Das Urteil des SG Hannover vom 28. April 2021 wird aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Erstattung von Kosten für eine Kryokonservierung sowie die Kostenübernahme für die Zukunft.
Der am H. 1987 geborene Kläger ist bei der beklagten Krankenkasse gesetzlich krankenversichert. Am 16. November 2019 wurde bei ihm bei einem Auslandsaufenthalt in I. (Österreich) überraschend Hodenkrebs diagnostiziert, nachdem er sich aufgrund von Schmerzen in die dortige Klinik begeben hatte. Bei zwei Vorstellungen in der Medizinischen J. K. r (ML.) am 17. und 18. November wurde die Diagnose bestätigt. Eine Orchiektomie (operative Entfernung des Tumors) wurde für den 22. November 2019 geplant. Im Zuge der Aufklärungsgespräche informierten die behandelnden Ärzte den Kläger, dass seine Zeugungsfähigkeit durch die Operation und die sich anschließende Chemotherapie gefährdet sei und empfahlen ihm aufgrund seines jungen Alters und eines bestehenden Kinderwunsches eine Kryokonservierung von Samenzellen, also die Entnahme und anschließende Lagerung bei extrem tiefen Temperaturen zur Aufrechterhaltung ihrer Vitalität. Für die Entnahme der Samenzellen erhielt der Kläger in der ML. einen Termin am 20. November 2019, den er wahrnahm.
Am 1. Dezember 2019 beantragte er bei der Beklagten die Kostenübernahme der Kryokonservierung sowie der dazu gehörenden medizinischen Maßnahmen. § 27a Abs 4 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) sei im Mai 2019 dahingehend novelliert worden, dass die Kryokonservierung Gegenstand der gesetzlichen Krankenversicherung sei.
Mit Bescheid vom 5. Dezember 2019 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Der Gesetzgeber habe zum 12. Mai 2019 zwar die Rechtsgrundlage zur Kostenübernahme geschaffen, allerdings seien weitere Schritte bis zur Umsetzung erforderlich. Der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) müsse die Richtlinien zur künstlichen Befruchtung ergänzen. Erst danach könne die Abrechnung geregelt werden und die Ärztinnen und Ärzte dürften die Kryokonservierung zu Lasten der Krankenkassen erbringen und abrechnen.
Hiergegen legte der Kläger am 21. Dezember 2019 Widerspruch ein. Die gesetzliche Grundlage für eine Kryokonservierung sei bereits geschaffen. Es liege nicht in seiner Sphäre, wie die Abrechnung dieser Kassenleistung konkret umgesetzt werde und er habe keinen Einfluss hierauf.
Mit Widerspruchsbescheid vom 4. Juni 2020 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Gemäß § 27a Abs 4 SGB V bestehe seit dem 11. Mai 2019 grundsätzlich Anspruch auf Kryokonservierung von Ei- oder Samenzellen oder von Keimzellgewebe sowie auf die dazugehörigen medizinischen Maßnahmen, wenn die Kryokonservierung wegen einer Erkrankung und deren Behandlung mit einer keimzellschädigenden Therapie medizinisch notwendig erscheine, um spätere medizinische Maßnahmen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft vornehmen zu können. Nach Absatz 5 bestimme der GBA in den Richtlinien nach § 92 SGB V, insbesondere in den Richtlinien über ärztliche Maßnahmen zur künstlichen Befruchtung, die medizinischen Einzelheiten zu Voraussetzungen, Art und Umfang der Maßnahmen. Dies sei noch nicht erfolgt. Auch sei noch keine Abrechnungsziffer für die Kryokonservierung von Spermien geschaffen worden. Insofern habe zum Zeitpunkt des Leistungsantrags bzw der Durchführung der Kryokonservierung noch kein Sachleistungsanspruch bestanden. Im Übrigen sei die Leistung aber auch in Anspruch genommen worden, ohne dass ihr – der Beklagten – die Möglichkeit einer Entscheidung gegeben worden sei. Nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) fehle es damit an dem erforderlichen Ursachenzusammenhang zwischen Ablehnung und Selbstbeschaffung. Der Kläger habe sich bereits unabhängig vom Verhalten seiner Krankenkasse endgültig auf diese Leistung festgelegt.
