Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 13.10.2020 geändert.
Die Beklagte wird unter Änderung der Bescheide vom 25.01.2017 und vom 23.02.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.11.2017 verurteilt, der Klägerin im Zeitraum 01.02.2017 bis zum 20.04.2017 Kosten für Unterkunft und Heizung iHv 61% der Gesamtkosten zu zahlen. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin in beiden Instanzen ein Viertel der notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt nach einem angenommenen Teilanerkenntnis noch die vollständige Übernahme der Kosten für Unterkunft und Heizung vom 01.02.2017 bis zum 20.04.2017.
Bei der 1978 geborenen Klägerin besteht als Folge einer Gewalttat eine Rückenmarksverletzung (inkomplettes thorakales Querschnittssyndrom mit neurogener Störung der Harnblasen- und Darmfunktion). Sie ist auf einen Rollstuhl angewiesen, voll erwerbsgemindert und Inhaberin eines Schwerbehindertenausweises mit einem GdB von 100 und den Merkzeichen G, aG und H.
Die Klägerin wohnte im streitigen Zeitraum gemeinsam mit ihrem 1997 geborenen Sohn in einer 2,5-Zimmer-Wohnung mit einer Wohnfläche von 61 qm. Der Sohn absolvierte eine Ausbildung zum Krankenpfleger und erhielt eine Ausbildungsvergütung iHv ca. 1.090 € brutto, 840 € netto. Ergänzende Sozialleistungen für den Lebensunterhalt bezog er nicht. Am 21.04.2017 zog der Sohn aus der Wohnung aus. Die Wohnung ist barrierefrei. Das Gebäude verfügt über einen Aufzug und alle Räume sind mit dem Rollstuhl befahrbar. Die Dusche hat einen bodengleichen Einstieg und ist mit Haltegriffen ausgestattet. Die Kosten für die Unterkunft und Heizung beliefen sich ab dem 01.02.2017 auf monatlich 574,79 € (Kaltmiete 299,36 €, Kellermiete 4,43 €, Stellplatzmiete 38,50 €, Nebenkosten 232,50 €). Die Wohnung konnte nur zusammen mit dem Keller und der Garage angemietet werden. Die Kaltmiete einschließlich der Kellermiete erhöhte sich zum 01.03.2017 auf monatlich 318,84 €. Zuzüglich der Stellplatzmiete und der Nebenkostenvorauszahlung ergeben sich daraus Gesamtkosten iHv monatlich 589,84 €.
Über eigenes Einkommen und anrechenbares Vermögen verfügte die Klägerin nicht.
Mit Bescheid vom 25.01.2017 bewilligte die Beklagte der Klägerin ab dem 01.02.2017 die Hälfte der monatlichen Unterkunftskosten iHv 287,40 €. Die andere Hälfte sei von dem Sohn zu tragen. Die Klägerin legte gegen den Bescheid am 14.02.2017 Widerspruch ein. Die Berechnung der Leistungen sei fehlerhaft. Insbesondere sei darauf hinzuweisen, dass der Sohn keine Leistungen erhalte. Die Beklagte bewilligte der Klägerin mit Änderungsbescheid vom 23.02.2017 ab dem 01.03.2017 die Hälfte der monatlichen Unterkunftskosten iHv 294,93 €. Nach dem Auszug des Sohnes bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 27.04.2017 ab dem 01.05.2017 die gesamten Unterkunftskosten. In der Folgezeit forderte sie die Klägerin zur Kostensenkung auf. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 14.11.2017 zurück. Die Aufwendungen für Unterkunft und Heizung seien nach der ständigen Rechtsprechung des BSG im Regelfall unabhängig von Alter und Nutzungsintensität anteilig pro Kopf aufzuteilen, wenn Hilfebedürftige eine Unterkunft gemeinsam mit anderen Personen nutzten. Dies sei hier der Fall gewesen, da die Klägerin mit ihrem Sohn zusammen in der Wohnung gelebt habe. Daran ändere auch der Umstand nichts, dass dieser keine Sozialleistungen für den Lebensunterhalt erhalten habe.
