S 15 KR 26/21

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG München (FSB)
Sachgebiet
Krankenversicherung
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 15 KR 26/21
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Zum Erfordernis des Ausschöpfens konservativer Therapiebemühungen vor einer bariatrischen Operation.

2. Zu den Leitlinienempfehlungen als bestmögliche Evidenz im Sinne der aktuellen BSG-Rechtsprechung (vgl. Entscheidung vom 22.06.2022, Az. B 1 KR 19/21 R).


I. Die Klage wird abgewiesen.

II. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.

III. Der Streitwert wird auf 7.201,60 € festgesetzt.


T a t b e s t a n d :

Streitig ist eine Forderung wegen Krankenhausbehandlung.
Die Beklagte ist eine gesetzliche Krankenversicherung, die Klägerin Trägerin eines zugelassenen Krankenhauses (KH) mit der Berechtigung, Patienten der Beklagten zu behandeln.
Die im Jahre 1980 geborene Patientin B. (nunmehr: P) wurde im Zeitraum vom 21.10.2019 bis zum 26.10.2019 im KH der Klägerin stationär behandelt. Hierfür wurden am 29.10.2019 unter Zugrundelegung der Fallpauschale K04Z (große Eingriffe bei Adipositas) 7.201,60 € in Rechnung gestellt (Zahlungsziel: 19.11.2019). Gem. der Verwaltungsakte wies die Beklagte die Rechnung zurück. Nachdem die Beklagte fristgemäß in die Fallprüfung eintrat, gelangte der Medizinische Dienst der Krankenversicherung in Bayern (MDK Bayern) mit Stellungnahme vom 06.07.2020 zu dem Ergebnis, dass eine medizinische, leitliniengerechte Indikation für den Eingriff nicht ableitbar sei. P habe zudem einen privaten Behandlungsvertrag unterschrieben, wonach sie im Falle der Ablehnung der Kostenübernahme seitens der Beklagten als Selbstzahlerin zur Begleichung der Operationskosten verpflichtet sei.
Die Klägerin ließ am 28.04.2020 Klage zum Sozialgericht München erheben.
P habe vor der Operation unter einer Adipositas per magna mit einem BMI von 41 kg/m2 gelitten. Die Adipositas sei therapierefraktär gewesen.


Die Klägerin beantragt:
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 7.201,60 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von vier Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 20.11.2019 zu zahlen.


Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.


Die konservativen Behandlungsmöglichkeiten seien nicht ausgeschöpft gewesen. Adipositas-assoziierte Begleiterkrankungen seien nicht dokumentiert. Zudem sei vorliegend die falsche Forderung eingeklagt, da die Beklagte bzgl. des Behandlungsfalls von P zunächst bezahlt und sodann aufgrund eines öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruchs gegen eine unstreitige Forderung aufgerechnet habe, so dass diese Forderung Klagegegenstand sein müsste. Mit Schriftsatz vom 14.09.2022 wurde dieser Vortrag mit Vorlage zweier Zahlungsmittelungen der Beklagten an die Klägerin vom 02.12.2019 und vom 14.08.2020 substantiiert. Danach zahlte die Beklagte zunächst am 02.12.2019 7.201,60 € auf den Rechnungsbetrag und rechnete am 14.08.2020 in voller Höhe mit unstreitigen Forderungen der Klägerin auf. Kontobelege, die die Zahlungen nachweisen, übersandte die Beklagte nicht.
Aufgrund richterlicher Verfügung vom 14.02.2022 legte die Aktivpartei mit Schriftsatz vom 31.07.2022 das Protokoll des Adipositasboard vor. Auf Bl. 48 Rs der Gerichtsakte wird verwiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird zur Ergänzung des Sachverhalts auf den Inhalt der Verwaltungsakte der Beklagten sowie der Gerichtsakte des hiesigen Verfahrens Bezug genommen.


