I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 27. Februar 2020 wird zurückgewiesen.
II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten um die Herabsetzung des Grades der Behinderung (GdB) sowie die Entziehung des Merkzeichens „aG“.
Mit Bescheid vom 18. September 2014 hatte das beklagte Land bei dem 2012 geborenen Kläger einen GdB von 100 und die Merkzeichen „G“, „B“, „aG“ und „H“ festgestellt für die Behinderung „Trisomie 21“. Aus der gutachterlichen Stellungnahme geht hervor, dass eine ausgeprägte Muskelhypotonie maßgeblich für den GdB und die Merkzeichen war, da der Kläger seinerzeit noch nicht frei stehen und gehen konnte. Eine Nachuntersuchung wurde für September 2016 empfohlen.
Im August 2016 leitete das beklagte Land eine Nachuntersuchung von Amts wegen ein. Zur Akte gelangten Arztbriefe des Zentrums für Kinderheilkunde des UKGM Gießen vom 23. Oktober 2015 und 29. Juli 2016. In letzterem wird ausgeführt, dass der Kläger fast nur noch spreche, Gebärden benutze er keine mehr. Das Laufen und Rennen sei nach wie vor wacklig. Er laufe aber überall frei. Er schaffe keine wirkliche Strecke zu gehen. Ein Spaziergang oder ein Gang in die Stadt sei mit ihm nicht möglich. Das gelte auch im Kindergarten.
Darüber hinaus wurden ein Arztbrief des Mutter-Kind-Kurheims F. in C-Stadt vom 18. September 2016 und der Befundbericht der Augenärzte vom 25. November 2016 vorgelegt. In diesem werden bei dem Kläger Hyperopie, Astigmatismus beidseits und Orthophorie beidseits beschrieben.
In der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 13. Januar 2017 wird aufgeführt, dass deutliche Entwicklungsfortschritte im Sinne einer guten sprachlichen und grobmotorischen Entwicklung zu verzeichnen seien. Es liege nach wie vor eine deutliche Diskrepanz zu Gleichaltrigen mit entsprechendem Förderbedarf vor.
Mit Schreiben vom 1. Februar 2017 hörte das beklagte Land den Kläger zur Herabsetzung des GdB auf 80 sowie zur Entziehung des Merkzeichens „aG“ wegen wesentlicher Besserung an.
Durch Bescheid vom 6. März 2017 setzte das beklagte Land den GdB auf 80 herab und erkannte weiterhin die Merkzeichen „G“, „B“ und „H“ an, das Merkzeichen „aG“ wurde mit Wirkung ab 1. April 2017 entzogen.
In dem Bescheid wurden als Behinderungen anerkannt:
• Down-Syndrom und
• Sehbehinderung.
Der Kläger legte hiergegen fristgerecht Widerspruch ein und begehrte weiterhin einen GdB von 100 sowie die Zuerkennung des Merkzeichens „aG“, da weiterhin eine deutliche Sprachentwicklungsverzögerung und erhebliche Entwicklungsrückstände bestünden. Er sei außerdem lediglich in der Lage, eine Wegstrecke von 20 Schritten zu bewältigen. Das Laufen und Rennen sei nach wie vor wackelig. Er werde bei Ausflügen und Spaziergängen mit dem Kinderwagen transportiert. Beigefügt war neben einer Bescheinigung des Kindergartens vom 4. Mai 2017, wonach der Kläger bei Ausflügen mit dem Kinderwagen gefahren werden müsse, eine des behandelnden Kinderarztes vom 9. Mai 2017, aus der hervorgeht, der Kläger leide an einer Gangstörung und es sei den Eltern bei voranschreitender Größe und Gewicht nicht mehr möglich, den Kläger längere Strecken zu tragen.
Nach Einholung einer weiteren vorsorgungsärztlichen Stellungnahme wies das beklagte Land den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 31. Juli 2017 als unbegründet zurück.
Der Kläger hat am 18. August 2017 beim Sozialgericht Gießen (Sozialgericht) Klage erhoben.
