1. Eine Ausnahme von der Risikotragung des Versicherten bezüglich der verspäteten AU-Meldung an die Krankenkasse ist nur dann angenommen, wenn der Übermittlungsfehler in den Gefahrenbereich der Krankenkasse fällt.
2. Ist eine fehlerhafte Übermittlung der AU-Meldung durch eine von der Krankenkasse zur Verfügung gestellten App nicht hinreichend sicher erkennbar, liegt dies im Gefahrenbereich der Krankenkasse.
3. Ein Hinweis der Krankenkasse, dass die AU-Meldung postalisch oder mittels App möglich ist, erweckt den rechtsfehlerhaften Eindruck, dass eine Meldung per Telefon, Fax oder E-Mail nicht zulässig wäre.
Der Bescheid der Beklagten vom 29. November 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. Februar 2020 wird aufgehoben und die Beklagte wird verurteilt an die Rechtsnachfolgerin des verstorbenen Klägers Krankengeld für dessen Arbeitsunfähigkeit vom 18. November 2019 bis zum 27. November 2019 in der gesetzlichen Höhe zu zahlen.
Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Zahlung von Krankengeld für die Zeit vom 18. November 2019 bis zum 27. November 2019 in Höhe von insgesamt 969,30 € als Leistung nach dem Fünften Buch des Sozialgesetzbuchs – Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V).
Der 1966 geborene, 2022 verstorbene, ehemalige Kläger war bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Er litt an einer Krebserkrankung, die im streitgegenständlichen Zeitraum chemotherapeutisch behandelt wurde. Er war unter anderem in der Zeit vom 17. Oktober 2019 bis zum 15. Dezember 2019 arbeitsunfähig erkrankt.
Das Merkblatt zum Krankengeld der Beklagten enthielt unter anderem folgende Aufstellung zur Übersendung der Arbeitsunfähigkeit:
- diese kann aus technischen Gründen nicht dargestellt werden (vorhanden unter www.lareda.hessenrecht.hessen.de).
Andere Übermittlungswege sind in dem Merkblatt nicht benannt.
Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für die Zeit vom 18. November 2019 bis zum 15. Dezember 2019 vom 18. November 2019 des Arztes Dr. C. versuchte der ehemalige Kläger mittels App an die Beklagte zu übersenden. Die Beklagte konnte einen Eingang der Bescheinigung aber nicht vermerken. Erst am 28. November 2019 ging die Bescheinigung auf dem Postweg bei der Beklagten ein, nachdem es am 18. Oktober 2019 einen in der Verwaltungsakte der Beklagte nicht näher bestimmbaren Kontakt zwischen der Beklagten und dem ehemaligen Kläger zum „fehlgeschlagenen AU-Upload“ gab (Bl. 14 der PDF-Verwaltungsakte).
Mit Bescheid vom 29. November 2019 lehnte die Beklagte die Zahlung von Krankengeld für die Zeit vom 18. November 2019 bis zum 27. November 2019 ab. Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung sei nicht rechtzeitig eingereicht worden.
Hiergegen legte der ehemalige Kläger Widerspruch ein. Offenbar sei es beim Upload der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu Problemen bekommen, obwohl die App bislang problemlos genutzt worden sei. Er stehe regelmäßig bei der persönlichen Betreuerin der Beklagten im telefonischen Kontakt. Sein Krankheitsverlauf sei deshalb bekannt. Die Ablehnung des Krankengelds wegen eines bloß technischen Problems sei deshalb unverhältnismäßig.
Mit Widerspruchsbescheid vom 19. Februar 2020 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Der Krankengeldanspruch habe wegen der verspäteten Meldung der Arbeitsunfähigkeit an die Beklagte geruht. Dass es Probleme bei der Übermittlung per App gegeben habe, ändere hieran nichts, denn es hätte auch die telefonische Meldung genügt.
