L 3 R 800/18

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 20 R 1499/17
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 3 R 800/18
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 23.10.2018 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Rechtszügen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand:

Streitig ist der Beginn der Witwenrente der Klägerin.

Die Klägerin ist am 00.00.1934 geboren. Sie war mit dem am 00.00.1941 geborenen R (fortan: Versicherter) seit dem 20.12.1985 verheiratet. Die LVA Rheinprovinz, Rechtsvorgängerin der Beklagten, gewährte der Klägerin mit Bescheid vom 04.08.2000 seit dem 01.12.1999 Regelaltersrente aufgrund in Deutschland zurückgelegter Versicherungszeiten von Mai 1985 bis September 1989 unter Berücksichtigung von weiteren in Israel zurückgelegten Versicherungszeiten (damalige Rentenhöhe 78,50 DM). Bei Rentenantragstellung am 02.12.1999 hatte die Klägerin die Adresse „c/o M, J 6/8, Bat Yam, Israel“ angegeben. Da im Jahre 2002 keine Lebensbescheinigung der Klägerin einging, richtet die LVA Rheinprovinz am 23.05.2002 eine Anfrage an die israelische Verbindungsstelle, National Insurance Institute, die am 11.06.2002 mitteilte, nach der Datenlage sei die Klägerin im März 2001 aus Israel ausgereist. Sie habe bis heute nicht ausfindig gemacht werden können. Eine Anschrift im Ausland sei nicht bekannt. Die Tochter der Klägerin, A, teilte der LVA Rheinprovinz am 09.07.2002 mit, ihre Mutter wohne wegen der Sicherheitslage aktuell bei ihr in den USA. Der Wohnsitz sei aber nach wie vor in Israel. Ihre Adresse in den USA sei 340 U Avenue, NJ 07024. Am 17.07.2002 ging bei der LVA Rheinprovinz eine in Fort Lee, New Jersey beglaubigte Lebensbescheinigung bezüglich der Klägerin ein, in der angegeben war, dass die Anschrift der Klägerin „S c/o M, J 6/8, Bat Yam, Israel“ richtig und vollständig sei.

Der Versicherte, zuletzt wohnhaft in C, Deutschland, verstarb am 00.09.2010. Dieser bezog von der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg (DRV BW) bis zu seinem Tode Regelaltersrente. Die DRV BW holte am 05.11.2010 eine Auskunft aus dem Melderegister ein, wonach die Klägerin in die USA - ohne nähere Angaben - verzogen sei. Aus einem beigezogenen Kontospiegel der Klägerin vom 05.11.2010 ergab sich ohne nähere Angaben ein Wohnsitz der Klägerin in Israel. Am 15.11.2010 gab die DRV BW den Vorgang bezüglich einer Aufforderung zur Witwenrentenantragstellung an die Beklagte ab, da diese zuständig sei, die Klägerin zur Antragstellung der Witwenrente aufzufordern, da die Klägerin in Israel lebe. Die Beklagte gab die Akten am 01.12.2010 an die DRV BW zurück, da die Klägerin in den USA wohne und sie nicht zuständig sei. Am 09.12.2010 erfolgte ein Telefongespräch zwischen dem Sachbearbeiter der DRV BW Klassen und dem Sachbarbeiter der Beklagten H. Der Sachbearbeiter H teilte dabei hinsichtlich der Bearbeitung eines Witwenrentenantrages bei der DRV BW mit, dass sich aus den Akten ergebe, dass die Witwe die Person sei, die von der Beklagten Versichertenrente erhalte und dass diese nicht in Israel, sondern in den USA wohne.