E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Eine Entscheidung im schriftlichen Verfahren (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG) ist möglich, da die Beteiligten dem zugestimmt haben.
Die zulässige Klage ist nicht begründet.
Dahinstehen kann, ob auf die Rechnung ursprünglich bezahlt wurde und anschließend aufgerechnet wurde (d.h. eine zunächst unstreitige Forderung mittels Aufrechnung gekürzt wurde und diese Klagegegenstand sein müsste) oder aber auf die hier streitige Forderung bzgl. der Behandlung von P noch nicht gezahlt wurde. Nach den seitens der Beklagten übersandten Zahlungsmitteilungen ist ersteres der Fall, sodass die Aktivpartei bereits die falsche Forderung, nämlich die aus dem Behandlungsfall der P, eingeklagt hätte. Dies ist vorliegend hingegen nicht streitentscheidend, da ein Anspruch auf Begleichung der Forderung aus dem Behandlungsfall von P nicht bestand. Es lag eine primäre Fehlbelegung vor, so dass die Beklagte berechtigt war, entweder gar nicht auf die Forderung zu leisten (so der Sachvortrag der Aktivpartei) oder aber einen öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch aufgrund Überzahlung mittels Aufrechnung geltend zu machen (so der Sachvortrag der Passivpartei).
1.
Die grundsätzlich als Sach- oder Dienstleistung (vgl. § 2 Abs. 2 Satz 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - SGB V) zu erbringende Krankenbehandlung, zu der auch die stationäre Behandlung in einem KH zählt (§ 27 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 i.V.m. § 39 SGB V), setzt in grundlegender Weise voraus, dass eine behandlungsbedürftige Krankheit vorliegt. In allgemeiner Hinsicht sieht § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V vor, dass die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen haben. Darüber hinaus stehen die Leistungen unter dem Vorbehalt des Wirtschaftlichkeitsgebotes (§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Diese müssen zweckmäßig und wirtschaftlich sein, sie dürfen das Maß des Notwendigen bzw. Ausreichenden nicht überschreiten (§ 12 Abs. 1 SGB V). Unter Beachtung dieser rechtlichen Rahmenbedingungen geht die Rechtsprechung im Allgemeinen davon aus, dass Behandlungsmaßnahmen, die in ein an sich gesundes Organ eingreifen, in der Regel ausgeschlossen sind. Daher kommen chirurgische Maßnahmen im Bereich des (eigentlich gesunden) Magens, die mittelbar auf eine Reduzierung der Adipositas zielen (Verfahren der bariatrischen Chirurgie), nur als Ultima ratio und nur bei Patienten in Betracht, die eine Reihe weiterer Bedingungen für eine erfolgreiche Behandlung erfüllen. Die Rechtsprechung hat hierzu unter Bezugnahme auf einschlägige Leitlinien der Fachgesellschaften folgende Grundsätze entwickelt:
•     Die Adipositas muss so gravierend sein, dass ihr Krankheitswert zukommt. Hiervon ist bei einem BMI von mindestens 40 stets auszugehen; wenn der BMI "lediglich" 35 bis unter 40 beträgt, kann dies nur bei erheblichen Begleiterkrankungen angenommen werden.
•     Darüber hinaus wird in der Regel verlangt, dass die konservativen Behandlungsmöglichkeiten erschöpft sind. Davon kann ausgegangen werden, wenn der Versicherte über einen längeren Zeitraum (sechs bis zwölf Monate) an einem ärztlich überwachten bzw. koordinierten multimodalen Therapiekonzept, welches unter anderem Diätmaßnahmen, Schulungen, Bewegungs- und Psychotherapie umfasst, erfolglos teilgenommen hat.
•     Schließlich dürfen keine wesentlichen medizinischen Kontraindikationen gegen die Durchführung dieser Operation bestehen. Dies beinhaltet unter anderem, dass manifeste psychiatrische Erkrankungen fehlen und eine lebenslange medizinische Nachbetreuung des Versicherten gewährleistet ist. Es dürfen an der Motivation des Versicherten zur Einhaltung der ärztlichen Vorgaben für das Ernährungsverhalten nach Magenverkleinerung keine ernsthaften Zweifel bestehen
(vgl. insg. BSG, Urteil vom 19.02.2003, B 1 KR 1/02 R; BSG, Urteil vom 16.12.2008, B 1 KR 2/08 R, zitiert nach Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 04. Dezember 2018 - L 20 KR 191/16 -, Rn. 40, juris).
Das BSG (Urteil vom 16. Dezember 2008 - B 1 KR 2/08 R -, Rn. 23, juris) führte hierzu klarstellend aus: "Sodann muss untersucht werden, ob nach dem damals aktuellen Stand der wissenschaftlichen Diskussion aus medizinischer Sicht die Voraussetzungen für einen chirurgischen Eingriff in ein gesundes Körperorgan gegeben waren. Die Implantation eines Magenbandes kommt nur als Ultima Ratio (...) in Betracht, (...)."