Der Kläger hat am 3. Juli 2020 Klage bei dem Sozialgericht (SG) Hannover erhoben mit der er sein Begehren weiterverfolgt hat. Er hat vorgetragen, dass die durchgeführte Kryokonservierung unaufschiebbar gewesen sei, weil sie zwingend vor der Operation am 22. November 2019 habe erfolgen müssen. Darüber hinaus habe er sich in einer seelischen Ausnahmesituation befunden. Dass in diesem kurzen Zeitraum zwischen Diagnose, OP-Vorbereitung samt diverser (Vor-)untersuchungen und Behandlungen kein zusätzlicher Raum gewesen sei, die Beklagte im Vorhinein zu informieren und eine Entscheidung abzuwarten, bedürfe keiner weiteren Begründung. Die Beklagte wäre für einen etwaig fernmündlich zu stellenden Antrag an dem Wochenende 16./17. November 2019 ohnehin nicht erreichbar gewesen. Am Montag den 18. November und Dienstag, den 19. November habe er Untersuchungstermine in der ML. gehabt. Keinesfalls besage § 27a Abs 5 SGB V im Übrigen, dass der Anspruch nach § 27a Abs 4 SGB V nicht bestehe, solange der GBA die Richtlinien nicht ändere.
Der Kläger hat Privatrechnungen der MHH vom 19. Dezember 2019 über insgesamt 518,74 Euro für die medizinischen Maßnahmen im Zusammenhang mit der Kryokonservierung sowie eine Rechnung der Firma M. vom 28. November 2019 über 390,61 Euro für die Lagerung der Spermien im Zeitraum November 2019 bis Oktober 2020 vorgelegt.
Mit Urteil vom 28. April 2021 hat das SG die Beklagte unter Aufhebung entgegenstehender Bescheide verurteilt, dem Kläger die bisher im Zusammenhang mit der durchgeführten Kryokonservierung nachgewiesenen Kosten in Höhe von 909,35 Euro zu erstatten sowie darüber hinausgehende, bereits angefallene oder zukünftig anfallende jährliche Verwahrungsgebühren zu übernehmen. Zwischen den Beteiligten sei unstreitig, dass der Kläger zum Zeitpunkt der am 20. November 2019 erfolgten Kryokonservierung die Voraussetzungen des § 27a Abs 4 SGB V erfüllt habe. Der GBA habe die Richtlinie zur Kryokonservierung von Ei- oder Samenzellen oder Keimzellgewebe sowie entsprechende Maßnahmen wegen keimzellschädigender Therapie (Kryo-RL) erst mit Beschluss vom 16. Juli 2020 erlassen. Die Richtlinie sei am 20. Februar 2021 in Kraft getreten. Dem Kläger stehe für seine Kryokonservierung jedoch ein Anspruch direkt aus dem Gesetz zu. Es müsse davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber mit der ohne Übergangsregelung neu geschaffenen Vorschrift des § 27a Abs 4 SGB V sogleich ab Inkrafttreten des Gesetzes zum 11. Mai 2019 die von da an maßgeblichen Voraussetzungen für den Anspruch auf Kryokonservierung habe festlegen wollen. Er habe im Rahmen des Gesetzesentwurfes ausgeführt, dass mit der Änderung der Anspruch auf Kryokonservierung Personen zu Gute kommen solle, die aufgrund einer Erkrankung eine keimzellschädigende Therapie in Anspruch nehmen müssten und bei denen zwar keine spätere Wiederherstellung der Zeugungs- oder Empfängnisfähigkeit an sich in Betracht komme, für die aber eine spätere künstliche Befruchtung in Betracht kommen könnte (BT-Drucksache 19/6337, Seite 87). Ein Hinweis auf eine Übergangsregelung finde sich dort nicht. Die Annahme der Beklagten, die gesetzlichen Krankenkassen hätten bis zum Erlass entsprechender Richtlinien durch den GBA weiterhin die Kostenübernahme ablehnen können, entbehre einer rechtlichen Grundlage. Von einer solche „Rechtsanwendungssperre“, die an sich aufgrund eines vom Gesetzgeber zwingend erteilten Auftrages zur untergesetzlichen Normenkonkretisierung bis zum Erlass entsprechender Vorschriften eintrete, sei nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes und des Bundesverwaltungsgerichtes insoweit eine Ausnahme möglich, als der Verwaltung bzw den Gerichten für die Dauer der Untätigkeit des untergesetzlichen Normgebers eine Art „Notkompetenz“ zuzugestehen sei. Diese sollten die neue gesetzliche Regelung in bestimmten Fällen unmittelbar selbst anwenden dürfen, sofern dies möglich und zwingend geboten sei (BSG, Beschluss vom 15. Mai 2019, B 6 KA 27/18 B). Entsprechend sei die Fortsetzung der veralteten Gesetzeslage „wie bisher“ trotz entgegenstehender gesetzlicher Neuregelung auch unter analoger Anwendung der Rechtsprechung zum Systemversagen als rechtswidrig anzusehen. Solange kein entsprechender EBM vorliege, sei die Beklagte dabei gehalten, die dem Kläger tatsächlich entstandenen Kosten zu erstatten. Die Leistung sei unter Würdigung des im vorliegenden Fall sehr engen Zeitfensters zwischen der Bestätigung der Diagnose und der geplanten Orchiektomie auch unaufschiebbar gewesen. Der Kläger habe sich zudem in einem psychischen Ausnahmezustand befunden, der eine Abklärung der Kosten mit der Beklagten in diesem Zeitfenster unzumutbar gemacht habe.
