1. Der Behörde können im sozialgerichtlichen Verfahren gemäß § 192 Abs. 4 SGG nur dann ganz oder teilweise Kosten auferlegen werden, wenn diese dadurch verursacht wurden, dass die Behörde ihr pflichtgemäßes Ermessen im Rahmen der Amtsermittlung dadurch überschritten hat, dass sie unverzichtbare Ermittlungen unterlassen hat, die im gerichtlichen Verfahren nachgeholt wurden.
2. Eine neurologische Begutachtung ist nicht unverzichtbar, wenn nach umfangreichen Ermittlungen der Behörde im Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren keine greifbaren Anhaltspunkte für neurologische Defizite des Versicherten bestehen und der von der Behörde auch mit der Veranlassung einer neurologischen Zusatzbegutachtung beauftragte Sachverständige zu dem Ergebnis kommt, dass aus einer neurologischen Zusatzbegutachtung keine weiteren Erkenntnisse zu erwarten sind.
I. Auf die Beschwerde der Beklagten und Beschwerdeführerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 5. Juli 2022 aufgehoben.
II. Die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens hat die Beschwerdegegnerin zu tragen.
Gründe
I.
Die Beklagte und Beschwerdeführerin (im Folgenden: Beklagte) wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen einen Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt am Main, durch den ihr die Kosten für ein im Klageverfahren von Amts wegen eingeholtes neurologisches Sachverständigengutachten in Höhe von 2.722,39 € auferlegt worden sind.
In dem Verfahren vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main mit dem Aktenzeichen S 23 U 159/18 begehrte der bei der Beklagten unfallversicherte A. (im Folgenden: Kläger) eine Rente. Die Beklagte hatte zuvor mit Bescheid vom 25. Januar 2011 eine Berufskrankheit des Klägers nach Nr. 2108 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BK 2108) anerkannt. Als Folge des Versicherungsfalls wurde zudem eine Bewegungseinschränkung im Bereich der Lendenwirbelsäule infolge bandscheibenbedingter Veränderungen der Lendenwirbelsäule im Bereich der Segmente L3-S1 anerkannt.
Im hier zugrundeliegenden Verfahren teilte der Kläger mit Schreiben vom 24. November 2014 der Beklagten mit, dass eine Verschlechterung der Wirbelsäulenschädigung vorliege. Im Laufe des Verwaltungsverfahrens wurden zahlreiche Befundberichte vorgelegt. Im Rahmen der eigenen Ermittlungen der Beklagten wurde der Kläger auf Aufforderung der Beklagten am 2. Juli 2015 in der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik in Frankfurt am Main (BGU) neurologisch und neurometrisch-elektromyographisch untersucht. Danach lag bei dem Kläger kein radikulärer Ausfall vor. Des Weiteren gab die Beklagte ein Gutachten des Facharztes für Orthopädie und Physikalische und Rehabilitative Medizin Dr. D. in Auftrag. Dr. D. untersuchte den Kläger am 29. Juli 2015 und kam insbesondere zu dem Ergebnis, dass die rezidivierende Schmerzsymptomatik im Bereich der Lendenwirbelsäule (LWS) Folge der anerkannten Berufskrankheit sei. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) läge bei 10 v.H. Aufgrund des Gutachtens des Dr. D. bot die Beklagte dem Kläger ein vierwöchiges stationäres Heilverfahren an. Mit Bescheid vom 20. Oktober 2015 lehnte die Beklagte jedoch die Gewährung einer Rente ab.
