L 6 AS 1781/21 B

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
6
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 18 AS 2858/21 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 6 AS 1781/21 B
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Düsseldorf vom 24.11.2021 geändert.

Den Antragstellern wird für das Verfahren auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes vor dem Sozialgericht Düsseldorf Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin Z aus N bewilligt.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe:

I.

Die Antragsteller begehren Prozesskostenhilfe für ein inzwischen erledigtes Verfahren im einstweiligen Rechtsschutz, in dem die Beteiligten über die aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs gegen einen Entziehungsbescheid des Antragsgegners stritten.

Mit Bescheid vom 01.07.2021 bewilligte der Antragsgegner den Antragstellern Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) für die Zeit vom 01.08.2021 bis zum 31.07.2022 unter anspruchsmindernder Anrechnung von Kindergeld für die Antragsteller zu 3 bis 5 sowie der vom Antragsteller zu 2 bezogenen Rente wegen Erwerbsminderung.

Unter dem 11.08.2021 vermerkte die zuständige Sachbearbeiterin, dass im Jahr 2013 die Rente des Antragstellers zu 2 zunächst befristet gewährt worden sei. Es sei anschließend kein neuer Rentenbescheid angefordert worden, so dass nicht aufgefallen sei, dass der Antragsteller nunmehr eine Rente auf Dauer erhalte. Der Antragsgegner meldete bei der Stadt N einen Erstattungsanspruch an. Mit Schreiben vom 16.08.2021 forderte der Antragsgegner die Antragstellerin zu 1 auf, den Bescheid über die Rentenbewilligung auf Dauer für den Antragsteller zu 2 und den beigefügten „Formlosen Antrag“ unterschrieben vorzulegen. Mit weiterem Schreiben vom 16.08.2021 forderte er zudem den Antragsteller zu 2 auf, bei der Stadt N Grundsicherung zu beantragen und die Bescheinigung über die erfolgte Antragstellung bis zum 28.08.2021 vorzulegen. Ansonsten sei der Antragsgegner berechtigt, den Antrag ersatzweise zu stellen, wenn die Antragstellung nicht umgehend erfolge. Komme er seinen Mitwirkungspflichten nicht nach und versage der vorrangige Träger daraufhin bestandskräftig, könnten auch seine Leistungen nach dem SGB II so lange versagt oder entzogen werden, bis er seiner Verpflichtung nachgekommen sei. Mit Schreiben vom 31.08.2021 erinnerte der Antragsgegner die Antragstellerin zu 1 an die Vorlage des Rentenbescheides und an die Beantragung von Grundsicherungsleistungen. Die Antragstellerin legte Anfang September 2021 den Bescheid der Deutschen Rentenversicherung Rheinland vom 14.12.2017 über die Bewilligung von Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer sowie den ausgefüllten und unterschriebenen „Formlosen Antrag auf Leistungen nach den Bestimmungen des 3./4. Kapitels SGB XII“ vor. Den Antrag leitete der Antragsgegner an die Stadt N weiter.

Unter dem 20.10.2021 vermerkte die Sachbearbeiterin, dass der Antragsteller zu 2 nach Rücksprache mit der Grundsicherung keinen Antrag gestellt habe, und entzog mit an den Antragsteller zu 2 gerichtetem Bescheid vom selben Tag die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ab dem 01.11.2021. Er sei seinen Mitwirkungspflichten nicht nachgekommen. Er sei mit Schreiben vom 31.08.2021 darauf hingewiesen worden, dass die fehlende Mitwirkung gegenüber der Stadt N auch eine Entziehung seiner Leistungen zur Folge habe. Mit E-Mail vom 25.10.2021 leitete die Stadt N ein Anhörungsschreiben vom 21.10.2021 weiter, in dem der Antragsteller zu 2 über die beabsichtigte Ablehnung seines Antrages angehört wurde. Er habe die benötigten Antragsunterlagen nicht eingereicht und sich nicht mit ihr in Verbindung gesetzt.

Mit Schreiben vom 03.11.2021 erhoben die durch ihre Bevollmächtigte vertretenen Antragsteller Widerspruch gegen den Entziehungsbescheid vom 20.10.2021. Der Antragsteller zu 2 sei nie aufgefordert worden, einen Antrag auf Grundsicherung zu stellen. Aufgefordert worden sei die Antragstellerin zu 1, die aber gesund sei. Ohnehin käme eine Entziehung nur bei dem Antragsteller zu 2 in Betracht. Der Antragsgegner habe aber sämtliche Leistungen entzogen. Er werde aufgefordert, die vollständigen Leistungen sofort auszuzahlen und der Prozessbevollmächtigten bis zum nächsten Tag 12 Uhr darüber schriftlich oder telefonisch eine Nachricht zu geben. Ansonsten werde sie nach Fristablauf beim Sozialgericht (SG) Düsseldorf die Feststellung, dass der Widerspruch aufschiebende Wirkung habe, beantragen.