Gegen das ihr am 17. Mai 2021 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 8. Juni 2021 Berufung bei dem Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen eingelegt. Sie führt aus, die Voraussetzungen des § 27a Abs 4 SGB V würden konkretisiert durch die gemäß Abs 5 zu beschließenden Richtlinien des GBA. Insoweit sei es widersprüchlich, wenn das Gericht davon ausgehe, dass es dieser Richtlinien für einen Anspruch nicht bedürfe und die Voraussetzungen des Abs 4 nicht streitig seien. Ohne die Bestimmung des GBA sei die Leistungspflicht überhaupt nicht nachvollziehbar. Wäre ein direkter Anspruch auf die Leistung aus dem Gesetz heraus gewollt gewesen, hätte es des Abs 5 nicht bedurft. Zudem bedürfe es für eine Leistungspflicht der Krankenkasse einer EBM-Position gem § 87 SGB V, wonach die Vergütung auf Grundlage eines einheitlichen Bewertungsmaßstabes erfolge. § 87 Abs 5b Satz 1, 2 SGB V gebe dem Bewertungsausschuss für die Schaffung eines solchen eine Frist von sechs Monaten nach Inkrafttreten der Beschlüsse des GBA. Die EBM-Ziffer liege mittlerweile vor. Ab dem 1. Juli 2021 könne die Leistung als Sachleistung in Anspruch genommen werden. Zum Zeitpunkt der hier streitgegenständlichen Kryokonservierung habe es die EBM-Ziffer jedoch noch nicht gegeben. Der Argumentation des SG, es habe ein Systemversagen vorgelegen, könne nicht gefolgt werden. Ein solches lasse sich angesichts der Kürze der Zeit nicht daraus ableiten, dass der GBA vom 11. Mai 2019 an bis zum 20. November 2019 noch keine Richtlinie beschlossen habe. Im Übrigen sei auch der Beschaffungsweg nicht eingehalten worden. Von der Erstdiagnose bis zum Eingriff seien fünf Tage vergangen. In dieser Zeit sei es dem Kläger nach eigenen Angaben möglich gewesen, das Organisatorische zu klären. Ein Antrag bei der Krankenkasse wäre ebenfalls in diese Kategorie gefallen, so dass eine Überforderung als Argumentation für die Nichteinhaltung des Beschaffungsweges nicht herangezogen werden könne.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des SG Hannover vom 28. April 2021 zu ändern und die Klage gegen ihre Bescheide in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Juni 2020 abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er wiederholt und vertieft im Wesentlichen sein Vorbringen aus der ersten Instanz. Ergänzend äußert er die Auffassung, § 27a Abs 5 SGB V besage lediglich, dass der GBA in den Richtlinien die medizinischen Einzelheiten zu Voraussetzungen, Art und Umfang der Maßnahmen nach den Absätzen 1 und 4 bestimmen dürfe. Keinesfalls könne daraus abgeleitet werden, dass ein Anspruch mit Schaffung der Richtlinie erst entstehe. Diese Auslegung führe zu erheblichen Rechtsunsicherheiten. Es könne nicht sein, dass der Betroffene davon abhängig sei, ob von bestimmten Institutionen Richtlinien erlassen würden, zumal § 27a Abs 5 SGB V keine Umsetzungsfrist enthalte. Zwischen Inkrafttreten des Gesetzes am 11. Mai 2019 und dem Erlass der Richtlinie am 20. Februar 2021 seien hier letztlich beinahe zwei Jahre vergangen. Soweit die Beklagte ihm hinsichtlich der Einhaltung des Beschaffungsweges vorwerfe, er sei in der Lage gewesen, Organisatorisches abzuklären, habe er hierunter die Konzentration auf zwingend notwendige Maßnahmen für die weitere Behandlung verstanden, nämlich den Transport zur Klinik, die Abholung von dort sowie Betreuungsmöglichkeiten nach der Entlassung. Ein Antrag bei der Krankenkasse habe nicht hierzu gezählt.