Die DRV BW richtete eine Anfrage an das Notariat I C – Nachlassgericht -, welches am 29.10.2010 mitteilte, das die Anschrift der Klägerin unbekannt sei. Auf weitere Anfrage vom 09.12.2010 teilte das National Insurance Institute in Jerusalem am 17.01.2011 mit, dass die Klägerin vier Jahre in den USA gelebt habe, nunmehr aber in Israel unter der Anschrift X 19 St., Tel Aviv  lebe. Anschließend gab die DRV BW die Verwaltungsvorgänge an die Beklagte am 04.03.2011 hinsichtlich der Aufforderung zur Rentenantragstellung ab, da die Zuständigkeit der Beklagten gegeben sei. Die Beklagte übersandte daraufhin am 14.03.2011 Rentenantragsvordrucke an die Klägerin unter der Anschrift X St. 19 in  Tel Aviv, Israel. Am 01.06.2011 kamen diese Unterlagen durch die israelische Post als unzustellbar zurück. Die Beklagte wandte sich an die Verbindungsstelle zur israelischen Rentenversicherung. Am 13.11.2011 teilte das National Insurance Institute der Beklagten mit, dass nach ihrer Datenlage die Klägerin am 08.06.2011 aus Israel ausgereist und nicht wieder eingereist sei. Eine ausländische Anschrift sei nicht bekannt. Die Klägerin habe bis heute nicht ausfindig gemacht werden können und erhalte auch keine israelische Rentenzahlung. Daraufhin übersandte die Beklagte am 05.04.2012 den Vorgang zurück an die DRV BW, da deren Zuständigkeit gegeben sei. Die DRV BW richtete am 09.05.2012 ein Verrechnungsersuchen an die Beklagte wegen einer Überzahlung von nicht einbehaltenen Beiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung. Die Beklagte stellte die Rentenzahlung aus eigener Rente der Klägerin (wegen Fehlens einer aktuellen Anschrift) zu Ende März 2012 vorläufig ein.

Am 24.02.2015 ging eine Lebensbescheinigung der Klägerin vom 12.02.2015 durch die Deutsche Botschaft in Tel Aviv bei der Beklagten ein. Darin wurde als neue Anschrift die Adresse „c/o T, 9 I St., Tel Aviv, Israel“ und als Familienstand „geschieden“ angegeben. Zudem wurde vermerkt, die Klägerin melde das Ausblieben der Rente seit Juni 2010. Mit Schreiben vom 08.04.2015 teilte die Beklagte der DRV BW die neue Anschrift der Klägerin mit. Am 15.04.2015 bat die DRV BW die Beklagte in eigener Zuständigkeit zu prüfen, ob die Klägerin einen Anspruch auf eine Hinterbliebenenrente habe. Die Forderung wegen Eigenanteilen zur Kranken- und Pflegeversicherung habe sich erledigt. Die Klägerin teilte der Beklagten mit am 16.06.2015 eingegangenen Schreiben mit, dass ihre Tochter „A, 2037 N Ave. 111, Fort Lee, NJ 07024“ kontaktiert werden solle, wenn weitere Unterlagen benötigt würden.

Am 21.08.2015 übersandte die Beklagte der Klägerin unter der Anschrift „I St. 9, Tel Aviv, Israel“ den Antragsvordruck zur Witwenrente. Für die Klägerin meldete sich Rechtsanwältin E, Heilbronn am 12.11.2015 und bat um Mitteilung, welche Rentenansprüche der Klägerin zustünden. Die Beklagte schickte daraufhin der Bevollmächtigten der Klägerin am 24.11.2015 ebenfalls den Antragsvordruck zur Witwenrente. Diese sandten am 31.03.2016 den formellen Witwenrentenantrag mit Anlagen einschließlich Heiratsurkunde vom 20.12.1985 und vom deutschen Generalkonsulat in New York beglaubigter Erklärung der Klägerin, dass die Ehe mit dem Versicherten bis zu dessen Tode bestanden habe an die Beklagte.

Mit Bescheid vom 08.08.2016 gewährte die Beklagte der Klägerin große Witwenrente ab dem 01.11.2014 in Höhe von monatlich 496,27 €. Die Nachzahlung vom 01.11.2014 bis zum 31.07.2016 betrug 9.939,23 €. Die Beklagte führte bezüglich des Beginns der Rente aus, sie leiste längstens für 12 Kalendermonate vor dem Antragsmonat.