Die Antragsteller haben am 04.11.2021 vor dem Sozialgericht Düsseldorf einen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes sowie einen Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe gestellt.

Mit Bescheid vom 04.11.2021 hob der Antragsgegner den Bescheid vom 20.10.2021 auf. Eine telefonische Mitteilung hierüber erfolgte nicht. Mit Schreiben vom 23.11.2021 haben die Antragsteller das Eilverfahren für erledigt erklärt.

Das SG hat mit Beschluss vom 24.11.2021 den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin Z abgelehnt. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes habe zu keinem Zeitpunkt hinreichende Erfolgsaussicht geboten. Die Antragsteller seien nicht rechtsschutzbedürftig gewesen. Am Rechtsschutzbedürfnis fehle es, wenn das angestrebte Ziel auf einfachere und näherliegende Weise erreicht werden könne und sich dadurch die Einleitung gerichtlicher Schritte als überflüssig erweise. Ein Hilfebedürftiger müsse sich zunächst an den Leistungsträger wenden und dort einen Antrag auf die begehrte Leistungen stellen und die normale Bearbeitungszeit abwarten. Die von den Antragstellern gesetzte Bearbeitungszeit von knapp 25 Stunden sei völlig unrealistisch. Wie auch das Ergebnis des Verfahrens zeige, hätte ein schlichtes Abwarten bzw. eine realistische Fristsetzung ausgereicht. Der Einschaltung des Gerichts habe es evident nicht bedurft.

Gegen den am 25.11.2021 zugestellten Beschluss haben die Antragsteller durch ihre Bevollmächtigte am 25.11.2021 Beschwerde eingelegt und vorgetragen, der Antragsgegner habe rechtswidrig vollständig die Leistungen für die gesamte Bedarfsgemeinschaft entzogen. Bei einem vollständigen rechtswidrigen Entzug von Leistungen sei die kurze Frist völlig ausreichend gewesen. Hätte der Antragsgegner den entsprechenden Anruf getätigt oder den Abhilfebescheid gefaxt oder per E-Mail übersandt, wäre das Eilverfahren nicht in die Wege geleitet worden.

Hiergegen hat der Antragsgegner eingewandt, dass es sich bei einer 25-Stunden-Frist nicht um eine realistische Fristsetzung handele.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Ge­richtsakten sowie der von dem Beklagten beigezogenen Verwaltungsakten verwiesen, der Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen ist.

 

II.

1. Die Beschwerde hat Erfolg.

a) Die Beschwerde ist zulässig. Sie ist insbesondere statthaft, weil der notwendige Beschwerdewert erreicht wird. Gemäß § 172 Abs. 3 Nr. 2 lit. b Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist die Beschwerde ausgeschlossen gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe, wenn in der Hauptsache die Berufung der Zulassung bedürfte. Gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG bedarf die Berufung der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluss des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750 € nicht übersteigt. Der Beschwerdewert ist vorliegend erreicht, weil allein die gegenüber dem Antragsteller zu 2 ab November 2021 entzogenen Leistungen sich auf monatlich 530,08 € beliefen.

b) Die Beschwerde ist auch begründet.

Nach § 73a Abs. 1 S. 1 SGG i.V.m. § 114 S. 1 Zivilprozessordnung (ZPO) erhält ein Beteiligter auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn er aufgrund seiner persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, die beabsichtigte Rechtsverfolgung und Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.

Der gegen den Bescheid vom 20.10.2021 gerichtete Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes bot hinreichende Aussicht auf Erfolg.

Der Antrag war statthaft und auch im Übrigen zulässig.

Der Stellung eines Antrags auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes und damit der Inanspruchnahme des Gerichts bedurfte es, weil gemäß § 39 Nr. 1 SGB II Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, der Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende aufhebt, zurücknimmt, widerruft, entzieht, die Pflichtverletzung und die Minderung des Auszahlungsanspruchs feststellt oder Leistungen zur Eingliederung in Arbeit oder Pflichten erwerbsfähiger Leistungsberechtigter bei der Eingliederung in Arbeit regelt, keine aufschiebende Wirkung haben. Damit durfte der Entziehungsbescheid vom 20.10.2021 trotz des erhobenen Widerspruchs durch den Antragsgegner sofort vollzogen werden.