Mit Schriftsatz vom 28. Juni 2021 hat die Beklagte erklärt, der Kläger könne die Kryokonservierung ab dem 1. Juli 2021 als Sachleistung bei ihr in Anspruch nehmen. Hierzu zählten auch die Lagerungskosten. Mit Bescheid vom 18. Februar 2022 hat sie dem Kläger mitgeteilt, dass sie ihm im Wege einer Einzelfallentscheidung seit dem 16. Juli 2020 entstandene Kosten für Kryokonservierung in Höhe des Vertragssatzes von 68,- Euro pro Quartal, insgesamt 340,- Euro erstatte. Zukünftig sei die Leistung zwingend über die Gesundheitskarte abzurechnen.
Der Kläger hat zwei weitere Rechnungen der Firma M. für Lagerungskosten vom 1. November 2020 (Zeitraum 1. November 2020 bis 31. Oktober 2021) und 1. November 2021 (Zeitraum 1. November 2021 bis 31. Oktober 2022) über jeweils 390,61 Euro eingereicht.
Die Beteiligten haben sich mit Schriftsätzen vom 14. September 2022 und 4. Oktober 2022 mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Diese sind Gegenstand der Entscheidungsfindung des Senats gewesen.
Entscheidungsgründe
Gemäß § 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) konnte der Senat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt haben.
Die Berufung des Klägers ist form- und fristgemäß eingelegt worden und auch im Übrigen zulässig.
Sie ist auch begründet. Dem Urteil des SG Hannover vermag sich der Senat nicht anzuschließen. Der Bescheid vom 5. Dezember 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Juni 2020 ist rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Erstattung der ihm für die Kryokonservierung seiner Spermien entstandenen Kosten.
Soweit – wie hier – nicht grundsätzlich anstelle der Sach- und Dienstleistungen gegenüber der Krankenkasse Kostenerstattung gewählt wurde (§ 13 Abs 2 SGB V) oder eine im Ausland erbrachte Leistung streitgegenständlich ist (§ 13 Abs 4 und 5 SGB V), setzt ein Anspruch auf Kostenerstattung gemäß § 13 Abs 3 Satz 1 SGB V voraus, dass die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte oder eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dadurch dem Versicherten für die selbst beschaffte Leistung Kosten entstanden sind.
Die allein in Betracht kommende zweite Variante ist hier nicht einschlägig. Die Beklagte hat die begehrte Leistung nicht zu Unrecht abgelehnt. Der Kostenerstattungsanspruch ist in seinem Umfang abhängig vom Sachleistungsanspruch. Er setzt voraus, dass die selbstbeschaffte Behandlung oder Leistung zu den Leistungen gehört, die die Krankenkassen allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben (vgl BSGE 97, 190 = SozR 4-2500 § 27 Nr 12 Rn 11; BSGE 100, 103 = SozR 4-2500 § 31 Nr 9 Rn 13 mwN; BSGE 111, 137 = SozR 4-2500 § 13 Nr 25 Rn 15 mwN).
Ein Sachleistungsanspruch bestand zum Zeitpunkt der Spermienentnahme und Beginn der Lagerung am 20. November 2019 noch nicht. Zwar wurde § 27a Abs 4 SGB V zum 11. Mai 2019 eingeführt, wonach Versicherte Anspruch auf Kryokonservierung von Ei- oder Samenzellen oder von Keimzellgewebe sowie auf die dazugehörigen medizinischen Maßnahmen haben, wenn die Kryokonservierung wegen einer Erkrankung und deren Behandlung mit einer keimzellschädigenden Therapie medizinisch notwendig erscheint, um spätere medizinische Maßnahmen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft nach Absatz 1 vornehmen zu können (Satz 1). Absatz 3 Satz 1 zweiter Halbsatz, wonach der Anspruch nicht für männliche Versicherte besteht, die das 50. Lebensjahr vollendet haben, gilt entsprechend (Satz 2). Diese Voraussetzungen lagen bei dem Kläger dem Grunde nach vor, was zwischen den Beteiligten auch unstreitig ist. Die aufgrund seiner Hodenkrebserkrankung erforderliche Operation sowie die anschließende Chemotherapie stellten potentiell keimzellschädigende Therapien dar. Die Kryokonservierung erschien auch notwendig, um spätere medizinische Maßnahmen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft vornehmen zu können. Der Kläger war zum Zeitpunkt der Entnahme seiner Spermien 31 Jahre alt und hatte damit die Altersgrenze noch nicht erreicht.