Die Klägerin hat am 05.12.2017 Klage erhoben, mit der sie höhere Unterkunftskosten für (ausdrücklich nur) Februar 2017 bis April 2017 begehrt hat. Die Unterkunftskosten seien vollständig zu übernehmen. Vom Kopfteilprinzip sei abzuweichen, wenn eine Person keine Leistungen erhalte und die Kosten dementsprechend von den anderen Bewohnern vollständig getragen werden müssten (Bezugnahme auf LSG Sachsen Urteil vom 09.02.2017 – L 3 AS 432/14). Der Mietvertrag sei ausschließlich von der Klägerin abgeschlossen worden. Der Sohn sei einfach in die Wohnung eingezogen. Vertragliche Vereinbarungen zwischen dem Vermieter und dem Sohn der Klägerin habe es nicht gegeben. Die Klägerin habe die Miete stets vollständig an den Vermieter gezahlt. Von Seiten des Sohnes seien keine Mietzahlungen erbracht worden.
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 25.01.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.11.2017 zu verurteilen, ihr höhere Leistungen an Kosten der Unterkunft in gesetzlicher Höhe zu bewilligen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Klägerin habe lediglich einen Anspruch auf die hälftigen Unterkunftskosten. Für eine Abweichung vom Kopfteilprinzip gebe es keine Gründe.
Das Sozialgericht hat den Sohn der Klägerin als Zeugen vernommen. Dieser hat ausgesagt, er habe hinsichtlich der Miete und der Heizkosten mit seiner Mutter nichts Schriftliches vereinbart, ihr aber seinen Anteil gegeben. Damit sei die Hälfte der Miete gemeint.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 13.10.2020, der Klägerin zugestellt am 17.11.2020, abgewiesen. Die Klägerin habe keinen über die bereits erhaltenen Leistungen hinausgehenden Leistungsanspruch. Ihr Bedarf an Kosten der Unterkunft und Heizung sei von Februar 2017 bis April 2017 gedeckt. Sie selbst habe lediglich einen hälftigen Bedarf gehabt, da die andere Hälfte durch ihren Sohn gedeckt worden sei.
Die Klägerin hat am 16.12.2020 Berufung eingelegt. Die Unterkunftskosten seien im streitigen Zeitraum vollständig zu übernehmen. Die Klägerin habe zwar mit ihrem Sohn zusammen gelebt, dieser habe jedoch keine Transferleistungen erhalten. Der Sohn habe sich lediglich an den Kosten für Lebensmittel beteiligt, nicht jedoch an der Miete. Diese Kosten habe die Klägerin vollständig aus ihrem Regelsatz gezahlt. Daher habe sie einen Anspruch auf vollständige Übernahme der Kosten.
Die Beklagte hat den geltend gemachten Anspruch durch Erklärung vom 30.06.2022 insoweit anerkannt, als sie die vollen Unterkunftskosten bereits ab dem 21.04.2017 übernimmt. Die Klägerin hat dieses Teilanerkenntnis angenommen. Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 13.10.2020 zu ändern und die Beklagte unter Änderung der Bescheide vom 25.01.2017 und vom 23.02.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.11.2017 zu verurteilen, ihr im Zeitraum 01.02.2017 bis 20.04.2017 Leistungen nach dem SGB XII in gesetzlicher Höhe zu bewilligen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte hält das Urteil des Sozialgerichts für zutreffend. Ein Anspruch auf weitergehende Unterkunftskosten bestehe nicht.