a.
Oktober 2019 existierten zwei S3-Leitlinien zur Chirurgie bzw. Therapie der Adipositas, die folgende Aussagen zur primären Operationsindikation enthielten:
S3-Leitlinie "Chirurgie der Adipositas" vom Juni 2010 (Chirurgische Arbeitsgemeinschaft für Adipositastherapie in Zusammenarbeit mit: Deutsche Adipositas-Gesellschaft - DAG, Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin) - Abschnitt 3.2 Unterpunkt 4:
"Primäre Indikation:
Lassen Art und/oder Schwere der Krankheit bzw. psychosoziale Gegebenheiten bei Erwachsenen annehmen, dass eine chirurgische Therapie nicht aufgeschoben werden kann oder die konservative Therapie ohne Aussicht auf Erfolg ist, kann in Ausnahmefällen auch primär eine chirurgische Therapie durchgeführt werden; die Indikation hierzu ist durch einen in der Adipositastherapie qualifizierten Arzt und einen bariatrischen Chirurgen gemeinsam zu stellen." (zitiert nach Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 04. Dezember 2018 - L 20 KR 191/16 -, Rn. 52, juris).
Damit hat die Leitlinienkommission ein weiteres Beurteilungskriterium nach eingehender Diskussion präzisierend in die neuen Leitlinien aufgenommen, nämlich den Begriff der geringen Erfolgsaussicht der konservativen Therapie.
Diese Einschätzung wurde nunmehr in der aktuellen Leitlinie (Februar 2018) bestätigt und konkretisiert. Dort heißt es in Empfehlung 4.9 (S. 35):
"Unter bestimmten Umständen kann eine Primärindikation zu einem adipositaschirurgischen Eingriff gestellt werden, ohne dass vorher ein konservativer Therapieversuch erfolgte. Die Primärindikation kann gestellt werden, wenn eine der folgenden Bedingungen gegeben ist:
◦     bei Patienten mit einem BMI von größer oder gleich 50 kg/m2
◦     bei Patienten, bei denen ein konservativer Therapieversuch durch das multidisziplinäre Team als nicht erfolgversprechend bzw. aussichtslos eingestuft wurde
◦     bei Patienten mit besonderer Schwere von Begleit- und Folgeerkrankungen, die keinen Aufschub eines operativen Eingriffs erlauben."
b.
Vorliegend wurde die Indikation für die Operation nicht durch einen in der Adipositastherapie qualifizierten Arzt und einen bariatrischen Chirurgen gemeinsam erhoben, so dass die Indikationsstellung bereits formal fehlerhaft war. Gem. dem mit Schreiben vom 31.07.2022 vorgelegten Protokoll der Adipositas-Board-Sitzung vom 26.04.2019 war kein in der Adipositastherapie qualifizierter Arzt der Inneren Medizin anwesend. Das Board wird repräsentiert alleine von Chirurgen (wobei der Chefarzt H2. auch Fortbildungen im Bereich der Ernährungs- und Sportmedizin vorweist) sowie durch die Diätassistentin und Ernährungsberaterin W. und den Psychologen F. Zudem hat H2. in seiner Eigenschaft als MVZ-Arzt, Boardmitglied und operierender Chirurg (Chefarzt) mit Weiterbildung Ernährungsmedizin, ohne dass dem Board zugleich ein Internist mit der Weiterbildung Ernährungsmedizin angehört, so viel Einfluss auf die Entscheidung des Boards, dass die Zielrichtung der Richtlinie, mit der Forderung eines interdisziplinären Teams eine ergebnisoffene Prüfung im Hinblick auf die Erfolgsaussichten einer konservativen Behandlung zu erlangen, nach Überzeugung des Gerichts nicht erreicht werden kann. In diesem Zusammenhang ist auch auffällig, dass von zehn am 26.04.2019 besprochenen Fällen bei keinem einzigen Fall eine OP-Indikation aufgrund fehlender Ausschöpfung der konservativen Behandlungsmöglichkeiten verneint wurde.