Dagegen legte die Klägerin am 08.09.2016 Widerspruch ein und trug vor, dass die Beklagte nach § 115 Abs. 6 des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuches – Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI) verpflichtet gewesen sei, sie darauf hinzuweisen, dass sie eine Leistung (hier: Witwenrente) erhalten könne, wenn sie sie beantrage. Gemäß § 3 der Richtlinien der DRV Bund seien Witwen, deren versicherte Ehegatten die allgemeine Wartezeit erfüllt oder bis zum Tod eine Rente bezogen haben, darauf hinzuweisen, dass sie Witwenrente erhalten können, wenn sie diese beantragen. Dieser Hinweis sei zwar am 11.08.2011 versucht worden, jedoch sei nicht nachzuvollziehen, warum die Aufforderung an die Adresse „X 19, Tel Aviv Israel gesandt worden sei. Der Beklagten sei bekannt gewesen, dass sie unter der Adresse „J 6/8 c/o M 8, Bat Yam Israel“ gewohnt habe. An diese ihr bekannte Adresse habe die Beklagte den Hinweis auf die Witwenrente nicht gesandt, sondern sich auf die falsche Auskunft der Verbindungsstelle des israelischen Rentenversicherungsträgers verlassen. Im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs sei  sie deshalb so zu stellen, als habe sie den Rentenantrag rechtzeitig gestellt. Ihr stehe ein Anspruch auf Witwenrente auch für den Zeitraum vom 01.01.2011 bis zum 31.10.2014 zu.

Mit Widerspruchsbescheid vom 20.07.2017 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Sie führte aus, eine Hinterbliebenenrente werde nicht für mehr als zwölf Kalendermonate vor dem Monat, in dem die Rente beantragt werde, geleistet (§ 99 Abs. 2 SGB VI). Der geltend gemachte Herstellungsanspruch sei nicht gegeben. § 3 der Richtlinien der DRV Bund sei erst im Jahre 2012 in Kraft getreten. Die Voraussetzungen für eine Anwendung von § 115 Abs. 6 SGB VI seien nicht gegeben, da ihr die aktuelle Anschrift der Klägerin im Zeitpunkt des Todes des Versicherten nicht bekannt gewesen sei. Anfragen beim Einwohnermeldeamt Heilbronn und beim Notariat C seien ohne Erfolg geblieben. Die Ermittlungen hätten für einen Aufenthalt in den USA gesprochen. Von der israelischen Nationalversicherungsanstalt sei am 17.01.2011 eine Adresse in Tel Aviv (X St. 19) bestätigt worden. Dort sei erfolglos versucht worden, die Klägerin zu kontaktieren. Am 13.11.2011 sei von der Nationalversicherungsanstalt mitgeteilt worden, dass die Klägerin am 08.06.2011 aus Israel ausgereist sei, ohne dass eine Anschrift bekannt sei. Schließlich sei Ende März 2012 die eigene Rente der Klägerin eingestellt worden, um diese zur Mitarbeit zu bewegen. Diese habe sich jedoch erst im Jahre 2015 gemeldet und die Auszahlung der bis dahin aufgelaufenen Rentenbeiträge geltend gemacht. In der Gesamtschau habe sie nicht davon ausgehen können, dass die Klägerin unter der in ihrem Versichertenkonto gespeicherten Adresse in Bat Yam, Israel erreichbar gewesen wäre.

Hiergegen hat die Klägerin am 28.08.2017 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Düsseldorf erhoben. Sie hat vorgetragen, sie sei im Jahre 2011 wohnhaft gewesen unter der Adresse „J 6/8, c/o M 8, Bat-Yam, Israel“. Es sei nicht nachvollziehbar, dass sich die Beklagte auf eine falsche Auskunft der Nationalversicherungsanstalt in Israel verlassen habe, obwohl ihr die richtige Adresse spätestens seit dem Jahr 2000 stets bekannt gewesen sei. Eine Mitteilung über eine dauerhafte Adressänderung habe es nicht gegeben. Im Jahre 2000 sei sie in einer Rentenangelegenheit und im Jahre 2007 wegen einer Rentenanpassung unter der Adresse in Bat-Yam erfolgreich angeschrieben worden. Aus der im Februar 2015 vorgelegten Lebensbescheinigung sei ihre neue Adresse ersichtlich gewesen. Somit hätte die Beklagte spätestens im Februar 2015 die Möglichkeit gehabt, ihrer Hinweispflicht nach § 115 Abs. 6 SGB VI nachzukommen. Aufgrund eines Herstellungsanspruchs sei die Beklagte verpflichtet, rückwirkend Witwenrente seit dem 01.01.2011 zu gewähren.

Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 08.08.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.07.2017 zu verurteilten, ihr Leistungen aus der Witwenrente auch für den Zeitraum seit dem 01.01.2011 zu gewähren.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat die angegriffenen Bescheide für rechtmäßig erachtet.

Das SG hat die Versichertenakte der Klägerin  beigezogen.

Mit Urteil vom 23.10.2018 hat das SG der Klage stattgegeben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin Witwenrente bereits ab dem 01.11.2011 zu gewähren. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt, die Voraussetzungen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs lägen vor. Die Beklagte habe ihre Pflicht nach § 115 Abs. 6 SGB VI verletzt, die Klägerin zeitnah nach dem Versterben ihres Ehemannes auf die Möglichkeit der Beantragung einer Witwenrente hinzuweisen. Die Klägerin habe bei der Beantragung ihrer eigenen Altersrente die Anschrift in Bat-Yam, Israel angegeben. Im Jahre 2002 habe sie erläutert, dass sie sich wegen der Sicherheitslage aktuell bei ihrer Tochter in den USA aufhalte, sie aber weiterhin in Israel unter der bekannten Anschrift wohne. Die Beklagte habe es unterlassen, an diese ihr bekannte Anschrift den Hinweis zur Beantragung der Witwenrente zu schicken. Es hätte nahegelegen, einen entsprechenden Hinweis an die zuletzt bekannte Adresse zu senden. Die Beklagte habe sich nicht auf die Auskunft des Melderegisters der Stadt Heilbronn verlassen dürfen, dass die Klägerin in die USA verzogen sei. Schließlich hätte es auch nahegelegen, bei der Tochter der Klägerin unter der im Jahr 2002 angegebenen Anschrift Nachforschungen zur Anschrift der Klägerin zu machen.