Während des Widerspruchsverfahrens wurde der Kläger dann vom 16. Februar 2016 bis zum 15. März 2016 in einer Rehabilitationsklinik in der Abteilung Orthopädie aufgenommen. Die Beklagte forderte einen ausführlichen Entlassungsbericht an. In dem Entlassungsbericht der Rehabilitationsklinik vom 7. April 2016 heißt es, dass insbesondere eine Fortsetzung der Physiotherapie und aufgrund des chronischen Schmerzsyndroms und der Depressionen eine psychotherapeutische Behandlung empfohlen werde. Nach Rücksprache mit dem behandelnden Arzt des Klägers vereinbarte die Beklagte für den Kläger im Oktober 2016 einen Termin in der „BG-Sprechstunde“ der BGU. Daraufhin wurde eine schmerztherapeutische Vorstellung des Klägers in der Abteilung BG-Schmerztherapie empfohlen. Dort wurde der Kläger im Folgenden auch schmerztherapeutisch behandelt. Zudem wurde für das Widerspruchsverfahren eine Zusammenhangsbegutachtung mit neurologischem, neurochirurgischem und urologischem Zusatzgutachten empfohlen. Die Beklagte forderte zunächst einen psychologischen Bericht des Psychotraumatologischen Zentrums für Diagnostik und Therapie an der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik in Frankfurt am Main an. Am 27. April 2017 fand ein Gespräch zwischen dem Kläger und der Beklagten statt. Ausweislich des Protokolls schlug die Beklagte vor, zur Frage des Ursachenzusammenhangs der Beschwerden im neurologischen, urologischen und schmerztherapeutischen Bereich eine Begutachtung im Universitätsklinikum Gießen und Marburg durchzuführen. Die Beklagte beauftragte Prof. Dr. F. von der Neurologischen Klinik des Universitätsklinikum Gießen und Marburg. Dieser teilte im Mai 2017 mit, dass er überlastet sei und das Gutachten nicht erstellen könne. Die Beklagte beauftragte sodann den Arzt für Orthopädie und Unfallchirurgie Prof. Dr. P. Sie bat darum, dass Prof. Dr. P. auf neurologischem, urologischem und schmerztherapeutischem Gebiet eine Zusatzbegutachtung veranlassen soll. Prof. Dr. P. untersuchte den Kläger und führte in seinem Gutachten insbesondere aus, dass sich bei dem Kläger keine neurologischen Defizite fänden. Die subjektive Schmerzsymptomatik sei plausibel und entsprechende Beschwerden könnten nicht ausgeschlossen werden. Die aktuelle Untersuchung habe diesbezüglich keine Verifizierung ergeben. Anhand der objektiven Befunde ergäbe sich keine relevante Veränderung der Schmerzsymptomatik. Im Hinblick auf die angeforderte Zusatzbegutachtung führte Prof. Dr. P. aus, dass er dafür keine Veranlassung sehe. Aus orthopädischer Sicht seien keine weiteren Erkenntnisse aus einer zusätzlichen neurologischen Begutachtung zu erwarten. Auch im Hinblick auf die Beurteilung der Schmerztherapie seien im orthopädischen Bereich keine weiteren Erkenntnisse zu erwarten. Er überlasse es jedoch dem Ermessen der Beklagten, diese Einschätzung „nach extern an eine speziell dafür ausgerichtete Institution zu vergeben“. Mit Widerspruchsbescheid vom 14. September 2018 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück.
Der Kläger hat am 1. Oktober 2018 Klage bei dem Sozialgericht Frankfurt am Main (Sozialgericht) erhoben. Die Vorsitzende der 23. Kammer des Sozialgerichts erteilte am 11. Dezember 2018 den Hinweis, dass die Schmerzen des Klägers – entgegen der Ausführungen im Widerspruchsbescheid – bei der Prüfung der Höhe der MdE zu berücksichtigen seien. Dementsprechend habe man sich nicht nur auf das orthopädische Sachverständigengutachten stützen dürfen. Eine Schmerzbegutachtung wäre daher notwendig gewesen. Das Sozialgericht beabsichtige die Einholung eines schmerztherapeutischen Sachverständigengutachtens und ggfs. eines neurologisch-psychiatrischen Sachverständigengutachtens auf Kosten der Beklagten. Das Sozialgericht gab am 19. November 2020 ein Gutachten des Prof. Dr. F. in Auftrag. Der Sachverständige Dr. F. führte am 26. März 2021 eine Befragung des Klägers durch und erstellte aufgrund seiner Untersuchungen einen „neurologischen Untersuchungsbefund“. Vor diesem Hintergrund beantwortete der Sachverständige Prof. Dr. F. im Gutachten vom 29. März 2021 die Beweisfragen. Danach liegen auf neurologischem Fachgebiet keine Gesundheitsbeeinträchtigungen bei dem Kläger vor. Es seien wiederholt neurologische Untersuchungen bei dem Kläger durchgeführt worden, die jedoch jeweils „normal“ ausgefallen seien. Ob der Schmerz des Klägers im Hinblick auf die BK 2108 außergewöhnlich sei, müsse orthopädisch beurteilt werden. Prof. Dr. F. verweist stellenweise auf das orthopädische Gutachten des Prof. Dr. P. Mit Gerichtsbescheid vom 5. Juli 2022 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen.
