel-Voelzke, 3. Auflage 2021, Stand 01.04.2021, § 53 SGB VI Rdn. 55).

Unter den Begriff der Ausbildung im Rahmen der Erfüllung der vorzeitigen Wartezeit fällt entsprechend der Systematik und nach Sinn und Zweck der Vorschrift jedoch nur eine solche Ausbildung, die die Arbeitskraft des Versicherten ganz oder überwiegend in Anspruch nimmt, so dass er an der Ausübung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit und infolgedessen am Erwerb von Pflichtbeitragszeiten gehindert ist (BSG a.a.O.; BSGE 49, 47, 49 f = BSG SozR 2200 § 1252 Nr. 1; Gürtner in BeckOGK [Kasseler Kommentar], SGB VI, Stand: 01.09.2017, § 53 Rdn. 20, 21). Dies war bei dem Kläger nicht der Fall. Denn er war im Rahmen sämtlicher von ihm begonnener Ausbildungsverhältnisse pflichtversichert. Zur weiteren Begründung wird auf die überzeugenden Ausführungen des BSG im Urteil vom 21.06.2000 (B 4 RA 14/99 R) verwiesen.

Soweit die Auffassung vertreten wird, dass nach dem Normzweck der Vorschrift Versicherte in jungen Jahren begünstigt werden sollen und § 53 Abs. 2 SGB VI Versicherte schützen soll, die in so jungen Jahren oder so kurze Zeit nach Beendigung ihrer Ausbildung voll erwerbsgemindert geworden oder gestorben sind, dass es ihnen regelmäßig nicht möglich war, die allgemeine Wartezeit zu erfüllen (Heidemann, a.a.O, § 53 Rdn. 19; Dankelmann in Kreikebohm/Roßbach, SGB VI, 6. Auflage 2021, § 53 Rdn. 12-15), und auch typische Ausbildungsverhältnisse, wie Zeiten einer gemäß § 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI versicherungspflichtigen Lehre, in die Regelung mit einzubeziehen seien, schließt sich der Senat dieser Auffassung nicht an. Anknüpfungspunkt für die Sechs-Jahres-Frist nach Beendigung der Ausbildung ist nicht ein bestimmtes jugendliches Lebensalter, sondern das Ende der Ausbildung. Zwar steht der Wortlaut der Vorschrift dieser Auslegung des Begriffs der Ausbildung nicht entgegen. Nach Systematik und Sinn und Zweck der Vorschrift ist jedoch, wie oben ausgeführt, eine andere Auslegung geboten.

Ein verfassungsrechtlich ausreichender legitimierender Grund, den Lehrling gegenüber Versicherten zu privilegieren, die keine Ausbildung durchlaufen haben und daher gehalten sind, in entsprechend kürzerer Zeit die allgemeine Wartezeit durch Beitragszahlung zu erfüllen, ist nicht erkennbar (vgl. Dr. Fichte in Hauck/Noftz SGB VI, 2. Ergänzungslieferung 2022, § 53 Rdn. 47). Personen, die eine versicherungspflichtige Ausbildung zurücklegen, sind nämlich bereits während ihrer Ausbildung voll in den Schutz der gesetzlichen Rentenversicherung integriert. Sie erwerben mit ihrer Beitragszahlung z.B. ein Anrecht auf Rehabilitationsleistungen sowie auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Hingegen bleiben Absolventen einer wissenschaftlich theoretischen Ausbildung rentenrechtlich weitgehend ungeschützt.

Dem Auslegungsergebnis des Senats steht auch nicht die verbreitete Praxis bzw. die Weisungslage der Rentenversicherungsträger entgegen, wonach auch eine versicherungspflichtige Ausbildung unter den Begriff der Ausbildung im Sinne des § 53 Abs. 2 SGB VI fällt. Der Senat ist an diese Auslegung nicht gebunden. Wie sich aus den vorstehenden Ausführungen ergibt, stünde eine solche Einordnung nicht mit den aus § 133 BGB abgeleiteten Auslegungsregeln, deren Anwendung letztverbindlich den Gerichten obliegt (Art. 92 GG), in Einklang. Für die Gerichte entfalten die Weisungen der Rentenversicherungsträger keine bindende Wirkung (vergleiche zur mangelnden Bindung der Gerichte an Arbeitsanweisungen BSG, Urteil vom 16.12.2021 - B 9 V 2/20 R).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.

Anlass, die Revision zuzulassen, besteht nicht. Von der für zutreffend erachteten Rechtsprechung des BSG zum Begriff der Ausbildung im Sinne von § 53 SGB VI weicht der erkennende Senat nicht ab.

 

Rechtskraft
Aus
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