Ein Anspruch gegen die gesetzlichen Krankenkassen bestand allerdings nicht bereits mit Erlass des § 27a Abs 4 SGB V. Denn gemäß § 27a Abs 5 SGB V bestimmt der GBA in den Richtlinien nach § 92 die medizinischen Einzelheiten zu Voraussetzungen, Art und Umfang der Maßnahmen nach den Absätzen 1 und 4. Die Ermächtigungsnorm wurde ursprünglich zur näheren Ausgestaltung des § 27a Abs 1 SGB V geschaffen, der den Anspruch auf medizinische Maßnahmen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft regelt (seinerzeit § 27a Abs 4 SGB V). Nach der Gesetzesbegründung sollten hierzu unter Anderem die medizinischen Indikationen für die Behandlung zählen sowie Regelungen, die die vorgeschriebene Erfolgsaussicht konkretisieren (BT-Drucksache 11/6760, Seite 15). Nichts Anderes gilt nunmehr auch nach der Erstreckung auf den neu geschaffenen § 27a Abs 4 SGB V (BeckOGK/Zieglmeier, 1. März 2020, SGB V § 27a Rn 69). Nach § 92 Abs 1 SGB V beschließt der GBA die zur Sicherung der ärztlichen Versorgung erforderlichen Richtlinien über die Gewähr für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten; er kann dabei die Erbringung und Verordnung von Leistungen oder Maßnahmen einschränken oder ausschließen, wenn nach allgemein anerkanntem Stand der medizinischen Erkenntnisse der diagnostische oder therapeutische Nutzen, die medizinische Notwendigkeit oder die Wirtschaftlichkeit nicht nachgewiesen sind; er kann die Verordnung von Arzneimitteln einschränken oder ausschließen, wenn die Unzweckmäßigkeit erwiesen oder eine andere, wirtschaftlichere Behandlungsmöglichkeit mit vergleichbarem diagnostischen oder therapeutischen Nutzen verfügbar ist. Er soll gemäß § 92 Abs 1 Satz 2 Nr 10 SGB V unter anderem Richtlinien beschließen über die medizinischen Maßnahmen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft nach § 27a Abs 1 sowie die Kryokonservierung nach § 27a Absatz 4. Der GBA entscheidet damit erst über die weitere Ausgestaltung des Gesetzes als Normgeber, wobei Richtlinien in der Rechtsprechung des BSG seit Langem als untergesetzliche Rechtsnormen mit Bindungswirkung gegenüber allen Systembeteiligten anerkannt sind (BSG 7. Mai 2013, B 1 KR 8/12 R, SozR 4-2500 § 27a Nr 14). Vor Erlass einer solchen Richtlinie fehlen wesentliche Aussagen über die Voraussetzungen einer Kryokonservierung als Sachleistung durch die Krankenkassen. Der gesetzliche Leistungsanspruch des § 27a Abs 4 SGB V verdichtet sich damit erst mit Erlass der Richtlinie zu einem durchsetzbaren Einzelanspruch (so auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 12. Juli 2022 – L 11 KR 98/22; vorgehend SG Mannheim, Urteil vom 1. Dezember 2021 – S 4 KR 1660/20; Felix in MedR 2020, 728, 732; Uyanik in SGb 2020, 473, 476).