Mit Beschluss vom 5. Juli 2022 hat das Sozialgericht zudem entschieden, dass der Beklagten die Kosten des neurologischen Sachverständigengutachtens des Prof. Dr. F. vom 29. März 2021 in Höhe von 2.722,39 € auferlegt werden. Zur Begründung hat das Sozialgericht ausgeführt, dass der Beklagten die vollen Kosten für die Einholung des Sachverständigengutachtens aufzuerlegen „waren“, weil die Beklagte erkennbare und notwendige Ermittlungen im Verwaltungsverfahren unterlassen habe, die im gerichtlichen Verfahren nachgeholt worden seien. Nicht nur, dass Prof. Dr. P. eine schmerztherapeutische Zusatzbegutachtung ausdrücklich in das Ermessen der Beklagten gestellt habe. Die Aussage des Sachverständigen, dass eine solche Zusatzbegutachtung vermutlich seine Einschätzung nicht relevant beeinflussen werde, hätte die Beklagte nicht von der Beweiserhebung abbringen dürfen, da Prof. Dr. P. auf dem Gebiet der Anästhesiologie und Neurologie fachfremd sei. Dass das Sachverständigengutachten des Prof. Dr. F. das von der Beklagten in vorweggenommener Beweiswürdigung gefundene Ergebnis bestätigt habe, ändere hieran nichts.
Die Beklagte hat gegen den ihr am 6. Juli 2022 zugestellten Beschluss am 1. August 2022 Beschwerde beim Hessischen Landessozialgericht in Darmstadt eingelegt.
Die Beklagte trägt zur Begründung der Beschwerde vor, dass die Voraussetzungen für die Auferlegung der Kosten des Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. F. auf die Beklagte nicht vorliegen würden. Die im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten hätten die funktionellen Folgen des Versicherungsfalls umfassend für die Entscheidung über den geltend gemachten Rentenanspruch abgebildet. Es sei vertretbar gewesen, im Verwaltungsverfahren keine weiteren Ermittlungen mehr durchzuführen. Dies habe sich im Klageverfahren bestätigt. Das vom Sozialgericht eingeholte Gutachten habe zu keinen neuen Erkenntnissen geführt. Ein Verstoß der Beklagten gegen die Amtsermittlungspflicht läge nicht vor.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
den Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 5. Juli 2022 aufzuheben.
Die Beschwerdegegnerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Die Beschwerdegegnerin meint, dass die Beschwerde nicht begründet sei. Die Schmerzsymptomatik des Klägers habe das gesamte Verwaltungsverfahren durchzogen. Die Beklagte habe Prof. Dr. P. bei der Beauftragung ausdrücklich gebeten, eine schmerztherapeutische, urologische und neurologische Zusatzbegutachtung zu veranlassen. Die Beklagte habe erkennbare und notwendige Ermittlungen im Verwaltungsverfahren unterlassen.
II.
Die zulässige Beschwerde der Beklagten ist begründet.
Die zulässige Beschwerde ist insbesondere statthaft gemäß § 172 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Dabei legt der Senat den Antrag der Beklagten dahingehend aus, dass sie die Aufhebung des Beschlusses des Sozialgerichts vom 5. Juli 2022 begehrt (vgl. zum Antrag bzw. zum Tenor des Beschwerdeführers: Sächsisches LSG, Beschluss vom 14. August 2013 – L 7 AS 604/12 B – juris). Denn der Senat geht von dem aus, was die Beklagte erreichen möchte (vgl. im Allgemeinen zur Auslegung von Anträgen: Keller in: Meyer-Ladewig, SGG, 13. Auflage, § 123 Rn. 3). Der Senat ist nicht an die Fassung der Anträge gebunden (§§ 153 Abs. 1, 123 SGG).