Die Beklagte ermittelt ab dem Jahr 2018 auf der Grundlage des jeweils gültigen qualifizierten Mietspiegels neben der allgemeinen Angemessenheitsgrenze auch eine solche für barrierefreie Wohnungen. Dabei legt sie die Baualtersklassen ab dem Jahr 2002 zugrunde, da erst mit dem Inkrafttreten des Gesetzes über die soziale Wohnraumförderung (WoFG) am 01.01.2002 die Anforderungen des barrierefreien Bauens zu berücksichtigen sind (§ 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 8 WoFG). Daraus ergibt sich für einen Ein-Personen-Haushalt auf der Grundlage des Mietspiegels 2018 ab dem 01.03.2018 eine Angemessenheitsgrenze von 448 € (352 € Kaltmiete + 96 € kalte Betriebskosten). Im gleichen Zeitraum galt für einen Ein-Personen-Haushalt eine allgemeine Angemessenheitsgrenze von 354 € (258 € Kaltmiete + 96 € kalte Betriebskosten). Bei dem Mietspiegel 2018 handelt es sich um eine Fortschreibung des qualifizierten Mietspiegels 2016, der auf einer Datenerhebung zum Stichtag 01.07.2015 beruhte. Die Beklagte hat die Dokumentation zur Erstellung des Mietspiegels 2016, den Mietspiegel 2018 und weitere Unterlagen zur Ermittlung der Angemessenheitsgrenzen vorgelegt, dem Bevollmächtigten der Klägerin wurden die Unterlagen mit richterlicher Verfügung vom 01.08.2022 übersandt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist gemäß §§ 143, 144 SGG statthaft und auch sonst zulässig. Die Berufungssumme des § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG iHv mehr als 750 € wird erreicht. Die Klägerin hat ursprünglich die vollständige Übernahme der Unterkunftskosten von Februar 2017 bis April 2017 begehrt. Hieraus ergibt sich ein Betrag von insgesamt 877,21 €.
Die Berufung ist teilweise begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht vollständig abgewiesen. Die Bescheide vom 25.01.2017 und 23.02.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.11.2017 sind rechtswidrig, denn die Klägerin hat einen weitergehenden Anspruch auf Leistungen für Unterkunft und Heizung.
Streitgegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 25.01.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.11.2017, mit dem die Beklagte die Leistungen der Klägerin für Februar 2017 bis Juli 2017 neu festgesetzt hat. Ebenfalls zum Gegenstand des Verfahrens geworden ist der Bescheid vom 23.02.2017, mit dem die Bewilligung während des Widerspruchsverfahrens geändert worden ist (§ 86 SGG). Demgegenüber ist der Bescheid vom 27.04.2017 nicht Gegenstand des Verfahrens, da er sich auf den Zeitraum ab Mai 2017 bezieht, wohingegen der streitige Zeitraum nach dem Teilanerkenntnis der Beklagten auf den 01.02.2017 bis zum 20.04.2017 beschränkt worden ist. Streitig sind nur die Leistungen für Unterkunft und Heizung, denn dabei handelt es sich um abtrennbare selbstständige Ansprüche (BSG Urteil vom 14.04.2011 – B 8 SO 18/09 R) und die Klägerin hat ihr Begehren im erstinstanzlichen Verfahren entsprechend beschränkt. Die Klägerin macht ihren Anspruch zutreffend mit der Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 4 SGG) geltend.
Die Klägerin erfüllte im streitigen Zeitraum die Voraussetzungen des § 41 Abs. 1 und 3 SGB XII. Sie hatte ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland, konnte ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus Einkommen und Vermögen nach § 43 SGB XII bestreiten und war voll erwerbsgemindert. Die Beklagte ist sachlich und örtlich zuständig (§ 46b Abs. 1 SGB XII iVm § 1 Abs. 3 AG-SGB XII NRW). Die Klägerin hatte ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort im Zuständigkeitsbereich der Beklagten und diese ist der örtliche Träger der Sozialhilfe (§ 97 Abs. 1 SGB XII iVm § 1 Abs. 3 AG-SGB XII NRW, insoweit bestehen keine abweichenden landesrechtlichen Regelungen).
Die Leistungen der Grundsicherung umfassen gem. § 42 Nr. 4 SGB XII die Bedarfe für Unterkunft und Heizung nach dem Vierten Abschnitt des Dritten Kapitels. § 42a SGB XII ist im vorliegenden Verfahren nicht anzuwenden, da die Vorschrift erst am 01.07.2017 in Kraft getreten ist.
Die Bedarfe für Unterkunft und Heizung werden in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht, soweit diese angemessen sind (§ 35 SGB XII). Zur Berechnung dieser Bedarfe sind die tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung, deren Angemessenheit und ihre Verteilung auf die in der Wohnung lebenden Personen zu ermitteln sowie ggfs. weitere mögliche Einwände zu prüfen (BSG Urteil vom 22.08.2013 – B 14 AS 85/12 R).