Das beklagte Land hat eine Stellungnahme des Ärztlichen Dienstes vom 24. Januar 2018 übersandt sowie auf richterliche Nachfrage vom 7. Februar 2018 bzgl. des Merkzeichens „aG“ wegen eventueller Weglauftendenz eine weitere Stellungnahme vom 6. April 2018 vorgelegt. In letzterer wird ausgeführt, dass sich aus den medizinischen Unterlagen ergebe, dass eine außergewöhnliche Gehbehinderung auch unter Berücksichtigung der Störung mentaler Funktionen nicht gegeben sei. Die Tatsache, dass der Kläger sehr anstrengend sei und wegen der Weglauftendenzen ständig beobachtet und beaufsichtigt und begleitet werden müsse, werde durch die Zuerkennung der Merkzeichen „H“ und „B“ gewürdigt.
Der Kläger hat des Weiteren noch eine Bescheinigung des Zentrums für Kinderheilkunde des UKGM vom 20. Juni 2018 vorgelegt.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung hat das Sozialgericht Beweis durch Inaugenscheinnahme des Klägers erhoben.
Mit Urteil vom 27. Februar 2020 hat das Sozialgericht die Klage als unbegründet abgewiesen.
Die Feststellungen des beklagten Landes seien nicht zu beanstanden. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB als 80 sowie die weitere Anerkennung des Nachteilsausgleichs „aG“, weil in den gesundheitlichen Verhältnissen eine wesentliche Besserung gegenüber der Situation im Bescheid vom 18. September 2014 eingetreten sei.
Der Entwicklungsstand des Klägers sei vom beklagten Land zutreffend mit einem Einzel-GdB von 70 bewertet worden. Ein höherer GdB als 70 für die Behinderung Trisomie 21 sei nicht begründbar.
Bei einem korrigierten Visus von 0,4 für das rechte und 0,3 für das linke Auge sei ein Einzel-GdB von 20 anzusetzen. Integrierend sei der vom beklagten Land festgestellte Gesamt-GdB von 80 daher korrekt bemessen worden.
Auch die Voraussetzungen für die Anerkennung des Merkzeichens „aG“ erfülle der Kläger nach den vorliegenden Befunden nicht mehr, so dass insoweit eine wesentliche Änderung gegenüber dem Bescheid vom 19. August 2014 eingetreten sei, welcher die Entziehung dieses Nachteilsausgleichs rechtfertige.
Das Urteil ist dem Kläger am 6. März 2020 zugestellt worden.
Der Kläger hat am 20. März 2020 Berufung beim Hessischen Landessozialgericht in Darmstadt eingelegt.
Der Kläger hält das angegriffene Urteil und den zugrundeliegenden Bescheid für fehlerhaft.
Das Sozialgericht stelle in seiner Entscheidung auf die Rechtslage ab 1. Januar 2018 ab. Der streitgegenständliche Bescheid sowie der Widerspruchsbescheid datierten jedoch aus der Zeit vor dem 1. Januar 2018.
Zu der Situation im Gericht und der von der Richterin benannten Augenscheinnahme sei auszuführen, dass die Richterin den Kläger aufgefordert habe, ihr zu folgen und ihm Kekse versprochen habe. Daraufhin sei der Kläger der Richterin gefolgt. Dies habe jedoch mit dem Verhalten des Klägers in der Realität nichts zu tun, wie insbesondere die Eltern des Klägers bestätigen könnten. So müsse der Kläger meist getragen werden oder er versuche wegzulaufen, ohne dass er auf den Verkehr achte. Er besitze keinerlei Gefahrenbewusstsein im Verkehr. Dies bedeute, dass er auf die Straße laufe, ohne auf irgendeine Art von Fahrzeugen zu achten. Damit gefährde er sowohl sich als auch die Teilnehmer des Straßenverkehrs erheblich. Entgegen der Auffassung des Gerichts sei damit bei dem Kläger aufgrund seiner mentalen Behinderung jederzeit damit zu rechnen, dass dieser sich losreiße, von der Begleitperson weglaufen möchte oder sich unkontrolliert verhalte. Dies sei auch schon zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheids der Fall gewesen. Zum damaligen Zeitpunkt habe der Kläger noch den Kindergarten besucht. Auch dort habe er jedes Schlupfloch gesucht, um wegrennen zu können. Diese Weglauftendenz hätte damals bestanden und bestünde auch fort.