Die Beschwerde ist auch nicht gemäß § 172 Abs. 3 Nr. 4 SGG ausgeschlossen, da in der Hauptsache ein Rechtsmittel gegeben war und weil die hier im Streit stehenden Kosten für das im Klageverfahren von Amts wegen eingeholte neurologische Sachverständigengutachten den Wert von 200,00 € übersteigen. Die Beschwerde wurde auch form- und fristgerecht erhoben (§ 173 Satz 1, 2 SGG).
Die Beschwerde der Beklagten ist zudem begründet. Die Voraussetzungen, um der Beklagten die Kosten für ein im Klageverfahren von Amts wegen eingeholtes neurologisches Sachverständigengutachten in Höhe von 2.722,39 € aufzuerlegen, liegen nicht vor. Daher ist der Beschluss des Sozialgerichts vom 5. Juli 2022 aufzuheben.
Rechtsgrundlage für die Kostenauferlegung wegen unzureichender Ermittlungen im Verwaltungsverfahren ist § 192 Abs. 4 SGG. Danach kann das Gericht der Behörde durch gesonderten Beschluss ganz oder teilweise die Kosten auferlegen, die dadurch verursacht werden, dass die Behörde erkennbare und notwendige Ermittlungen im Verwaltungsverfahren unterlassen hat, die im gerichtlichen Verfahren nachgeholt wurden. Voraussetzung für die Ermessensausübung des Gerichts („kann“) ist somit zunächst, dass die Behörde im Verwaltungsverfahren erkennbare und notwendige Ermittlungen unterlassen hat (vgl. nur: LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 22. März 2018 – L 10 SB 126/17 B – juris Rn. 15; Thüringer LSG, Beschluss vom 17. Januar 2017 – L 5 SB 1136/15 B – juris Rn. 4).
Notwendig sind Ermittlungen, wenn sie nach der Amtsermittlungspflicht der Behörde im Sinne der §§ 20 und 21 SGB X nicht nur sinnvoll, sondern unverzichtbar gewesen sind (vgl. nur: LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 3. Dezember 2020 – L 3 SB 2455/20 B – juris Rn. 24; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 13.3.2020 – L 3 U 142/19 B – juris Rn. 16; Thüringer LSG, Beschluss vom 25. September 2019 – L 5 SB 746/17 B – juris Rn. 4; Jungeblut in: BeckOK Sozialrecht, SGG § 192, Rn. 26b m.w.N.). Gemäß § 21 Abs. 1 Satz 1 SGB X bedient sich die Behörde derjenigen Beweismittel, die sie nach pflichtgemäßem Ermessen zur Ermittlung des Sachverhalts für erforderlich hält. Dieses pflichtgemäße Ermessen überschreitet sie, wenn sie einen Beweis nicht erhebt, der sich ihr bei vernünftiger Überlegung als für die Entscheidung bedeutsam hätte aufdrängen müssen (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 3. März 2017 – L 18 KN 92/16 B – juris Rn. 8 m.w.N.). Maßgebliche sind die Umstände des Einzelfalls (B. Schmidt in Meyer-Ladewig, SGG, 13. Auflage, § 192 Rn. 18).
Erkennbar sind notwendige Ermittlungen, wenn diese sich der Behörde ausgehend von den gesetzlichen Bestimmungen und ihrer höchstrichterlichen Auslegung beziehungsweise – mangels einer solchen – von einem vertretbaren Rechtsstandpunkt aus erschließen musste. Die Ermittlung muss sich der Behörde im Verwaltungs- oder Widerspruchsverfahren aufgrund des Vortrags der Beteiligten oder nach dem Akteninhalt aufdrängen (LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 3. Dezember 2020 – L 3 SB 2455/20 B – juris Rn. 24; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 13.3.2020 – L 3 U 142/19 B – juris Rn. 16).
Schließlich muss das Gericht die unterlassenen Ermittlungen nachgeholt haben und die gerichtlichen Ermittlungen bzw. die dafür entstandenen Kosten müssen kausal auf den unterlassenen Ermittlungen der Behörde im Verwaltungsverfahren beruhen (Stotz in: jurisPK-SGG § 192, Rn. 103, Stand: 15.06.2022). An dieser Kausalität fehlt es etwa, wenn die Einholung des Gutachtens auf einer veränderten Sach- oder Rechtslage oder auf einem neuen Vorbringen des Versicherten beruht (LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 3. Dezember 2020 – L 3 SB 2455/20 B – juris Rn. 36).