Offen bleiben kann hingegen, welche Rechtsfolge daran knüpft, dass die streitgegenständliche Operation formal nicht leitliniengerecht erfolgt ist. Das BSG führt aus, dass nach dem damals aktuellen Stand der wissenschaftlichen Diskussion aus medizinischer Sicht die Voraussetzungen für einen chirurgischen Eingriff in ein gesundes Körperorgan gegeben sein müssen. Hier wird also an die medizinischen Voraussetzungen (die leitliniengerecht von zwei Ärzten unterschiedlicher Fachrichtung festgestellt werden müssen) und nicht an formale Voraussetzungen angeknüpft. Die Kammer neigt daher der Auffassung zu, dass auch dann ein Vergütungsanspruch besteht, wenn eine medizinische Ultima ratio-Situation tatsächlich bestanden hat (unabhängig von der Feststellung).
Hierfür spricht auch, dass die Leitlinien als solche rechtlich nicht bindend sind und daher keine formalen Leistungs- und Vergütungsvoraussetzungen, wie dies in anderen Leistungsbereichen bekannt ist (vgl. etwa Urteil des LSG Hamburg vom 22.06.2017, L 1 KR 39/15), aufstellen können.
c.
Es lag eine Kontraindikation für eine bariatrische Operation vor. Kontraindikationen sind insoweit auch psychiatrische Komorbiditäten. Gem. Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 09.11.2021 (Az. L 4 KR 310/20, S. 17) muss das Fehlen wesentlicher psychiatrischer Kontraindikationen vor der Operation mit entsprechenden Befundberichten belegt sein, wenn psychiatrische Erkrankungen aktenkundig sind.
Insoweit ist auch auf S. 19 der Leitlinie Chirurgie 2010 zu verweisen, in der die psychosozialen Nebenwirkungen einer Adipositas-Behandlung beschrieben werden. Verwiesen wird auch auf S. 22 der Richtlinie (Unterstreichung durch Kammer): "Die bariatrischen Operationen sind zwar die wirksamsten Methoden zur Gewichtsreduktion, aber keine zwangsläufige Erfolgsgarantie für den einzelnen Patienten, denn für den Gewichtsverlauf ist die Adhärenz im Hinblick auf Verhalten und langfristige Nachsorge wichtig. (...) Instabile psychopathologische Zustände, aktive Substanzabhängigkeit und eine unbehandelte Bulimia nervosa werden als Kontraindikationen bewertet."
In der im Gerichtsverfahren nachgereichten Fallbesprechung des Adipositasboards vom 26.04.2019 wird dargelegt, dass P aus psychologischer Sicht instabil sei. Eine ambulante Psychotherapie sei dringend indiziert. Aufgrund von Refluxbeschwerden müsste zudem erst eine Hernienversorgung mit entsprechender Nachsorge vorgenommen werden. Gleichwohl wurde P danach im Oktober 2019 operiert, ohne dass sich das Adipositasboard noch einmal mit dem Fall der P befasst hat und ohne dass festgestellt wurde, dass die von der Klägerin selbst festgestellten Kontraindikationen mittlerweile nicht mehr bestehen. Es findet sich in der Patientenakte alleine die fachpsychologische Stellungnahme vom 22.03.2019, die vor der Befassung des Falls durch das Adipositasboard verfasst wurde. Es ist daher davon auszugehen, dass P nach April 2019 bis zur Operation im Oktober 2019 die "dringend indizierte" Psychotherapie nicht in Angriff genommen hat. Auch die Hernienversorgung ist nicht dokumentiert.