Dagegen hat der ehemalige Kläger am 5. März 2020 Klage vor dem Sozialgericht Darmstadt erhoben. Er meint, dass die App offenbar nicht ordnungsgemäß funktioniert habe. Wenn aber die Beklagte eine App als Möglichkeit der Übermittlung anbiete, müsse sie auch für deren ordnungsgemäße Funktionalität Sorge tragen. Die Funktion der App liege in der Risikosphäre der Beklagten. Jedenfalls sei die App zu kompliziert aufgebaut, wenn Fehlübermittlungen nicht offenkundig zu erkennen seien. Er behauptet ferner, er habe wegen der Schwere seiner Erkrankung im ständigen Kontakt mit der Beklagten gestanden. Seine Arbeitsunfähigkeit sei bei der Beklagten deshalb bekannt gewesen. Das Beharren auf die Frist sei deshalb eine bloße Förmelei.
Der ehemalige Kläger ist 2022 verstorben.
Die Rechtsnachfolgerin des ehemaligen Klägers beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 29. November 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. Februar 2020 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihr Krankengeld für die Zeit vom 18. November 2019 bis zum 27. November 2019 für die Arbeitsunfähigkeit ihres verstorbenen Ehemanns in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte behauptet, die App habe ordnungsgemäß funktioniert. Im „Postausgang“ der App sei die nicht erfolgte Übermittlung erkennbar gewesen. Sie legt zur Funktionsweise der App eine Powerpoint-Präsentation vor. Sie meint, Fehler der Übermittlung seien der Risikosphäre des Versicherten zuzuweisen, weil die rechtzeitige Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung eine Obliegenheit des Versicherten sei. Sie behauptet, im streitgegenständlichen Zeitraum habe es keinen telefonischen Kontakt zwischen dem Kläger und einer Mitarbeiterin der Beklagten gegeben.
Die Kammer hat den Internetauftritt www.barmer.de/serviceapp in Augenschein genommen (Stand: 15. Oktober 2020) und den Inhalt, sowie den Inhalt der beigezogenen Behördenakte und der Gerichtsakte zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig und begründet.
Der Bescheid der Beklagten vom 29. November 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. Februar 2020 ist rechtswidrig und betrifft die Rechtsnachfolgerin des ehemaligen Klägers in ihren Rechten. Er war daher aufzuheben. Die Rechtsnachfolgerin des ehemaligen Klägers hat Anspruch auf Zahlung von Krankengeld für die Zeit vom 18. November 2019 bis zum 27. November 2019 für die Arbeitsunfähigkeit ihres verstorbenen Ehemanns in gesetzlicher Höhe.
Gem. § 44 Abs. 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankengeld, wenn die Krankheit sie arbeitsunfähig macht oder sie auf Kosten der Krankenkasse stationär in einem Krankenhaus, einer Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtung behandelt werden. Im vorliegenden Fall hat die Kammer an den medizinischen Voraussetzungen des Krankengeldanspruchs aufgrund der Schwere der Erkrankung des Klägers keine Zweifel. Sie stehen zwischen den Beteiligten auch nicht im Streit.
Gem. § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V ruht der Krankengeldanspruch allerdings, solange die Arbeitsunfähigkeit der Krankenkasse nicht gemeldet wird.
Der Meldung der Arbeitsunfähigkeit gegenüber der Krankenkasse ist eine formfreie Tatsachenmitteilung mit dem Inhalt, dass ein Arzt – nicht notwendigerweise ein Vertragsarzt – die medizinischen Voraussetzungen der Arbeitsunfähigkeit festgestellt hat. Dass es ohne eine solche Meldung zu einem Ruhen des Anspruchs auf Krankengeld kommt, dient letztlich der Abwehr von Leistungsmissbrauch. Nur durch die unverzügliche Anzeige der Arbeitsunfähigkeit gegenüber der Krankenkasse wird, diese in die Lage versetzt eine medizinische Begutachtung durch den MDK zu beauftragen. Eine bloß retrospektive Betrachtung durch den MDK mit erheblichem zeitlichen Abstand wäre im Hinblick auf die Flüchtigkeit und Volatilität vieler Erkrankungen und der durch sie verursachten Funktionseinbußen, auf die es für den Begriff der Arbeitsunfähigkeit alleine ankommt, oft nicht effektiv, jedenfalls aber sehr ungenau. Aus diesem Blickwinkel betrachtet ist auch erklärlich, weshalb der Anspruch auf Krankengeld bei verspäteter Meldung auch dann ruht, wenn im Nachhinein die Leistungsvoraussetzungen nicht im Zweifel stehen – diese rückblickende Argumentation soll bereits von vornherein nicht eröffnet werden, um daraus resultierende Beweishoffnungen oder -schwierigkeiten gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Die Meldeobliegenheit gem. § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V gilt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) auch für die Folgebescheinigungen (BSG, Urteil vom 10.5.2012 – B 1 KR 20/11 R). Das Ruhen tritt stets ein, wenn es an der Meldung der Arbeitsunfähigkeit fehlt, grundsätzlich selbst dann, wenn den Versicherten kein Verschulden an dem Versäumnis trifft, bspw. weil die Meldung auf dem Postweg verloren gegangen ist (BSG, Urteil vom 24.6.1969 – 3 RK 64/66; BSG, Urteil vom 28.10.1981 – 3 RK 59/80).