Das für das Verfahren nach § 86b SGG erforderliche Rechtsschutzbedürfnis lag ebenfalls vor. Es ist gegeben, wenn die erstrebte gerichtliche Entscheidung dem Antragsteller einen rechtlichen oder tatsächlichen Vorteil bringen kann, z.B. weil weitere Vollziehungsmaßnahmen unterbunden werden (Burkiczak in jurisPK-SGG, Stand: 26.07.2022, § 86b Rn. 152). Vorliegend hatte der Antragsgegner den Entziehungsbescheid vom 20.10.2021 für den Monat November 2021 bereits vollzogen. Das ergibt sich aus dem unwidersprochenen Vortrag der Antragssteller zum Zeitpunkt der Antragstellung bei Gericht am 04.11.2021, wonach für die gesamte Bedarfsgemeinschaft keine Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ausgezahlt worden waren. Das Rechtsschutzbedürfnis war auch nicht deshalb zu versagen, weil ihre Bevollmächtigte mit Widerspruchsschreiben vom 03.11.2021 eine Frist für die Auszahlung von Leistungen bis 12:00 Uhr des Folgetages gesetzt hatte. Denn der Antragsteller muss sich vor dem Antrag nach § 86b Abs. 1 SGG nicht zunächst mit dem Begehren einer Entscheidung nach § 86a Abs. 3 SGG an die Verwaltung gewandt haben (Keller in Meyer-Ladewig u.a., SGG, 13. Aufl. 2020, § 86b Rn. 7a u.a. mit Verweis auf BSG, Urteil vom 17.10.2007,B 6 KA 4/07 R). Einer vorherigen Fristsetzung gegenüber dem Antragsgegner bedurfte es damit nicht. Daher kommt es vorliegend auch nicht darauf an, ob die von der Bevollmächtigten gesetzten Frist angemessen war.

Aussicht auf Erfolg hatte der (in diesem Sinne auszulegende) Antrag der Antragsteller auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung deshalb, weil die Regelung des § 5 Abs. 3 Satz 3 SGB II wegen fehlender Mitwirkung bei einem anderen Träger eine bestandskräftige Entziehung oder Versagung des anderen Trägers voraussetzt, bevor der Leistungsträger nach dem SGB II selbst Leistungen nach dem SGB II entzieht oder versagt. Vorliegend lag jedoch lediglich eine Anhörung der Stadt N vom 21.10.2021 wegen fehlender Mitwirkung vor, so dass die Voraussetzungen für eine Entziehung nach § 5 Abs. 3 Satz 3 SGB II nicht gegeben waren. Vor diesem Hintergrund hat der Antragsgegner nach entsprechendem Hinweis seiner Rechtsstelle mit Bescheid vom 04.11.2021 den Entziehungsbescheid vom 20.10.2021 aufgehoben und damit dem Widerspruch abgeholfen. Der Senat geht davon aus, dass die Bekanntgabe des Abhilfebescheides vom 04.11.2021 erst nach der Antragstellung bei Gericht erfolgt ist. Gegenteiliges ist von den Beteiligten jedenfalls nicht vorgetragen. Eine frühere Bekanntgabe ergibt sich auch nicht aus den Verwaltungsvorgängen des Antragsgegners.

Einer abweichenden Beurteilung der Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung bedarf es auch unter dem Gesichtspunkt der sog. Bewilligungsreife, wonach maßgeblicher Zeitpunkt für die Entscheidung über das Prozesskostenhilfegesuch und damit für die Beurteilung der Erfolgsaussichten grundsätzlich (erst) der Zeitpunkt ist, in dem der Prozesskostenhilfeantrag vollständig vorliegt und der Prozessgegner Gelegenheit zur Äußerung hatte (vgl. dazu ausführlich Beschluss des erkennenden Senats vom 23.09.2021, L 6 AS 770/20 B, juris Rn. 32), nicht. Diese Grundsätze, nach denen die Rechtsverfolgung hier wegen der Abhilfeentscheidung des Antragsgegners im Zeitpunkt der Bewilligungsreife keine hinreichenden Erfolgsaussichten mehr gehabt hätte, müssen mit Blick auf die oben dargestellten Besonderheiten des Verfahrens auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruches im vorliegenden Fall zurückstehen.

Die persönlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen waren erfüllt. Die Antragsteller waren ausweislich der vorliegenden Erklärungen bedürftig. Sie verfügten über kein im Rahmen des § 115 ZPO einzusetzendes Einkommen oder Vermögen, so dass ihnen ratenfrei Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes zu bewilligen gewesen ist. Die Beiordnung der Verfahrensbevollmächtigten ist auch erforderlich i.S.v. § 121 Abs. 2 ZPO gewesen, weil sich auch ein bemittelter Antragsteller vernünftigerweise eines Rechtsanwalts bedient hätte.

2. Kosten im Beschwerdeverfahren gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe sind nicht erstattungsfähig (§ 73a SGG in Verbindung mit § 127 Abs. 4 ZPO).

3. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).

 

Rechtskraft
Aus
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