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung, ob Ermittlungen im Verwaltungsverfahren erkennbar und notwendig waren, ist der Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung, also der Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides (LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 3. Dezember 2020 – L 3 SB 2455/20 B – juris Rn. 24; Stotz in: jurisPK-SGG § 192 Rn. 103, Stand: 15.06.2022). Die Notwendigkeit der Vornahme von Ermittlungen im Sinne des § 192 Abs. 4 SGG wird nicht nachträglich durch den Umstand beseitigt, dass die Ergebnisse der Ermittlungen den Kläger seinem Ziel nicht nähergebracht haben (LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 3. Dezember 2020 – L 3 SB 2455/20 B – juris Rn. 34). Die Möglichkeit der Verwaltung die Kosten für Ermittlungen aufzuerlegen, soll nach der Gesetzesbegründung gerade unabhängig vom Verfahrensausgang möglich sein (BT-Drs. 16/7716, S. 23).
Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe liegen hier die Voraussetzungen nicht vor, um der Beklagten die Kosten für das im Klageverfahren von Amts wegen eingeholte neurologische Sachverständigengutachten des Prof. Dr. F. in Höhe von 2.722,39 € aufzuerlegen. Denn das Sozialgericht hat durch das im Klageverfahren von Amts wegen eingeholte neurologische Sachverständigengutachten des Prof. Dr. F. keine von der Beklagten im Verwaltungsverfahren unterlassene notwendige Ermittlung im Sinne des § 192 Abs. 4 Satz 1 SGG nachgeholt.
Der Beklagten kann zunächst nicht vorgehalten werden, dass das Sozialgericht ein „schmerztherapeutisches Gutachten“ im Klageverfahren nachgeholt habe. Zwar weist die Beschwerdegegnerin zutreffend darauf hin, dass Prof. Dr. P. im Widerspruchsverfahren bei der Beauftragung durch die Beklagte ausdrücklich gebeten wurde, eine schmerztherapeutische, urologische und neurologische Zusatzbegutachtung zu veranlassen und dass dies nicht erfolgte. Im Klageverfahren vor dem Sozialgericht wurde jedoch weder eine urologische, noch eine schmerztherapeutische Begutachtung durchgeführt und somit auch nicht nachgeholt. Eine Untersuchung bzw. Begutachtung des Klägers im Hinblick auf seine Schmerzen hat durch Prof. Dr. F. nämlich gerade nicht stattgefunden, auch wenn der Sachverständige „Arzt für spezielle Schmerztherapie“ ist. Vielmehr hat Prof. Dr. F. ausdrücklich ein neurologisches und gerade kein „schmerztherapeutisches“ Sachverständigengutachten erstellt. Er hat ausweislich des Sachverständigengutachtens vom 29. März 2021 nur einen neurologischen Untersuchungsbefund erhoben. Demgegenüber würde die Begutachtung von Schmerzen eine eingehende körperliche sowie psychopathologische Befunderhebung erfordern. Dies ist eine interdisziplinäre Aufgabe, wobei das Grundproblem bei der Begutachtung von Schmerzen gerade in der Objektivierung subjektiv empfundener Beschwerden besteht, da sich Schmerzen durch klinische oder apparative Verfahren nicht messen lassen (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Auflage 2017, S. 237f.). Für die Beurteilung von schmerzbedingten Funktionsbeeinträchtigungen werden dabei häufig Fragebögen und Schmerzskalen verwendet (vgl. dazu etwa: Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Auflage 2017, S. 238; S1-Leitlinie Chronischer Schmerz der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin, S. 2; S2k-Leitlinie Diagnose und nicht interventionelle Therapie neuropathischer Schmerzen der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, S. 17). Für die Prüfung der MdE kommt es bei der Berücksichtigung der Schmerzen darauf an, dass nicht der Schmerz selbst, sondern seiner Wirkung auf die Erwerbsfähigkeit des Betroffenen in die Bewertung einfließt (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Auflage 2017, S. 244). All dies hat der Sachverständige Prof. Dr. F. in seine Begutachtung aber gerade nicht einfließen lassen, so dass eben keine schmerztherapeutische Zusatzbegutachtung im Klageverfahren nachgeholt wurde. Vielmehr hat Prof. Dr. F. ein rein neurologisches Sachverständigengutachten erstellt. Bezüglich der Schmerzintensität und der Auswirkungen der Schmerzen des Klägers auf die MdE verweist er darauf, dass dies orthopädisch zu prüfen sei und insoweit zitiert er letztlich sogar das im Verwaltungsverfahren von der Beklagten eingeholte orthopädische Gutachten des Prof. Dr. P.