Eine Ausnahme von dieser Risikozuweisung wird von der Rechtsprechung nur dann angenommen, wenn der Übermittlungsfehler in den Gefahrenbereich der Krankenkasse fällt (vgl. Müller, NZS 2020, 416 ff. nwN.). Dies ist dann der Fall, wenn die Krankenkasse oder der zu der Sphäre der Krankenkasse zu rechnende Vertragsarzt die Übermittlung übernommen haben (BSG, Urteil vom 28.10.1981 – 3 RK 59/80). Ferner hält die Rechtsprechung die fehlende Meldung dem Versicherten dann nicht entgegen, wenn er geschäfts- oder handlungsunfähig ist oder aber, wenn er alle in seiner Macht stehenden Bemühungen angestellt hatte, seine Ansprüche zu sichern, aber eine Fehlentscheidung seiner Krankenkasse ihn letztlich an der Realisierung gehindert hat („Gesundschreibung“ durch den MDK).
Im vorliegenden Fall geht die Kammer vom Vorliegen eines solchen Ausnahmefalls aus. Der ehemalige Kläger nutzte eine von der Beklagten bereitgestellt App zur Übermittlung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Die Nutzung der App wurde von der Beklagten selbst in ihrem Merkblatt zum Krankengeldbezug ausdrücklich empfohlen. Mit der App-Nutzung war der ehemalige Kläger offenbar hinreichend vertraut, hatte er doch zuvor mehrfach problemlos Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen hierüber eingereicht. Darauf, dass er die erfolgreiche Übermittlung zu kontrollieren hatte, wurde er auf der von der Beklagten zur Verfügung gestellten Dokumentation der App unter www.barmer.de/serviceapp nicht hingewiesen. Dort befangen sich – jedenfalls mit Stand 15. Oktober 2020 – keinerlei Hinweise darauf, dass es auch nur Kontrollmöglichkeiten gibt. Nach Auffassung der Kammer konnte sich der ehemalige Kläger deshalb zunächst auf die Funktionalität der App verlassen. Deren Funktionalität und auch deren Design – damit auch die Darstellung von Fehlermeldungen und der Funktionsdokumentation – sind der Sphäre der Beklagten zuzuordnen. Der Kläger hat hierauf keinen Einfluss. Entsprechend geht die Kammer auch davon aus, dass Disfunktionalitäten der App jedenfalls dann, wenn keine eindeutige und augenfällige Fehlermeldung erfolgt zulasten der Beklagten als App-Anbieterin gehen und nicht zulasten des jeweiligen Klägers. Dies gilt im Krankenversicherungsrecht umso mehr, als der Beklagten klar sein muss, dass die App jedenfalls auch – wie gerade auch im Falle des ehemaligen Klägers – von schwerstkranken Personen in körperlichen und/oder seelischen Ausnahmezuständen genutzt wird, weshalb entsprechend erhöhte Anforderungen an die Einfachheit der Bedienung zu stellen sind. Genügt die App diesen Ansprüchen nicht, handelt es sich um ein Organisationsversagen in der Sphäre der Krankenkasse. Eine Zurechnung der hieraus resultierenden Meldung an den Versicherten kann deshalb nicht erfolgen.