Die Zeuginnen Dr. F. M. (SPZ, UKGM) und Frau H. G. (ehemalige Kindergartenleiterin) seien zu der Tatsache zu vernehmen, dass diese Weglauftendenzen und das nicht vorhandene Gefahrbewusstsein bereits zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheids bestanden hätten und der Kläger der ständigen Beaufsichtigung bedurfte und der Kläger zu dieser Zeit deutliche Sprachentwicklungsverzögerung sowie eine erhebliche Entwicklungsverzögerung aufgewiesen habe.
Das Beweisangebot durch die Vernehmung der Schulassistenzkraft K. N. sowie die Mitarbeiterin der Frühförderung der Lebenshilfe, Frau J., die bereits erstinstanzlich benannt worden waren, werde aufrechterhalten. Diese könnten – wie auch die oben bereits benannten Zeugen – bestätigen, dass die Reaktion des Klägers auf die Keksaktion der Richterin des Sozialgerichts eine Ausnahmesituation dargestellt habe und diese Inaugenscheinnahme im Rahmen der mündlichen Verhandlung in keinster Weise das Verhalten des Klägers zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheids widergespiegelt habe.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 27. Februar 2020 sowie den Bescheid des Beklagten vom 6. März 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Juli 2017 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der GdB sei mit 80 zutreffend bewertet. Die Voraussetzungen für das Merkzeichen „aG“ lägen ebenfalls nicht vor.
Im Berufungsverfahren wurden die Krankenunterlagen bei dem behandelnden Kinderarzt angefordert. In dies em Rahmen wurden u.a. Arztbriefe des Zentrums für Kinderheilkunde des UKGM vom 14. März 2018 und 15. November 2018 vorgelegt.
Der Senat hat die Beteiligten mit Schreiben vom 3. März 2021 darauf hingewiesen, dass das Landessozialgericht (LSG) die Berufung gemäß § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Beschluss zurückweisen kann, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 24. Februar 2021 daraufhin die Durchführung einer mündlichen Verhandlung und die Vernehmung von Zeugen begehrt, da die Weglauftendenzen nicht hinreichend berücksichtigt worden seien. Daraufhin hat der Senat mit Schreiben vom 14. April 2021 mitgeteilt, dass nach der Rechtsprechung eine Weglauftendenz für die Zuerkennung des Merkzeichens „aG“ nicht ausreiche. Vor diesem Hintergrund halte der Senat auch in Kenntnis des Schriftsatzes vom 24. Februar 2021 an der Beschlussanhörung fest.
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten sowie zur Ergänzung des Sach- und Streitstands im Übrigen wird auf die Gerichtsakte sowie auf den Inhalt der Verwaltungsakten des beklagten Landes Bezug genommen.
II.
Der Senat hat nach Anhörung der Beteiligten von der in § 153 Abs. 4 SGG vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch gemacht und zur Beschleunigung des Verfahrens durch Beschluss entschieden, weil er das Rechtsmittel einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält.
Die Berufung ist zulässig.
Statthafte Klageart ist die Anfechtungsklage. Es handelt sich um eine reine Anfechtungsklage gegen den Herabsetzungsbescheid, die im Falle ihres Erfolges zum Wiederaufleben des vorherigen Feststellungsbescheides führt.
Die Berufung ist unbegründet.
Das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 27. Februar 2020 und der Bescheid des beklagten Landes vom 6. März 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 31. Juli 2017 sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten.
Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Eine wesentliche Änderung kann auch darin bestehen, dass Behinderungen weggefallen sind oder sich festgestellte Behinderungen derart verbessert haben, dass sie nur noch einen geringeren GdB bedingen. Erforderlich ist eine Gegenüberstellung der objektiven Befunde, die der letzten bindend gewordenen Feststellung des Versorgungsamtes zugrunde lagen, und der Befunde, die nunmehr vorliegen.
Wird ein Aufhebungs- bzw. Herabsetzungsbescheid gemäß § 48 Abs. 1 SGB X gerichtlich angefochten, so beurteilt sich seine Rechtmäßigkeit nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt seines Erlasses (vgl. BSG, Urteile vom 11. August 2015 – B 9 SB 2/15 R –, vom 29. April 2015 – B 14 AS 10/14 R –, vom 12. November 1996 – 9 RVs 5/95 – und vom 15. August 1996 – 9 RVs 10/94 –; Bayerisches LSG, Urteil vom 20. Oktober 2010 – L 16 SB 60/08 – jeweils nach juris), hier somit nach der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Widerspruchsbescheides vom 31. Juli 2017.
In dem Gesundheitszustand des Klägers, der bei Erlass des maßgeblichen Ausgangsbescheids vom 18. September 2014 vorgelegen hat, ist eine wesentliche Änderung im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X dahingehend eingetreten, dass der Gesamt-GdB nunmehr mit 80 zu bewerten ist. Der Gesamt-GdB ist gegenüber dem Ausgangsbescheid vom 18. September 2014 um 20 v. H. gemindert.
Bei Bekanntgabe des Bescheides vom 13. Dezember 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. März 2017 richtete sich die Feststellung des GdB nach § 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch – Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen (SGB IX) in der bis zum 31. Dezember 2017 gültigen Fassung (a.F.), worauf der Kläger zutreffend hingewiesen hat. Nach Satz 1 dieser Regelungen stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Hierbei werden die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft als Grad der Behinderung nach 10er-Graden festgestellt, wobei eine Feststellung nur zu treffen ist, wenn ein Grad der Behinderung von wenigstens 20 vorliegt (§ 69 Abs. 1 Satz 4 und 6 SGB IX a.F.). Gemäß § 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX a.F. sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der GdB gemäß § 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX a.F. nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Dabei sind nur diejenigen Menschen als schwerbehindert anzuerkennen, bei denen ein GdB von wenigstens 50 vorliegt (§ 2 Abs. 2 1. Halbsatz SGB IX a.F.).
Die Bestimmung des GdB zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides erfolgt unter Heranziehung der "Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ (VMG) gemäß der Anlage zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (Versorgungsmedizin-Verordnung - VersMedV -) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I, Seite 2412), zuletzt in ihrer Fassung vom 23. Dezember 2016.
Die bei dem Kläger vorliegenden Behinderungen rechtfertigen zum maßgeblichen Zeitpunkt keinen höheren Gesamt-GdB als 80. Hinsichtlich der Feststellung der wesentlichen Änderung nach der Auswertung der erstinstanzlich vorliegenden Befundberichte, der Bewertung der Gesundheitsstörungen mit Einzel-GdB-Werten sowie des Gesamt-GdB wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die zutreffenden erstinstanzlichen Entscheidungsgründe, die sich der Senat nach eigener Überprüfung zu Eigen macht, gemäß § 153 Abs. 2 SGG Bezug genommen.
Der Vernehmung von Zeugen bedurfte es entgegen der Ansicht des Klägers nicht, da das Sozialgericht und das beklagte Land mit dem Einzel-GdB von 70 für die Trisomie 21 anerkennen, dass bei dem Kläger aufgrund der Trisomie 21 Entwicklungsverzögerungen bestehen. Die Klägerseite verkennt jedoch, dass sich aus den vorliegenden Unterlagen deutliche Entwicklungsfortschritte des Klägers gegenüber dem Ausgangsbescheid ergeben, dies betrifft die Selbständigkeit, die Mobilität und die sprachliche Entwicklung (vgl. die Arztbriefe des UKGM vom 29. Juli 2016 und vom 5. Oktober 2017). Aufgrund dieser dokumentierten Entwicklungsfortschritte hält der Senat nach eigener Prüfung und Überzeugung den Einzel-GdB von 70 für rechtmäßig.