Gegen das ihr am 01.11.2018 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 14.11.2018 Berufung eingelegt. Sie trägt vor, bei dem zum Zeitpunkt des Todes des Versicherten bearbeitenden Rentenversicherungsträger seien nur der Name der Witwe und die Information bekannt gewesen, dass diese in die USA verzogen sei. Eine konkrete Anschrift habe nicht zur Verfügung gestanden. Zum Zeitpunkt des Todes des Versicherten und auch sechs Monate danach seien die Meldebehörden weder zur Übermittlung der Angaben zu den Hinterbliebenen verpflichtet gewesen, noch habe es eine Regelung gegeben, die eine solche Weitergabe ermöglicht habe. Die Rentenversicherungsträger hätten bei dieser Sachlage keine Hinweise aus dem bei ihnen vorhandenen Datenbestand an Witwen und Witwer mit Wohnsitz im Inland veranlassen können. Hinterbliebene mit einem Wohnsitz im Ausland seien im Hinblick auf das Erteilen von Hinweisen nicht anders zu behandeln. Etwas anderes könne auch nicht aus dem Umstand hergeleitet werden, dass der bearbeitende Leistungsträger bzw. sie versucht hätten, über den israelischen Versicherungsträger eine aktuelle Anschrift in Israel zu ermitteln. Diese zusätzlichen Ermittlungen seien nach der damals bestehenden Rechtslage nicht notwendig gewesen. Entsprechendes müsse auch für die Anfrage von Daten aus dem eigenen Versicherungskonto der Klägerin gelten. Denn bereits die Ermittlung eines eigenen Rentenversicherungskontos und des dafür zuständigen Leistungsträgers seien zum Zeitpunkt des Todes bzw. sechs Monate danach nicht erforderlich gewesen. Dies hätte ein Eingreifen der Sachbearbeitung beispielsweise zur Identitätsklärung erfordert und hätte somit nicht aus dem beim bearbeitenden Träger vorhandenen Datenbestand erfolgen können. Es sei daher unerheblich, ob die Klägerin im Jahre 2010 noch unter der in ihrem eigenen Versicherungskonto gespeicherten Adresse erreichbar gewesen wäre. Sie sei nach Mitteilung ihrer Tochter aus Juli 2002 aus Israel in die USA ausgereist und hätte damit ihren Wohnsitz nach dorthin verlegt. Eine aktuelle Wohnanschrift in den USA hätten weder die Klägerin noch ihre Tochter mitgeteilt, obwohl sie dazu verpflichtet gewesen seien. Im Übrigen sei nicht belegt, dass die verspätete Stellung des Hinterbliebenenantrages allein auf dem nicht gegebenen Hinweis an die Witwe im Jahr 2010 oder 2011 beruht habe. So sei trotz ausgebliebener Zahlung der eigenen Rente der Klägerin erst etwa drei Jahre später eine neue Lebensbescheinigung eingereicht worden. Sie verweist auf das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 29.01.2019 (L 2 R 146/15), das ihre Auffassung bestätige. Es sei allein auf den Datenbestand der DRV BW abzustellen. Wenn gleichwohl Ermittlungen unter Einbeziehung der Versichertenakte der Witwe durchgeführt worden  und diese an unzureichenden Informationen der Klägerin gescheitert seien, könne dies nicht gegen sie verwendet werden. Überdies habe es keine Anhaltspunkte dafür gegeben, die Angaben des israelischen Sozialversicherungsträgers anzuzweifeln.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 23.10.2018 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Ihre Anschrift in Bat-Yam, Israel sei in ihrem eigenen Versicherungskonto gespeichert und somit im Datenbestand vorhanden. Die Beklagte sei gehalten gewesen, zumindest „versuchshalber“ ein Schreiben an die zuletzt bekannte Adresse zu schicken. Leistungsträger müssten sich auch das Fehlverhalten anderer Leistungsträger zurechnen lassen. In Ländern wie Israel oder den USA existiere kein dem deutschen Recht vergleichbares Meldewesen. Sie habe ihren Wohnsitz auch nicht verlegt, sondern entsprechend der Mitteilung ihrer Tochter aus dem Jahre 2002 sich dort vorübergehend aufgehalten. Es habe auch kein Bedürfnis oder Erfordernis gegeben, sich über Meldebehörden zu informieren, da die Beklagte selbst positive Kenntnis gehabt habe. Vorliegend liege der Fall auch anders als in dem von der Beklagten zitierten Urteil des Hessischen LSG, da sie auch Versicherte der Beklagten gewesen sei und diese Kenntnis von dem Todesfall des Versicherten und der Existenz der Witwe gehabt habe.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakten der Beklagten (VSNR 01 und 02), die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

 

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Beklagten, die gem. § 128 Abs. 1 Satz 2 SGB VI zuständiger Leistungsträger ist, ist unbegründet.

Das SG hat die Beklage zu Recht verurteilt, der Klägerin große Witwenrente bereits ab dem 01.01.2011 zu gewähren. Der Bescheid der Beklagten vom 08.08.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.07.2017 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten nach § 54 Abs. 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Der Anspruch der Klägerin auf Gewährung von großer Witwenrente vor dem 01.11.2014, ab dem die Beklagte die Rente mit dem angefochtenen Bescheid vom 08.08.2016 gewährt hat, ergibt sich aufgrund des Vorliegens eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs.

Wie das SG zutreffend dargelegt hat, hat die Klägerin gem. § 46 Abs. 2 Satz 1 SGB VI einen Anspruch auf große Witwenrente nach dem verstorbenen Versicherten, da die Klägerin die Witwe des Versicherten ist, nach dessen Tod nicht wieder geheiratet hat und der Versicherte die allgemeine Wartezeit erfüllt hat.