Die Hinweise auf die Kontrollmöglichkeit der Übermittlung im „Postausgang“ in der übersandten Powerpoint-Präsentation genügt zur Überzeugung der Kammer nicht. Die Beklagte konnte nicht darlegen, dass die Powerpoint-Präsentation für den ehemaligen Kläger auch nur einsehbar war.
Im Übrigen liegt auch deshalb ein Ausnahmefall für das Ruhen des Krankengeldanspruchs vor, weil der ehemalige Kläger durch das Merkblatt zum Krankengeld der Beklagten fehlerhaft über die Übermittlungsmöglichkeiten der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung belehrt war (so auch SG Bremen v. 14. Juli 2020 – S 55 KR 364/19 Rn. 41 ff.).
Krankenkassen sind zwar grundsätzlich nicht gehalten, die Versicherten über ihre Obliegenheiten im Rahmen des Krankengelds aufzuklären (BSG v. 10. Mai 2012 - B 1 KR 19/11 R; BSG v. 4. März 2014 – B 1 KR 17/13 R Rn. 19). Eine allgemeine Aufklärungspflicht nach § 13 SGB I besteht nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts nicht (st. Rspr., vgl. z.B. BSG v. 21.06.1990 - 12 RK 27/88). Erfolgt aber dennoch - was angesichts der differenzierten gesetzlichen Regelung der Krankengeldansprüche sinnvoll und wünschenswert erscheint (vgl. Müller, NZS 2020, 416 ff.) - eine Aufklärung des Versicherten über seine Obliegenheiten, so muss diese inhaltlich richtig sein. Die Krankenkasse darf Versicherte von der rechtzeitigen Meldung der Arbeitsunfähigkeit nicht durch eine unzutreffende Beratung abhalten. (BSG v. 16.12.2014 – B 1 KR 37/14 R).
Vorliegend erweckt die Belehrung im Merkblatt der Beklagten zum Krankengeld den Eindruck, als könne die Meldung der Arbeitsunfähigkeit nur durch Übersendung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und ausschließlich über die ausdrücklich ausgeführten Meldungswege - also postalisch oder über die Service-App - erfolgen. Ein Hinweis auf weitere Übermittlungsmöglichkeiten (Telefonisch, Fax oder E-Mail) fehlt vollständig. Auf die Übermittlung per E-Mail wird sogar ausdrücklich gebeten zu verzichten, obschon diese gem. § 36a Abs. 1 SGB I zulässig wäre. Der Versicherte wird ausdrücklich aufgefordert, einen der aufgeführten Übermittlungswege zu nutzen, nur so stelle er eine schnelle Zahlung des Krankengeldes sicher. Indem es in dem Merkblatt heißt, die Bescheinigung müsse innerhalb einer Woche eingereicht werden und bei verspäteter Vorlage der Bescheinigung verliere der Kläger möglicherweise Ansprüche, wird suggeriert, das Ruhen des Krankengeldanspruchs könne nur durch Vorlage der Bescheinigung verhindert werden. Damit sind die Ausführungen im Merkblatt rechtlich fehlerhaft, denn auf die Übersendung und den Eingang der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung als solche kommt es für die Verhinderung des Eintritts des Ruhenstatbestands nicht an. Eine Übersendung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nach Ablauf der Wochenfrist wäre vielmehr dann unschädlich, wenn die Mitteilung der Arbeitsunfähigkeit als solche vorab innerhalb der Wochenfrist auf anderem Weg - etwa telefonisch, per Fax oder E-Mail - erfolgt wäre.
Es kann vorliegend nicht ausgeschlossen werden, dass die fehlerhafte Beratung der Beklagten hier auch ursächlich für den nicht fristgerechten Zugang der Mitteilung des Fortbestehens der Arbeitsunfähigkeit bei der Beklagten ist. Der ohnehin mit der Beklagten in Form einer persönlichen Ansprechpartnerin im telefonischen Kontakt stehende, ehemalige Kläger hätte andernfalls auch dort – telefonisch – jedenfalls zusätzlich seine Arbeitsunfähigkeit anzeigen können.
Der Klage war deshalb stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und entspricht dem Ausgang des Verfahrens.