Zu Recht haben das Sozialgericht und das beklagte Land auch festgestellt, dass zum hier maßgeblichen Zeitpunkt des Widerspruchbescheides die Voraussetzungen für das Merkzeichen „aG“ nicht mehr vorlagen.
Zwar hat das Sozialgericht auf den ab 1. Januar 2018 geltenden Gesetzeswortlaut statt auf den zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides am 31. Juli 2017 geltenden abgestellt. Aufgrund des identischen Wortlauts ist dieser Fehler des Sozialgerichts insoweit unbeachtlich.
§ 146 Abs. 3 SGB IX in der vom 30. Dezember 2016 bis 31. Dezember 2017 geltenden Fassung lautet:
Schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung sind Personen mit einer erheblichen mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigung, die einem Grad der Behinderung von mindestens 80 entspricht. Eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung liegt vor, wenn sich die schwerbehinderten Menschen wegen der Schwere ihrer Beeinträchtigung dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen insbesondere schwerbehinderte Menschen, die auf Grund der Beeinträchtigung der Gehfähigkeit und Fortbewegung – dauerhaft auch für sehr kurze Entfernungen – aus medizinischer Notwendigkeit auf die Verwendung eines Rollstuhls angewiesen sind. Verschiedenste Gesundheitsstörungen (insbesondere Störungen bewegungsbezogener, neuromuskulärer oder mentaler Funktionen, Störungen des kardiovaskulären oder Atmungssystems) können die Gehfähigkeit erheblich beeinträchtigen. Diese sind als außergewöhnliche Gehbehinderung anzusehen, wenn nach versorgungsärztlicher Feststellung die Auswirkung der Gesundheitsstörungen sowie deren Kombination auf die Gehfähigkeit dauerhaft so schwer ist, dass sie der unter Satz 1 genannten Beeinträchtigung gleichkommt.
Mit der Regelung hat der Gesetzgeber sich nunmehr für die Beurteilung einer außergewöhnlichen Gehbehinderung an der Frage der Teilhabebeeinträchtigung orientiert und alle relevanten Funktionsstörungen auf allen medizinischen Fachgebieten sowie auch Kombinationen von Beeinträchtigungen erfasst. Er hat sich damit aber nicht von den in der Rechtsprechung entwickelten strengen Bewertungsmaßstäben entfernt (vgl. HLSG, Beschluss vom 23. Juni 2017 - L 3 SB 138/16 –; HLSG, Urteil vom 18. Dezember 2018 – L 3 SB 107/17 – juris Rn. 28).
In der Gesetzesbegründung (BT-Drucks. 18/9522, S. 317 f.) zu dieser Vorschrift werden folgende Beispiele genannt, bei denen die Voraussetzungen erfüllt sein können:
- zentralnervöse, peripher-neurologische oder neuromuskulär bedingte Gangstörungen mit der Unfähigkeit, ohne Unterstützung zu gehen, oder wenn eine dauerhafte Rollstuhlbenutzung erforderlich ist (insbesondere bei Querschnittlähmung, Multipler Sklerose, Amyotropher Lateralsklerose (ALS), Parkinsonerkrankung, Para- oder Tetraspastik in schwerer Ausprägung),
- Funktionsverlust beider Beine ab Oberschenkelhöhe oder Funktionsverlust eines Beines ab Oberschenkelhöhe ohne Möglichkeit der prothetischen oder orthetischen Versorgung (insbesondere bei Doppeloberschenkelamputierten und Hüftexartikulierten),
- schwerste Einschränkung der Herzleistungsfähigkeit (insbesondere bei Linksherz-schwäche Stadium NYHA IV),
- schwerste Gefäßerkrankungen (insbesondere bei arterieller Verschlusskrankheit Stadium IV),
- Krankheiten der Atmungsorgane mit nicht ausgleichbarer Einschränkung der Lungenfunktion schweren Grades,
- schwerste Beeinträchtigung bei metastasierendem Tumorleiden (mit starker Auszehrung und fortschreitendem Kräfteverfall).