Etwas Anderes ergibt sich entgegen der Auffassung des SG auch nicht aus der Gesetzesbegründung zu § 27a Abs 4 SGB V. Soweit hier ausgeführt wird, dass mit der Änderung der Anspruch auf Kryokonservierung Personen zu Gute kommen solle, die aufgrund einer Erkrankung eine keimzellschädigende Therapie in Anspruch nehmen müssten und bei denen zwar keine spätere Wiederherstellung der Zeugungsfähigkeit oder Empfängnisfähigkeit an sich in Betracht kommt, für die aber eine spätere künstliche Befruchtung in Frage kommen könnte, und dass die Krankenkasse künftig die Kosten für die erforderlichen Leistungen im Zusammenhang mit der Kryokonservierung übernehme (BT-Drucksache 19/6337, Seite 87), ist damit kein bestimmter Zeitpunkt genannt, zu dem die Leistung tatsächlich in Anspruch genommen werden kann. Die Gesetzesbegründung beschreibt vielmehr im Wesentlichen den Hergang der Rechtsprechung des BSG, der den Anspruch auf eine Kryokonservierung nach alter Gesetzeslage verneint hat (siehe hierzu BSG NJW 1991, 773; Beschluss vom 9. April 2018 – B 1 KR 81/17 B, BeckRS2018, 5725) und bekräftigt seinen Willen, dies umgestalten zu wollen. Bestimmte zeitliche Vorgaben sind damit nicht verbunden. Es bedurfte auch nicht des Schaffens einer Übergangsregelung. Angesichts der ausdrücklichen Regelung in § 27a Abs 5 SGB V ist klar ersichtlich, dass es zur Umsetzung der Norm noch weiterer Schritte bedurfte. Diese Umsetzung erfolgte mit Erlass der Kryo-RL zum 20. Februar 2021.
Der Kläger hat auch keinen Anspruch aufgrund eines Systemversagens. Nach der Rechtsprechung des BSG besteht im Bereich des § 135 Abs 1 SGB V, der für neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen und vertragszahnärztlichen Versorgung zu Lasten der Krankenkassen eine Empfehlung des GBA vorsieht, ausnahmsweise eine Leistungspflicht der Krankenkassen, wenn die fehlende Anerkennung einer neuen Untersuchungs- oder Behandlungsmethode darauf zurückzuführen ist, dass das Verfahren vor dem GBA trotz Erfüllung der für eine Überprüfung notwendigen formalen und inhaltlichen Voraussetzungen nicht oder nicht zeitgerecht durchgeführt wurde (BSG, Urteil vom 26. Mai 2020 – B 1 KR 21/19 R –, SozR 4-2500 § 13 Nr 54, SozR 4-6065 Art 20, Rn 17 BSG, Urteil vom 26. September 2006 – B 1 KR 3/06 R, juris Rn 24; BSG, von Urteil vom 7. November 2006 – B 1 KR 24/06 R, juris Rn 18). Ein solcher Systemmangel kann vorliegen, wenn das Verfahren vor dem Bundesausschuss von den antragsberechtigten Stellen bzw dem Bundesausschuss selbst überhaupt nicht, nicht zeitgerecht oder nicht ordnungsgemäß betrieben wurde und dies auf eine willkürliche oder sachfremde Untätigkeit bzw Verfahrensverzögerung zurückzuführen ist (vgl BSGE 81, 54, 65 f = SozR 3-2500 § 135 Nr 4 - immunbiologische Therapie; BSGE 88, 51, 61 = SozR 3-2500 § 27a Nr 2 - ICSI; BSG SozR 3-2500 § 138 Nr 2 S 31 - Hippotherapie, jeweils mwN). In solchen Fällen, in denen die in § 135 Abs 1 SGB V vorausgesetzte Aktualisierung der Richtlinien rechtswidrig unterblieben ist, muss die Möglichkeit bestehen, das Anwendungsverbot erforderlichenfalls auf andere Weise zu überwinden (vgl BSG vom 16. September 1997 - 1 RK 28/95 - BSGE 81, 54, 65 f = SozR 3-2500 § 135 Nr 4 S 21; BSG vom 19. Februar 2002 - B 1 KR 16/00 R - SozR 3-2500 § 92 Nr 12 S 70: "rechtswidrige Untätigkeit des Bundesausschusses"). Eine Übertragung auf den hiesigen Fall scheitert aber jedenfalls an einer bestehenden Untätigkeit des GBA. Dieser leitete das Beratungsverfahren über die Anpassung der Richtlinien über ärztliche Maßnahmen zur künstlichen Befruchtung mit Beschluss vom 4. Juli 2019 ein und schloss es im Dezember 2020 ab. Dafür, dass das Verfahren pflichtwidrig verzögert wurde, bestehen keinerlei Anhaltspunkte. Abgesehen von dem pauschalen Hinweis, dass die Schaffung einer EBM fast zwei Jahre gedauert habe, hat auch der Kläger solche nicht vorgetragen. Dass die Umsetzung einer die Kryokonservierung näher ausgestaltenden Richtlinie eine gewisse Zeit in Anspruch nimmt, liegt jedoch in der Natur der Sache. In Anbetracht des Umfangs der zu beachtenden Verfahrensschritte und der zu beteiligenden Ausschüsse und Gremien (siehe hierzu die Verfahrensordnung des Gemeinsamen Bundesausschuss) scheidet ein Erlass binnen weniger Monate bis zur hier erfolgten Behandlung im November 2019 bereits denknotwendig aus (näher zum Verfahrensablauf der Kryo-RL siehe LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 12. Juli 2022 – L 11 KR 98/22 Rb 40).