Nach der gesetzlichen Regelung über den Rentenbeginn könnte die Klägerin die Witwenrente erst ab dem. 01.11.2014 beanspruchen. Gemäß § 99 Abs. 2 Satz 1 SGB VI wird eine Hinterbliebenenrente von dem Kalendermonat an geleistet, zu dessen Beginn die Anspruchsvoraussetzungen für die Rente erfüllt sind. Eine Hinterbliebenenrente wird nicht für mehr als zwölf Kalendermonate vor dem Monat, in dem die Rente beantragt wird, geleistet (§ 99 Abs. 2 Satz 3 SGB VI). Vorliegend haben die Bevollmächtigen der Klägerin die Beklagte mit am 09.11.2015 eingegangenen Schriftsatz hinsichtlich Rentenansprüchen der Klägerin aus der Versicherung ihres verstorbenen Ehemanns kontaktiert. Da aus diesem Schriftsatz der erkennbare Wille (§ 133 des Bürgerlichen Gesetzbuches) hervorgeht, Witwenrentenansprüche geltend zu machen, ist dieser als – formloser – Antrag auf die Gewährung von Witwenrente anzusehen (vgl. zur Auslegung von Anträgen: Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 02.04.2014 – B 4 AS 29/13 R –, Rn. 16 m.w.N.). Ausgehend von einer Antragstellung am 09.11.2015 ergäbe sich gem. § 99 Abs. 2 Satz 3 SGB VI – entsprechend der Regelung des Bescheides vom 08.08.2016 - ein Rentenbeginn vom 01.11.2014.

Die Klägerin ist jedoch aufgrund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu behandeln, als hätte sie den Rentenantrag früher gestellt.

Der von der Rechtsprechung entwickelte sozialrechtliche Herstellungsanspruch ist auf die Vornahme einer Amtshandlung zur Herstellung des Zustandes gerichtet, der bestehen würde, wenn der Versicherungsträger die ihm aufgrund eines Gesetzes oder eines konkreten Sozialrechtsverhältnisses der Versicherten gegenüber erwachsenden Haupt- und Nebenpflichten, insbesondere  zur Auskunft und Beratung, ordnungsgemäß wahrgenommen hätte (ständige Rechtsprechung, vgl. BSG, Urteil vom 14.11.2002 – B 13 RJ 39/01 R –, Rn. 30 m.w.N.). Voraussetzung ist, dass die verletzte Pflicht dem Sozialleistungsträger gerade gegenüber dem Versicherten oblag, diesem also ein entsprechendes subjektives Recht eingeräumt hat. Die objektiv rechtswidrige Pflichtverletzung muss zumindest gleichwertig (neben anderen Bedingungen) einen Nachteil des Versicherten bewirkt haben. Schließlich muss die verletzte Pflicht darauf gerichtet gewesen sein, den Betroffenen gerade vor den eingetretenen Nachteilen zu bewahren.

Vorliegend haben die Beklagte und die DRV BW die ihnen obliegende Pflicht zur Beratung der Klägerin nach § 14 Sätze 1, 2 des Ersten Buches des Sozialgesetzbuches – Allgemeiner Teil (SGB I) verletzt. Hiernach hat jeder Anspruch auf Beratung über seine Rechte und Pflichten nach dem Sozialgesetzbuch. Zuständig für die Beratung sind die Leistungsträger, denen gegenüber die Rechte geltend zu machen oder die Pflichten zu erfüllen sind. Aufgrund des Todes des Versicherten hat eine sogenannte Spontanberatungspflicht (vgl. BSG, Urteil vom 18.01.2011 – B 4 AS 29/10 R –, Rn. 14 m.w.N.) bestanden. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG besteht dann eine Hinweis- und Beratungspflicht des Leistungsträgers, wenn anlässlich einer konkreten Sachbearbeitung in einem Sozialrechtsverhältnis dem jeweiligen Mitarbeiter eine naheliegende Gestaltungsmöglichkeit ersichtlich ist, die ein verständiger Versicherter/Leistungsberechtigter wahrnehmen würde, wenn sie ihm bekannt wäre (ständige Rechtsprechung, vgl. BSG, Urteile vom 08.02.2007 - B 7a AL 22/06 R – Rn. 18; vom 27.07.2004 - B 7 SF 1/03 R -, Rn. 17; vom 10.12.2003 - B 9 VJ 2/02 R -, Rn. 31; vom 14.11.2002 - B 13 RJ 39/01 R -, Rn. 30; vom 05.04.2000 - B 5 RJ 50/98 R -, Rn. 18; vom 05.08.1999 - B 7 AL 38/98 R -, Rn. 27, jeweils m.w.N.). Dabei ist die Frage, ob eine Gestaltungsmöglichkeit klar zu Tage liegt, allein nach objektiven Merkmalen zu beurteilen (BSG, Urteil vom 26.10.1994 - 11 RAr 5/94 -, Rn. 21).