Der Tatbestand des § 192 Abs. 4 Satz 1 SGG ist auch nicht deshalb erfüllt, weil das Sozialgericht im gerichtlichen Verfahren das neurologische Gutachten des Prof. Dr. F. eingeholt hat. Denn die Einholung eines neurologischen Sachverständigengutachtens im Verwaltungsverfahren war im vorliegenden Einzelfall nicht notwendig im Sinne des § 192 Abs. 4 SGG. Der Beklagten kann hier nicht vorgeworfen werden, dass sich ihr im Rahmen der Ausübung ihres pflichtgemäßem Ermessen zur Ermittlung des Sachverhalts die Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens aus dem neurologischen Fachgebiet hätte aufdrängen müssen bzw. dass dies unverzichtbar gewesen sei.
Art und Umfang der Amtsermittlung richten sich nach dem jeweiligen Verfahrensgegenstand und dieser wird durch materielles Recht vorgegeben (Luthe in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Auflage, § 20 Rn. 12, Stand: 11.05.2021). Im vorliegenden Hauptsacheverfahren kam es für die Gewährung einer Rente maßgeblich auf die MdE des Klägers an, die sich gemäß § 56 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch – Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII) nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens richtet. Steht die unfallbedingte Leistungseinbuße fest, so ist zu bewerten, wie sie sich im allgemeinen Erwerbsleben auswirkt (BSG, Urteil vom 29. November 1956 – 2 RU 121/56 – BSGE 4, 147). Die Schadensbemessung erfolgt abstrakt. Bewertet werden dabei die unfallbedingten Funktionsdefizite und nicht Befunde und Erkrankungen (Scholz in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VII, 2. Auflage 2014, § 56 Rn. 47, 49, 57). Die Bemessung des Grades der MdE ist eine tatsächliche Feststellung, die der Richter nach freier, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnener Überzeugung (BSG, Urteil vom 19. Dezember 2000 – B 2 U 49/99 R – juris) anhand der durch medizinische Sachverständigengutachten ermittelten Funktionsdefizite trifft (Scholz in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VII, § 56 Rn. 58). Zur Einschätzung der MdE sind Erfahrungssätze zu beachten und anzuwenden. Dabei handelt es sich um von der Rechtsprechung und in den einschlägigen Fachkreisen, dem versicherungsrechtlichen sowie dem versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeitete Empfehlungen, die sich über einen gewissen Zeitraum gebildet und verfestigt haben und allgemeine Anerkennung und Akzeptanz bei Gutachtern, Versicherungsträgern und Gerichten sowie Betroffenen gefunden haben. Diesen Erfahrungssätzen kommt die Bedeutung eines antizipierten Sachverständigengutachtens zu und sie bilden die Basis für einen Vorschlag des medizinischen Sachverständigen zur Höhe der MdE im Einzelfall (Deppermann-Wöbbeking, Die sozialrechtliche Bewertung von seelischen Störungen nach Unfällen in: Thomann, Klaus-Dieter (Hrsg.), Personenschäden und Unfallverletzungen, 2015, S. 633; Scholz in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VII, § 56 Rn. 58 ff.). Diese Richtwerte schließen im Übrigen die üblicherweise mit körperlichen Funktionseinschränkungen einhergehenden Schmerzen mit ein (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Auflage 2017, S. 244).
Vor dem Hintergrund dieses rechtlichen Maßstabes war im vorliegenden Einzelfall im Verwaltungsverfahren die Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens aus dem neurologischen Fachgebiet nicht im Sinne des § 192 Abs. 4 Satz 1 SGG unverzichtbar. Denn wenn nach umfangreichen Ermittlungen der Behörde im Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren - wie hier - keine greifbaren Anhaltspunkte für neurologische Defizite des Versicherten bestehen und der von der Behörde auch mit der Veranlassung einer neurologischen Zusatzbegutachtung beauftragte Sachverständige zu dem Ergebnis kommt, dass aus einer neurologischen Zusatzbegutachtung keine weiteren Erkenntnisse zu erwarten seien, ist nicht davon auszugehen, dass eine neurologische Begutachtung im Rahmen der Amtsermittlung unverzichtbar ist. Dafür bedürfte es weiterer Anhaltspunkte, die hier nicht vorliegen. Jedenfalls hat die Beklagte in einer solchen Konstellation ihr pflichtgemäßes Ermessen im Rahmen der Amtsermittlung insoweit nicht überschritten.