Bei den tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung sind auch die Kosten für den Keller und den Stellplatz zu berücksichtigen, da die Wohnung ohne diese nicht anmietbar war (BSG Urteil vom 19.05.2021 – B 14 AS 39/20 R mwN). Die tatsächlichen Kosten sind der Berechnung der Unterkunftskosten allein deshalb zugrunde zu legen, weil es für eine Begrenzung des Anspruchs der Klägerin auf die angemessenen Kosten an der dafür erforderlichen Kostensenkungsaufforderung fehlt (dazu BSG Urteil vom 18.09.2014 – B 14 AS 48/13 R).
Die Klägerin hat einen Anspruch auf Übernahme von 61% dieser Kosten. Die Aufwendungen für Unterkunft und Heizung sind nach gefestigter Rechtsprechung des BSG im Regelfall allerdings unabhängig von Alter und Nutzungsintensität anteilig pro Kopf aufzuteilen, wenn Hilfebedürftige eine Unterkunft gemeinsam mit anderen Personen nutzen (BSG Urteil vom 22.08.2013 – B 14 AS 85/12 R). Hintergrund für dieses auf das BVerwG (Urteil vom 21.01.1988 – 5 C 68/85) zurückgehende "Kopfteilprinzip" sind Gründe der Verwaltungsvereinfachung sowie die Überlegung, dass die gemeinsame Nutzung einer Wohnung durch mehrere Personen deren Unterkunftsbedarf dem Grunde nach abdeckt und in aller Regel eine an der unterschiedlichen Intensität der Nutzung ausgerichtete Aufteilung der Aufwendungen für die Erfüllung des Grundbedürfnisses Wohnen nicht zulässt.
Die tatsächliche Nutzung einer Wohnung durch zwei Personen führt dann nicht zu einer Aufteilung der Aufwendungen nach Kopfteilen, wenn ihr bindende vertragliche Regelungen anderen Inhalts zugrunde liegen (BSG Urteil vom 29.11.2012 – B 14 AS 161/11 R). Solche vertraglichen Regelungen sind aber weder zwischen der Klägerin und ihrem Sohn noch zwischen der Klägerin und dem Vermieter getroffen worden. Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht glaubhaft erklärt, man habe die Miete gemeinsam getragen, da man aus einem Topf gewirtschaftet habe. In diesem Sinne hat sich auch der Zeuge eingelassen. Damit steht fest, dass keine vertraglichen Abreden getroffen worden sind; auf die Frage, ob der Sohn sich tatsächlich an den Unterkunftskosten beteiligt hat, was die Klägerin nunmehr bestreitet, kommt es nicht an.
Eine weitere Ausnahme vom Kopfteilprinzip ist anerkannt bei einem über das normale Maß hinausgehenden Bedarf einer der in der Wohnung lebenden Person wegen Behinderung oder Pflegebedürftigkeit (BSG Urteil vom 22.08.2013 – B 14 AS 85/12 R). Dies setzt voraus, dass nach den Umständen des Einzelfalls tatsächliche Aufwendungen dem zB wegen Behinderung oder Pflegebedürftigkeit spezifischen Unterkunftsbedarf eines bestimmten Bewohners zugeordnet werden können. Nicht erforderlich ist hingegen, dass sich die zusätzlichen Kosten aus dem Mietvertrag ergeben oder auf andere Weise konkret beziffern lassen (so aber LSG Niedersachsen-Bremen Urteil vom 23.05.2018 – L 13 AS 59/16).
Der Klägerin kann ein spezifischer Unterkunftskostenmehrbedarf zugeordnet werden. Sie ist auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen und benötigt daher eine entsprechend ausgestattete barrierefreie Wohnung. Die Mehrkosten für die barrierefreie Wohnung sind als zusätzliche Unterkunftskosten der Klägerin zuzuordnen, da es sich um einen Bedarf allein aufgrund ihrer Behinderung handelt. Ihr Sohn ist nicht auf eine barrierefreie Wohnung angewiesen.