Eine derartige Situation liegt hier vor. Denn es war zum Zeitpunkt des Todes des Versicherten zunächst durch Sachbearbeiter der DRV BW und später der Beklagten ein Verwaltungsverfahren (§ 8 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches – Verwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz [SGB X]) anhängig und zwar zum einen wegen der Verrechnung von überzahlten Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen als auch zum anderen wegen der Gewährung der Witwenrente. Die ihnen obliegende Beratungspflicht hinsichtlich der Stellung eines Witwenrentenantrages ist auch durch die Sachbearbeiter der DRV BW und der Beklagten zutreffend erkannt worden. Soweit durch die Sachbearbeitung der DRV BW zunächst versucht worden ist, die Anschrift der Klägerin durch Anfrage beim Melderegister in Erfahrung zu bringen, ist dies nicht zu beanstanden. Nachdem aber aufgrund der Beiziehung des Kontospiegels der Klägerin aus eigener Versicherung sich eine mögliche Anschrift in Israel ergab und die Verwaltungsakten deshalb an die Beklagte als zuständige Verbindungsstelle zu Israel abgegeben worden waren, ist die konkrete Sachbearbeitung auf die Mitarbeiter der Beklagten (vgl. den Aktenvermerk vom 09.12.2010 des Sachbearbeiters H) übergegangen. Obwohl – wie sich aus dem Aktenvermerk vom 09.12.2010 ergibt – erkannt worden ist, dass die Klägerin die Witwe des Versicherten ist und aus eigener Versicherung Regelaltersrente von der Beklagten bezieht, ist jedoch versäumt worden, die Klägerin durch Anschreiben an die aus der Versichertenakte bekannte Anschrift „S c/o M, J 6/8, Bat-Yam, Israel“ über den ihr zustehenden Anspruch auf Witwenrente zu informieren. Diese Anschrift war diejenige, die die Klägerin bei Beantragung von Versichertenrente aus ihrer eigenen Versicherung am 02.12.1999 angegeben hatte, die ausweislich der Lebensbescheinigung und der Auskunft der Tochter A vom 09.07.2002 weiterhin zutreffend war und unter der die Klägerin nach ihren plausiblen Angaben weiterhin zu erreichen gewesen war. Dabei ist nach allgemeiner Lebenserfahrung eine Anschrift zunächst weiterhin zutreffend, solange keine Adressenänderung mitgeteilt wird. Die Benutzung der zuletzt angegebenen Anschrift hätte damit nach ganz naheliegenden Überlegungen Ausgangspunkt einer Recherche zur Anschrift der Klägerin sein müssen. Erst wenn dies nicht zu einem Kontakt mit der Klägerin geführt hätte, hätten weitere Auskünfte über den Verbleib der Klägerin eingeholt werden müssen. Keinesfalls hätten sich die Beklagte allein auf entgegenstehende unrichtige Auskünfte des israelischen Sozialversicherungsträgers verlassen dürfen. Damit hat die Beklagte dadurch, dass sie keine Versuche unternommen hat, die Klägerin unter der ihr bekannten Anschrift in Bat-Yam, Israel oder unter der ihr ebenfalls mitgeteilten Anschrift der Tochter A in Fort Lee, USA als Aufenthaltsort im Jahre 2002 zu erreichen, gegen ihre Beratungspflicht aus § 14 SGB I verstoßen. Auch nach Rücklauf der Akten an die DRV BW sind durch deren Mitarbeiter keine Versuche unternommen worden, die Klägerin unter ihrer letzten Anschrift in Bat-Yam, Israel zu kontaktieren. Diesbezügliche Fehler der Beklagten und der DRV BW sind diesen wechselweise zurechenbar, da diese als Funktionseinheit agieren (vgl. BSG, Urteil vom 06.05.2010 – B 13 R 44/09 R –, Rn. 31).

Ob neben der Verletzung der Spontanberatungspflicht nach § 14 SGB I auch eine Verletzung der Hinweispflicht nach § 115 Abs. 6 SGB VI eingetreten ist – wovon das SG ausgegangen ist-, kann bei dieser Sachlage dahinstehen.