Zu dem maßgeblichen Zeitpunkt des Widerspruchbescheides waren diese Voraussetzungen nicht erfüllt.
Dabei verkennt der Senat nicht, dass Behinderungen, die das körperliche Gehvermögen nicht maßgeblich beeinträchtigt, sondern die Steuerungsfähigkeit in Bezug auf Koordination, Orientierungsfähigkeit und Gefahrenerkennung beeinflussen, die Tatbestandsmerkmale des Merkzeichens „aG“ erfüllen können. Das ist dann der Fall, wenn derartige Behinderungen dazu führen können, dass bei einem grundsätzlich intakten Gehvermögen auch kürzere Wegstrecken nicht zielgerichtet bewältigt werden können, z. B. weil Weglauftendenzen bestehen oder unvermittelte Bewegungen bzw. Anfälle zu Eigen- und Fremdgefährdung führen können. Auch derartige Störungen vermögen nach dem Gesetzeswortlaut grundsätzlich eine außergewöhnliche Gehbehinderung zu begründen. Der umfassende Behindertenbegriff i.S. des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX gebietet im Lichte des verfassungsrechtlichen und des unmittelbar anwendbaren UN- konventionsrechtlichen Diskriminierungsverbots (Art 3 Abs. 3 Satz 2 GG; Art 5 Abs. 2 UN-BRK) die Einbeziehung aller körperlichen, geistigen und seelischen Beeinträchtigungen (BSG vom 11. August 2015 - B 9 SB 1/14 R, SozR 4-3250 § 69 Nr. 21, Rn 21 zum Merkzeichen „G“). Allerdings müssen die Anstrengungen auf einem vergleichbaren Niveau sein, wie es bei Gehbehinderten mit körperlichen Einschränkungen der Fall ist (LSG Hamburg, Urteil vom 14. Mai 2019 – L 3 SB 22/17 – juris Rn. 35).
Gemessen an diesen Kriterien kann nicht von einer erheblichen mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigung im Sinne des Merkzeichens „aG“ ausgegangen werden. Die Situation des Klägers weicht von denjenigen Personen ab, die sich dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Sie ist nicht vergleichbar mit der Notwendigkeit, auch für sehr kurze Entfernungen einen Rollstuhl nutzen zu müssen.
Nach Auswertung der vorliegenden medizinischen Unterlagen und Bescheinigungen des Kindergartens ergibt sich, dass bei dem Kläger eine Trisomie 21 besteht und der Kläger an einer Sehbehinderung leidet. Aus den medizinischen Unterlagen geht hervor, dass er kürzere Wegstrecken frei und ohne Hilfe zurücklegen kann. Für längere Wegstrecken fehlt ihm die Kraft. Der Vortrag des Klägers wird in dem Arztbrief des UKGM vom 14. März 2018 bestätigt. Dort wird ausgeführt, dass Muskeltonus und Kraft leicht vermindert sind. Der damit einhergehenden verminderten Mobilität hat das beklagte Land durch die Anerkennung des Merkzeichen „G“ hinreichend Rechnung getragen.
Zwar wird in den Unterlagen beschrieben, dass der Kläger ohne auf den Verkehr zu achten, auf die Straße läuft oder aber wegläuft. Aus den Arztbriefen des UKGM vom 5. November 2017 und 15. November 2018 geht hervor, dass der Kläger die Gefahren des Straßenverkehrs nicht einschätzen kann. Er läuft einfach auf die Straße und kann sich nicht alleine im Straßenverkehr bewegen und braucht deshalb Begleitung auf dem Schulweg. Auch diesem Umstand hat das beklagte Land im angegriffenen Bescheid hinreichend durch das Fortbestehen der Merkzeichen „B“ und „H“ berücksichtigt.