Etwas Anderes ergibt sich auch nicht aus der vom SG herangezogenen Entscheidung des BSG vom 15. Mai 2019 (B 6 KA 27/18 R). Denn hier war nicht die nähere Ausgestaltung eines Leistungsanspruchs durch den GBA streitgegenständlich, sondern die Frage, ob eine bereits bestehende Richtlinie des GBA zur Erhebung von Daten bei Leistungserbringern von Anfang an der in Bezug auf das Erfordernis zur Pseudonomisierung geänderten Ermächtigungsgrundlage genügen musste oder ob insoweit Übergangsfristen galten. Abgesehen davon, dass diese Konstellation mit der hiesigen mangels sich widersprechender Regelungen seitens des Gesetzgebers einerseits und des GBA andererseits nicht zu vergleichen ist, hatte das BSG eine „Notkompetenz“ der Verwaltung für die Dauer der Untätigkeit des untergesetzlichen Normgebers auch gerade verneint.
Ob für einen Sachleistungsanspruch des Klägers darüber hinaus die Umsetzung durch die Aufnahme von Vergütungsregelungen in den EBM erforderlich war, wie von der Beklagten angenommen, kann hier dahinstehen. Denn dem Kläger sind zwischen dem Inkrafttreten der Kryo-RL zum 20. Februar 2021 und der Schaffung der entsprechenden EBM-Ziffer zum 1. Juli 2021 keine Kosten entstanden.
Obwohl jedenfalls ab dem 1. Juli 2021 ein Leistungsanspruch bestand, kommt auch eine Kostenerstattung der Rechnung vom 1. November 2021 nicht in Betracht. Zwar muss die Krankenkasse den Versicherten im Falle einer zu Unrecht abgelehnten Leistung nach der Rechtsfolge des § 13 Abs 3 S 1 SGB V in vollem Umfang für die selbst beschaffte Leistung von entstandenen Kosten freistellen oder diese in der entstandenen Höhe erstatten, soweit die Leistung notwendig war (BSG, Urteil vom 2. September 2014 – B 1 KR 11/13 R –, BSGE 117, 10-21, SozR 4-2500 § 13 Nr 32, SozR 4-2500 § 31 Nr 24, Rn. 23). Die ursprüngliche Ablehnungsentscheidung der Beklagten erfolgte jedoch aufgrund der seinerzeit fehlenden Rechtsgrundlage nicht zu Unrecht. Für die Zeit ab dem 1. Juli 2021 hat die Beklagte sodann bereits mit Schriftsatz vom 28. Juni 2021 klargestellt, dass der Kläger die Leistung – wozu auch etwaige Lagerungskosten zählten – als Sachleistung zu ihren Lasten in Anspruch nehmen könne. Für eine private Beschaffung bestand somit ab diesem Zeitpunkt kein Anlass mehr.
Aus diesem Grunde scheidet auch eine Verurteilung der Beklagten zu einer zukünftigen Übernahme der Lagerungskosten im Rahmen der Vertragssätze aus. Da die Beklagte dieses direkt mit Schaffung der entsprechenden Regelung angeboten hat, besteht für einen solchen Ausspruch kein Rechtsschutzbedürfnis. Der Kläger kann die künftige Finanzierung der Kryokonservierung über seine Gesundheitskarte erwirken. Hierüber besteht zwischen den Beteiligten kein Streit.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens.
Ein gesetzlicher Grund zur Zulassung der Revision ist nicht gegeben (§ 160 Abs 2 SGG).