Der Beklagten kann auch nicht vorgehalten werden, dass sie sich im Rahmen ihrer Amtsermittlung insoweit nicht auf die „fachfremden“ orthopädischen Sachverständigengutachten habe verlassen dürfen. Gerade in Schnittstellenbereichen mehrerer Fachgebiete – wie hier im Bereich der Begutachtung von Schmerzen - kann jedenfalls nicht pauschal argumentiert werden, dass es sich um einen für einen Sachverständigen fachfremden Themenkomplex handelt und das Sachverständigengutachten deshalb keine Aussagekraft haben (LSG Hamburg, Urteil vom 19. Juli 2018 – L 3 R 75/17 – juris Rn. 25). In solchen Bereichen kommt es für die Qualifikation eines Gutachters nämlich nicht entscheidend darauf an, ob er von Haus aus als Internist, Rheumatologe, Orthopäde, Neurologe oder Psychiater tätig ist (BSG, Beschluss vom 9. April 2003 – B 5 RJ 80/02 B – juris Rn. 9). Im Ergebnis kann daher der Beklagten hier nicht vorgeworfen werden, dass sie nach umfangreichen Ermittlungen ohne die Einholung eines weiteren Gutachtens aus dem neurologischen Fachgebiet das Widerspruchsverfahren zum Abschluss gebracht hat. Dies war im vorliegenden Einzelfall nach Auffassung des Senats vertretbar. Jedenfalls war es nicht unverzichtbar im Sinne des § 192 Abs. 4 Satz 1 SGG im Verwaltungsverfahren ein weiteres Sachverständigengutachten aus dem neurologischen Fachgebiet einzuholen.
Der Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt am Main ist somit bereits deshalb aufzuheben, weil die Ermessen eröffnenden Tatbestandsvoraussetzungen des § 192 Abs. 4 Satz 1 SGG nicht vorgelegen haben. Dahingestellt bleiben kann daher insbesondere die Frage, ob der angegriffenen Entscheidung des Sozialgerichts ausreichende und nachvollziehbare Erwägungen im Hinblick auf das Entschließungs- und Auswahlermessen des Gerichts zugrunde lagen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), da es sich bei dem vorliegenden Beschwerdeverfahren um ein von dem Hauptsacheverfahren verschiedenes Nebenverfahren handelt und keiner der Beteiligten des Beschwerdeverfahrens zu dem nach § 183 SGG privilegierten Personenkreis gehört (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 11. Mai 2021 – L 10 VE 50/19 B – juris Rn. 22; Stotz in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 192 Rn. 121, Stand: 15.06.2022). Danach trägt der unterliegende Teil die Kosten des Verfahrens, somit die Beschwerdegegnerin (vgl. zur entsprechenden Anwendung des § 46 Abs. 1 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten i.V.m. § 467 Abs. 1 der Strafprozessordnung (StPO): LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 16. Januar 2012 – L 5 AS 228/11 B – juris Rn. 12; Stotz in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 192 Rn. 121, Stand: 15.06.2022).
Gerichtskosten sind nicht zu erheben, weil das Land als Gegner im Beschwerdeverfahren nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Gerichtskostengesetz (GKG) von Gerichtskosten befreit ist (Schleswig-Holsteinisches LSG, Beschluss vom 25. April 2016 – L 6 AS 63/16 B – juris Rn. 19; BGH, Beschluss vom 12. Februar 2009 – IX ZB 215/07 – juris Rn. 11). Dies findet im Kostentenor Ausdruck.
Der Festsetzung eines Streitwerts bedarf es demnach nicht (§ 2 Gerichtskostengesetz -GKG bzw. § 3 Abs. 1 GKG i.V.m. Nr. 7405 KV zum GKG).
Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.