Der Senat erkennt an, dass die Begleitung des Klägers aufgrund der Weglauftendenzen und der damit einhergehenden Gefährdung für die Begleitperson herausfordernd ist. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass es nicht die Zielsetzung des Nachteilsausgleichs des Merkzeichens „aG“ ist, die Aufgaben der Begleitperson zu erleichtern und entsprechende Wege zu verkürzen (LSG Hamburg, Urteil vom 14. Mai 2019 – L 3 SB 22/17 – juris Rn. 45).
Gegen die Festsetzung des Merkzeichens „aG“ spricht jedoch insbesondere, dass die klägerische Situation nicht mit der aufgrund körperlicher Behinderung Berechtigter gleichgesetzt werden kann. Eine solche vergleichbare Situation liegt nicht vor. Es ist weder vorgetragen worden noch kann aus den beigezogenen Befundberichten entnommen werden, dass der Kläger so massiv beeinträchtigt ist, dass er im öffentlichen Bereich nur noch in einem Buggy bzw. Rollstuhl transportiert werden muss.
Die vom Kläger benannten Zeugen waren nicht zu vernehmen. Sie waren benannt worden zur Klärung der Frage des Bestehens von Weglauftendenzen und dem nicht vorhandenen Gefahrbewusstsein des Klägers mit der Folge, dass dieser der ständigen Beaufsichtigung bereits zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheids bedurfte.
Für die Frage, ob eine Beweiserhebung (Zeugenvernehmung) zu erfolgen hat, kommt es nach der Rechtsprechung des BSG darauf an, ob das Gericht objektiv gehalten gewesen wäre, den Sachverhalt zu dem von dem betreffenden Beweisantrag erfassten Punkt weiter aufzuklären, ob es sich also zur beantragten Beweiserhebung hätte gedrängt fühlen müssen (stRspr; vgl. z.B. BSG SozR 1500 § 160 Nr. 5). Soweit der Sachverhalt nicht hinreichend geklärt ist, muss das Gericht von allen Ermittlungsmöglichkeiten, die vernünftigerweise zur Verfügung stehen, Gebrauch machen, insbesondere bevor es eine Beweislastentscheidung trifft (BSG, Beschluss vom 7. April 2011 – B 9 VG 15/10 B – juris Rn. 4).
Ein Beweisantrag kann abgelehnt werden, wenn es aus Sicht des Gerichts auf die ungeklärte Tatsache nicht ankommt, wenn diese Tatsache als wahr unterstellt werden kann, wenn das Beweismittel völlig ungeeignet oder unerreichbar ist, wenn die behauptete Tatsache oder ihr Fehlen bereits erwiesen oder wenn die Beweiserhebung wegen Offenkundigkeit überflüssig ist (vgl. BSG SozR 4-1500 § 160 Nr. 12 RdNr. 10; BSG, Beschluss vom 7. April 2011 – B 9 VG 15/10 B – juris Rn. 4). Der Senat konnte von einer Zeugenvernehmung absehen, da er das Bestehen von Weglauftendenzen und die damit einhergehende Gefährdung des Klägers und anderer Verkehrsteilnehmer als wahr unterstellt und dies in der Entscheidung entsprechend berücksichtigt hat, obwohl Weglauftendenzen erstmalig im Arztbrief vom 5. Oktober 2017 dokumentiert sind. Weglauftendenzen wurden auch im Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren vom Kläger nicht vorgetragen. In den Bescheinigungen des Kinderarztes (vom 9. Mai 2017 und 20. November 2017) und des Kindergartens (vom 4. Mai 2017 und 21. November 2017, ausgestellt von dessen Leiter Herrn P.) wird die Notwendigkeit des Transports des Klägers in einem Buggy bei längeren Strecken mit dessen fehlender Kraft und nicht mit Weglauftendenzen begründet.
Aus den dargelegten Gründen ist die Berufung zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Die Revision ist nicht zuzulassen, da keiner der in § 160 Abs. 2 SGG abschließend aufgeführten Gründe hierfür vorliegt.