Die Mehrkosten lassen sich im vorliegenden Verfahren nicht beziffern. Insbesondere wäre es unzureichend, allein die Kosten für den Aufzug als behinderungsbedingten Mehrbedarf anzuerkennen. Denn die Wohnung verfügt über weitere Ausstattungsmerkmale, auf die die Klägerin angewiesen ist und die zu entsprechenden Mehrkosten führen. Da sich diese nur mit unverhältnismäßigen Aufwand ermitteln ließen, sind sie gem. § 202 SGG iVm § 287 Abs. 2 ZPO zu schätzen. Danach sind bei vermögensrechtlichen Streitigkeiten auch in anderen Fällen als der Schadensermittlung die Vorschriften des § 287 Abs. 1 Satz 1, 2 ZPO entsprechend anzuwenden, soweit unter den Parteien die Höhe einer Forderung streitig ist und die vollständige Aufklärung aller hierfür maßgebenden Umstände mit Schwierigkeiten verbunden ist, die zu der Bedeutung des streitigen Teils der Forderung in keinem Verhältnis stehen. In diesem Fall entscheidet das Gericht über die Höhe der Forderung unter Würdigung aller Umstände nach freier Überzeugung und es bleibt seinem Ermessen überlassen, ob und inwieweit von Amts wegen eine Begutachtung durch einen Sachverständigen anzuordnen ist. Die Schätzungen müssen eine realistische Grundlage haben sowie in sich schlüssig und wirtschaftlich nachvollziehbar sein. Bei einer Schätzung entscheidet das Gericht zwar wie bei einer sonstigen Tatsachenfeststellung nach freier Überzeugung; es hat alle Umstände des Einzelfalls zu würdigen, seine Schätzung ist aber rechtsfehlerhaft, wenn es die Schätzungsgrundlagen nicht richtig festgestellt oder nicht alle wesentlichen in Betracht kommenden Umstände hinreichend gewürdigt hat, oder wenn die Schätzung selbst auf falschen oder unsachlichen Erwägungen beruht (BSG Urteil vom 03.12.2015 – B 4 AS 47/14 R mwN).
In Anwendung dieser Grundsätze schätzt der Senat den behinderungsbedingten Mehrbedarf für die Unterkunft auf 27%. Dies entspricht dem Verhältnis der Bruttokaltmieten für barrierefreie Wohnungen einerseits und nicht-barrierefreien Wohnungen andererseits im Stadtgebiet F. Dieses Verhältnis kann als Grundlage für die Schätzung des behinderungsbedingten Mehrbedarfs in der hier maßgeblichen Konstellation (Zusammenleben eines Menschen mit Behinderung mit einem Menschen ohne Behinderung) herangezogen werden. Der höhere Preis für barrierefreie Wohnungen spiegelt einen behinderungsbedingten Mehrbedarf wider, der sich als aufwändigerer Ausstattungs- und Raumbedarf darstellt, wie er auch bei der Klägerin gegeben ist. In demselben Maße, wie eine Einzelperson mit Behinderung gegenüber einer Einzelperson ohne Behinderung einen entsprechend erhöhten Quadratmeterpreis beanspruchen kann, kann beim Zusammenleben von diesen Personen die Person mit Behinderung einen erhöhten Anteil der Unterkunftskosten für sich beanspruchen. Die Beklagte hat unter Auswertung des Mietspiegels 2018 für eine barrierefreie Wohnung einen Mehraufwand von 27% ermittelt (448 € zu 354 €). Der Umstand, dass dieser Wert erst für die Zeit ab März 2018 ermittelt wurde, steht seiner Eignung als Grundlage für eine entsprechende Schätzung nicht entgegen, weil es sich bei dem Mietspiegel 2018 um eine Fortschreibung des qualifizierten Mietspiegels 2016 handelt. Die grundsätzliche Vorgehensweise der Beklagten (qualifizierte Mietspiegel als Grundlage für die Feststellung der Angemessenheit der Unterkunftskosten) ist von der Rechtsprechung bestätigt worden (BSG Urteil vom 17.12.2009 – B 4 AS 27/09 R).