d.
Die Kammer sieht das Argument des MDK, dem sich die Beklagte anschließt, dass bei P konservative Therapiebemühungen nicht ausreichend erfolgt sind, als erwiesen an.
Zum Fall der Klägerin wird im Beschluss des Adipositas-Board alleine vermerkt: "Konservative Maßnahmen erschöpft, weitere nicht operative Maßnahmen nicht zielführend, somit OP indiziert, Verfahren Sleeve". Dies ist indes keine begründete Einstufung, dass ein konservativer Therapieversuch aussichtslos ist, da es an einer Begründung mangelt.
Die S3-Leitlinien, die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und in der Praxis bewährten Verfahren beruhen und auf der Grundlage einer systematischen Evidenzrecherche erstellt wurden, stellen eine systematisch entwickelte Hilfe für Ärzte bei der Entscheidungsfindung in speziellen Situationen dar. Sie geben deshalb auch Verwaltung und Gerichten wichtige Entscheidungshilfen, auch wenn sie rechtlich nicht bindend sind (vgl. Hessisches LSG, Urteile vom 05.07.2016, L 1 KR 116/15, und vom 22.05.2014, L 8 KR 7/11; zitiert nach Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 04. Dezember 2018 - L 20 KR 191/16 -, Rn. 48, juris). Dies bedeutet zweierlei: Einmal ist die Ultima ratio-Situation von der Gerichtsbarkeit unabhängig zu überprüfen, zum anderen kann sich die Kammer den medizinischen Empfehlungen in den Richtlinien nicht verschließen.
aa.
Es erschließt sich der Kammer nicht, auf welcher tatsächlicher Grundlage das Adipositasboard die Feststellung getroffen hat, dass konservative Maßnahmen erschöpft seien (Empfehlung 4.9 Ziffer 1 (2018, S. 35)).
Gem. Leitlinien-Empfehlung (2018, S. 38) Nr. 4.10 gelten konservative Maßnahmen als erschöpft, wenn nach mindestens sechs Monaten umfassender Lebensstilintervention in den letzten zwei Jahren eine Reduktion des Ausgangsgewichts von mehr als 20 % bei einem BMI von mehr als 40 kg/ m² nicht erreicht wurde.
Bereits nach der Aussage der Klägerin wurde seitens P eine solche Lebensstilintervention in den zwei Jahren vor der Operation nicht versucht. Ein multimodales ärztlich betreutes Konzept, das Krankheitseinsicht, Ernährungs- und Bewegungsanleitung umfasst, findet sich in der Patientenakte nicht. P hat zwar vom 20.12.2018 (geschrieben steht: 20.12.2019; da P erst am 27.11.2018 vorstellig wurde, ist der 20.12.2018 - und nicht etwa das Jahr 2017 oder früher - gemeint) bis zum 11.03.2019 ein strukturiertes Schulungsprogramm der Schwerpunktpraxis Ernährungsmedizin von W2. besucht. Dieses Programm ist mit ca. 3 1/2 Monaten aber zu kurz. Eine bewegungstherapeutische Begleitung findet sich gar nicht. Insbesondere kann die dokumentierte Mitgliedschaft in einem Fitness-Studio eine solche professionelle Anleitung nicht ersetzen.