Die Stellung eines Antrages auf Witwenrente war auch für die Klägerin eine klar zu Tage tretende Gestaltungsmöglichkeit. Nach allgemeiner Lebenserfahrung ist davon auszugehen, dass eine verständige Versicherte einen Antrag auf Witwenrente stellen würde, wenn sie von dieser Möglichkeit erfährt. Dies gilt umso mehr, da die Klägerin aus eigener Versicherung nur eine geringe Rente (monatlich 78,50 DM im Jahre 2000) bezieht und der Zahlbetrag der großen Witwenrente demgegenüber als erheblich zu bezeichnen ist (monatlich 496,27 € im Jahre 2014). Entsprechend hat die Klägerin, nachdem die Beklagte ihr Antragsvordrucke im August 2015 übersandt hatte, anschließend einen Rechtsanwalt mit der Wahrnehmung ihrer Rechte beauftragt, sich über die ihr zustehenden sozialen Rechte erkundigt und den Antrag auf Gewährung von Witwenrente gestellt.

Die Pflichtverletzung der Beklagten hat auch ursächlich zu einem Schaden bei der Klägerin geführt, da Hinterbliebenenrente nach der Regelung des § 99 Abs. 2 Satz 3 SGB VI erst ab dem 01.11.2014 und nicht bereits ab dem 01.11.2010 gewährt worden ist.

Da die Voraussetzungen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs erfüllt sind, kann in entsprechender Anwendung von § 44 Abs. 4 SGB X die rückwirkende Leistung innerhalb der Ausschlussfrist von vier Jahren verlangt werden (vgl. BSG, Urteil vom 27.03.2007 – B 13 R 58/06 -, Rn. 12 ff), da der Herstellungsanspruch, der die Verletzung einer Nebenpflicht des Leistungsträgers (wie z. B. eine Beratungspflicht) sanktioniert, nicht weiter reichen kann als der Anspruch bei Verletzung einer Hauptpflicht. Sozialleistungen werden gem. § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X, wenn ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden ist, nach den Vorschriften der besonderen Teile des Sozialgesetzbuches längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht. Dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird. Erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraumes, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag (§ 44 Abs. 4 Sätze 2, 3 SGB X). Ausgehend von einer Antragstellung am 12.11.2015 hat die Klägerin Anspruch auf die Gewährung von großer Witwenrente ab dem 01.01.2011.

Der Beginn der Witwenrente am 01.01.2011 wird auch nicht durch die Regelung in § 99 Abs. 2 Satz 3 SGB VI, wonach eine Hinterbliebenenrente nicht für mehr als zwölf Kalendermonate vor dem Monat, in dem die Rente beantragt wird, geleistet wird, ausgeschlossen. Die Auslegung ergibt, dass es sich bei dieser Regelung nicht um eine Ausschlussfrist zur Begrenzung von Rentenansprüchen handelt (vgl. Kador in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 3. Aufl., § 99 SGB VI (Stand: 19.05.2022) Rn. 68 m.w.N.). Nach dem Wortlaut von § 99 Abs. 2 Satz 3 SGB VI ist nicht eindeutig, ob es sich bei dieser Regelung um eine besondere Antrags- oder Ausschlussfrist handelt. Aus der Gesetzesbegründung ergibt sich jedoch, dass der Verlust von Rentenansprüchen in den Fällen vermieden werden sollte, in denen Hinterbliebene aus Unkenntnis über den Tod des Versicherten oder über das Bestehen eines Rentenanspruchs erst innerhalb der verlängerten Frist einen Rentenantrag stellen können, indem die allgemeine Dreimonatsfrist auf eine Zwölfmonatsfrist erweitert wird (vgl. BT-Drs. 11/5530, S. 45). Hieraus folgt, dass die Rechte Hinterbliebener durch die Regelung in § 99 Abs. 2 Satz 3 SGB VI nicht beschnitten, sondern erweitert werden sollten. Auch aus der Systematik des Gesetzes ergibt sich kein Anhalt, die Rechte von Hinterbliebenenrentnern bei Anwendung von § 44 Abs. 4 SGB X durch Einführung einer kürzeren Ausschlussfrist stärker zu beschneiden als die Rechte von Versichertenrentnern.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1  SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht, § 160 Abs. 2 SGG.

 

 

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