Bezogen auf das vorliegende Verfahren bedeutet dies, dass im streitbefangenen Zeitraum 61% der Unterkunftskosten als Bedarf der Klägerin anzuerkennen sind. Denn von den Kosten iHv insgesamt 127% (100% + 27% Zuschlag) entfallen 77% auf den Bedarf der Klägerin, d.h. die Hälfte der Kosten zzgl. des Zuschlages für die barrierefreie Wohnung. Daraus ergibt sich ein Anteil von 61% (77/127).
Sollte sich der Sohn an den Unterkunftskosten über den auf ihn entfallenden Anteil hinaus beteiligt haben, wäre dies nicht als anspruchsausschließende Bedarfsdeckung zu werten. Nach der Rechtsprechung des BSG steht der Bewilligung von Sozialhilfeleistungen bei einer rechtswidrigen Ablehnung eine zwischenzeitliche Bedarfsdeckung im Wege der Selbsthilfe oder Hilfe Dritter nicht entgegen (BSG Urteil vom 26.10.2017 – B 8 SO 11/16 R mwN; für Eingliederungshilfeleistungen BSG Urteil vom 22.03.2012 – B 8 SO 30/10 R).
Einen weitergehenden Anteil an den Unterkunftskosten – insbesondere die von ihr begehrte vollständige Kostenübernahme – kann die Klägerin hingegen nicht beanspruchen, insoweit war die Berufung zurückzuweisen. Auch beim Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderung ist an einer quotalen Aufteilung der Unterkunftskosten grundsätzlich unabhängig von der vertraglichen Gestaltung des Mietverhältnisses festzuhalten. Vom Kopfteilprinzip im Sinne einer hälftigen Quotierung ist in einer derartigen Konstellation nur insoweit eine Ausnahme zu machen, als die Quote sich zugunsten der Person mit Behinderung verschiebt. Im Übrigen verbleibt es bei einer quotenmäßigen Aufteilung der Unterkunftskosten. Eine Abweichung hiervon dahingehend, dass eine die Unterkunft nutzende Person unberücksichtigt bleibt, ist nur für Fälle gerechtfertigt, in denen ansonsten eine Bedarfsunterdeckung droht, zB weil ein Mitglied einer Bedarfsgemeinschaft iSd § 7 Abs. 3 SGB II wegen einer Sanktion keine Leistungen erhält und auch nicht über Einkommen oder Vermögen verfügt, um seinen Anteil zu decken (BSG Urteil vom 02.12.2014 – B 14 AS 50/13 R; LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 15.03.2017 – L 12 AS 664/15; ablehnend für einen Versagungsbescheid gegenüber einem Mitglied einer Bedarfsgemeinschaft BSG Urteil vom 14.02.2018 – B 14 AS 17/17 R unter Aufhebung des Urteils des LSG Sachsen vom 09.02.2017 – L 3 AS 432/14, auf das die Klägerin zu Begründung ihres Anspruchs Bezug genommen hat). Eine Abweichung vom Kopfteilprinzip (bzw. hier einer quotalen Aufteilung der Unterkunftskosten) und die aus ihr folgende Erhöhung der Ansprüche auf Leistungen für Unterkunft und Heizung setzt aber voraus, dass sie aus bedarfsbezogenen Gründen geboten ist, also die Anwendung des Kopfteilprinzips (bzw. einer Quote) zu einer Bedarfsunterdeckung führen würde. Verfügt die weitere Person, für die Leistungen für die Unterkunft nicht erbracht werden, hingegen über Einkommen oder Vermögen, aus dem sie ihren rechnerischen Anteil - oder ggfs. Teile davon - bestreiten kann, ist eine Abweichung vom Kopfteilprinzip bzw. einer Quotierung nicht geboten, denn es ist nicht Aufgabe der Grundsicherung, wirtschaftlich leistungsfähigen Dritten ein kostenfreies Wohnen zu ermöglichen (BSG Urteil vom 27.01.2021 – B 14 AS 35/19 R). Da der Sohn im streitgegenständlichen Zeitraum über bedarfsdeckendes Einkommen verfügte, kommt hiernach eine Erhöhung der Unterkunftskosten der Klägerin über den behinderungsbedingten Mehrbedarf hinaus nicht in Betracht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision war wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Streitsache zuzulassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).