bb.
Es liegt auch kein anderer Fall der Ausnahmekonstellation nach Empfehlung 4.9 Ziffer 3 (2018, S. 36) vor, insbesondere hat die Klägerin weder dargelegt noch bewiesen, dass P unter besonders schweren Begleit- und Folgeerkrankungen gelitten hätte, die einen Aufschub eines operativen Eingriffs verunmöglichen.
Ausweislich der Patientenakte finden sich keine schweren Komorbiditäten bei der zum Zeitpunkt der Behandlung jungen Patientin (39 Jahre). Ausweislich des pflegerischen Aufnahmefragebogens hatte P keine chronischen Erkrankungen, insbesondere auch keinen Diabetes mellitus. Auch in der fachpsychologischen Stellungnahme von H3. vom 22.03.2019 wird von keinen (größeren) Erkrankungen berichtet, die Operation diente hiernach vor allem der gesundheitlichen Prävention. Erwähnt werden lediglich orthopädische Beeinträchtigungen und zeitweilige Schmerzen. Auch die Ernährungsmedizinerin W2. hat mit Stellungnahme vom 12.03.2019 keine Komorbiditäten angegeben.

2.
Nichts anderes ergibt sich auch nicht aus der jüngsten Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 22.06.2022 (Aktenzeichen B 1 KR 19/21 R). Hierin führt es aus:
"Nach der bisherigen Rechtsprechung sollte eine bariatrische Operation nur als ultima ratio nach tatsächlicher Ausschöpfung konservativer Behandlungsmöglichkeiten im Sinne eines multimodalen Therapiekonzeptes erforderlich sein. Dazu stellt der Senat nun Folgendes klar: Das allgemeine Qualitätsgebot fordert, dass nach dem gesicherten Stand der medizinischen Erkenntnisse, also der bestverfügbaren Evidenz, in medizinischen Fachkreisen Konsens über die Wirksamkeit und Zweckmäßigkeit der bariatrischen Operation besteht. Unter der Berücksichtigung der besonderen Risiken und Folgen eines solchen Eingriff bedeutet ultima ratio, dass die zielgerichtete irreversible Schädigung eines gesunden Organs nur dann als erforderliche Behandlung anzusehen ist, wenn die voraussichtlichen Ergebnisse dieses Eingriffs den voraussichtlichen Ergebnissen anderer Behandlungsoptionen eindeutig überlegen sind. Hierfür ist es nicht zwingend erforderlich, dass sämtliche andere Therapieoptionen zuvor tatsächlich ausgeschöpft sind. Es kommt insbesondere auf die Erfolgsaussichten der nicht-invasiven Therapieoptionen, die voraussichtliche Dauer bis zu einem spürbaren Erfolg, das Ausmaß der Folge- und Begleiterkrankungen der Adipositas und die dadurch bedingte Dringlichkeit der Gewichtsreduktion an. Im Falle des abgesenkten Qualitätsgebots verbleibt es bei der Voraussetzung der Nicht(mehr)verfügbarkeit einer Standardbehandlung."
Diese Ausführungen zeigen, dass das BSG nicht von seiner bisherigen Rechtsprechung abgewichen ist, diese vielmehr nur konkretisiert hat. Es verbleibt nach wie vor beim Ultima ratio-Ansatz der gefestigten Rechtsprechung der Sozialgerichtsbarkeit. Es muss nach den Ausführungen des BSG nach dem gesicherten Stand der medizinischen Erkenntnisse, also der bestverfügbaren Evidenz, in medizinischen Fachkreisen Konsens über die Wirksamkeit und Zweckmäßigkeit der bariatrischen Operation besteht. Entsprechend stellt die erkennende Kammer hierfür auf die gültige S3-Leitlinie ab, die diesen Konsens abbildet. Die besonderen Risiken und Folgen des Eingriffs müssen ferner vom Krankenhaus aufgrund der "zielgerichteten irreversiblen Schädigung eines gesunden Organs" stets berücksichtigt werden und das Krankenhaus ist in der Obliegenheit, die "eindeutige Überlegenheit" der Operation im Vergleich zu anderen (konservativen) Maßnahmen prognostisch darzulegen. An einer solchen prognostischen Darlegung fehlt es aber bereits im vorliegenden Fall, insbesondere hat das Adipositas-Board, wie oben bereits dargelegt, die Erfolgsaussichten der nicht-invasiven Therapieoptionen sowie die voraussichtliche Dauer bis zu einem spürbaren Erfolg weder diskutiert noch die Diskussion dokumentiert. Daher steht die "eindeutige Überlegenheit" der invasiven Therapieoption für die erkennende Kammer nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit (zu diesem Beweismaßstab vergleiche Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, § 128 Rn. 3b) fest.
Auch stellt das BSG im Rahmen dieses Abwägungsprozesses, den das operierende Krankenhaus vorzunehmen und zu dokumentieren hat, folgerichtig auf die Dringlichkeit der invasiven Maßnahme und hierbei auf die vorliegenden Komorbiditäten, die diese Dringlichkeit begründen, ab. Wie oben bereits dargelegt, sind bei P gravierende Komorbiditäten nicht vorhanden gewesen, so dass eine entsprechende Dringlichkeit der Operation nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gegeben war.
Die Einholung eines Sachverständigengutachtens ist daher bereits aus Rechtsgründen nicht erforderlich.

3.
Nach allem war die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung entspricht dem Ausgang des Verfahrens und folgt aus § 197a Abs. 1 S. 1 SGG, § 154 Abs. 1 VwGO. Das wirtschaftliche Interesse entspricht dem Klageantrag von 7.201,60 € und ist nach § 52 Abs. 3 Gerichtskostengesetz (GKG) grundsätzlich zur Bestimmung des Streitwerts zu Grunde zu legen ist. Die geltend gemachten Zinsen waren gemäß § 43 Abs. 1 GKG nicht zu berücksichtigen.

 

Rechtskraft
Aus
Saved