L 16 KR 336/21

Land
Niedersachsen-Bremen
Sozialgericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Sachgebiet
Krankenversicherung
1. Instanz
SG Hannover (NSB)
Aktenzeichen
S 67 KR 378/19
Datum
2. Instanz
LSG Niedersachsen-Bremen
Aktenzeichen
L 16 KR 336/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Zum Anspruch auf Versorgung mit einem zuzahlungspflichtigen Hörgerät gemäß § 33 SGB V. Die Hilfsmittel-Richtlinie sieht bei Anwendung des vorgeschriebenen Freiburger Einsilbertests keine Abschläge für Messungenauigkeiten oder Schwankungen vor. Eine Messtoleranz von 5%-Punkten spiegelt sich in der Hilfsmittel-Richtlinie nicht wider. Ein durch 5% besseres Sprachverstehen im Störschall zu erlangender Gebrauchsvorteil gegenüber dem zuzahlungsfreien Gerät ist angesichts des Umfanges der abgefragten Wörter nicht als unwesentlich anzusehen. Wenn übertragen auf den Alltag des Hörgeminderten mit dem aufzahlungspflichtigen Hörgerät jedes 20. Wort besser verstanden wird als mit dem Vergleichsgerät, so kann diesem Gerät die Tauglichkeit für einen weitergehenden Ausgleich des Funktionsdefizits und damit eine maßgebliche Verbesserung auf dem Weg zu dem erstrebten Gleichziehen des Versicherten mit dem Hörvermögen gesunder Menschen nicht abgesprochen werden. Es handelt sich dabei nicht um bloße Komfortaspekte, sondern unter Beachtung der Teilhabeziele des SGB IX, insbesondere § 1 SGB IX (Selbstbestimmung und Teilhabe am Leben in der Gesellschaft), um das zentrale Anliegen eines verbesserten Hörens als solches.

Das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 1. Juni 2021 wird abgeändert.

Die Beklagte wird unter Aufhebung der Bescheide vom 11. September 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Februar 2019 verurteilt, dem Kläger für den Erwerb seiner Hörgeräte der Marke „Unitron T Moxi All 700“ über den Festbetrag hinaus weitere Kosten in Höhe von 1.999,- Euro zu erstatten.

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger ein Viertel seiner notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten. Im Übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.

            Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die vollständige Kostenerstattung für zwei Hörgeräte.

Der am J. 1980 geborene Kläger ist als IT-Organisator beim Servicezentrum Landentwicklung und Agrarförderung (SLA) beschäftigt und aufgrund dieser Tätigkeit bei der beklagten Krankenkasse gesetzlich krankenversichert. Er leidet seit seiner Geburt an einer beidseitigen Hörminderung.

Am 23. August 2018 beantragte die Firma K. Hörgeräte für ihn bei der Beklagten unter Vorlage eines Kostenvoranschlags die Übernahme der Kosten für zwei Hörgeräte der Marke „Unitron T Moxi All 700“. Aus dem Anpass- und Abschlussbericht des Hörgeräteakustikers vom 23. August 2018 ergibt sich, dass der Kläger bei der Hörmessung im Freiburger Sprachtest sowohl mit den beantragten Geräten als auch mit dem ebenfalls getesteten zuzahlungspflichtigen Hörsystem „Unitron T Moxi All flex“ im Freifeld ein Sprachverstehen von 75 % und mit Störschall von 60dB von 55 % erreicht hat. Mit dem zuzahlungsfreien Hörsystem „Unitron Shine Rev 4 Hpm“  erreichte er im Freifeld ein Sprachverstehen von 75 % und mit Störschall von 50 %. Der Kläger gab hierzu an, er sei als IT-Organisator ständig mit Menschen im Kontakt und daher verschiedenen Hörsituationen ausgesetzt. So arbeite er in Vier-Augen-Gesprächen, aber auch in Meetings mit sehr unterschiedlich großen Teilnehmerkreisen. Er arbeite in einem Mehrraumbüro. Telefonisch kommuniziere er mit Auftraggebern, Anwendern und externen Beratern. Aufgrund der Komplexität des Aufgabenbereichs sei ein genaues Hören und Verstehen von großer Bedeutung. Des Weiteren nehme er an einem Aufbaustudium an der VWA L. teil, wo die Lehrveranstaltungen/Seminarsituationen in größeren Räumen mit mehreren Teilnehmern und verschiedenen Sprachrichtungen hörtechnisch eine Herausforderung seien. Das beantragte Hörgerät passe sich – anders als „Kassengeräte“  - automatisiert an die jeweilige Umgebung an. Zusätzlich besitze es mehr Mikrofone, was bedeute, dass ein 360°-Hören für ihn nun möglich sei, ohne dass er den Sprecher direkt ansehen müsse.

Die Beklagte holte eine Stellungnahme bei ihrer Hilfsmittelberaterin, der Hörgeräteakustikermeisterin M., ein. Diese empfahl die Kostenübernahme für die gewünschte Versorgung nicht. Unter Berücksichtigung des Anpassberichts werde das gleiche Sprachverstehen in Ruhe dokumentiert. In geräuschvoller Umgebung liege eine Abweichung von 5% vor, welche als Messtoleranz gewertet werden könne. Ein höherer Zuschuss könne daher nicht empfohlen, subjektive Empfindungen könnten nicht berücksichtigt werden.

Mit zwei Bescheiden vom 11. September 2018 bewilligte die Beklagte dem Kläger die Festbetragspauschalen für die Versorgung von schwerhörigen Erwachsenen (833,50 Euro und 680,50 Euro) abzüglich einer gesetzlichen Zuzahlung von 20,- Euro. Sie wies den Kläger darauf hin, dass er mit den Vertragspreisen aufzahlungsfreie Hörgeräte von seinem Hörgeräteakustiker erhalte. Damit werde seine Hörminderung unter Berücksichtigung des aktuellen Standes des medizinischen und technischen Fortschritts bestmöglich ausgeglichen. Sei ein Sprachverstehen vorhanden, werde dieses mit den Geräten zum Vertragspreis bei Umgebungsgeräuschen und in größeren Personengruppen ebenfalls erreicht.

Hiergegen legte der Kläger am 18. September 2018 Widerspruch ein. Wie er bereits mitgeteilt habe, böten die von ihm getesteten „Kassengeräte“ für seinen beruflichen Alltag keine ausreichende Hilfe/Unterstützung. Die Tatsache, dass er seit seiner Geburt hörgeschädigt sei und der technische Fortschritt ihm nun die Möglichkeit gebe, immer besser am Arbeitsleben teilzunehmen, sollte auch im Interesse seiner Krankenkasse sein.

Die Beklagte holte im Wege der Amtshilfe eine Stellungnahme der Deutschen Rentenversicherung (DRV) Bund als zuständigem Rentenversicherungsträger zu einem möglichen Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben ein. Diese gelangte mit Stellungnahme vom 14. November 2018 zu dem Ergebnis, dass die Höranforderungen im Beruf als IT-Organisator keine spezifisch berufsbedingte Notwendigkeit für höherwertige Hörgeräte beinhalteten. Persönliche oder telefonische Kommunikation im Zweier- oder Gruppengespräch – auch bei ungünstigen akustischen Bedingungen bzw störenden Umgebungsgeräuschen am Arbeitsplatz – stelle eine Anforderung an das Hörvermögen dar, die bei nahezu jeder Berufsausübung bestehe und daher keine spezifisch berufsbedingte Bedarfslage begründen könne.

Mit Widerspruchsbescheid vom 5. Februar 2019 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Versicherte hätten Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, die im Einzelfall erforderlich seien, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen. Wählten Versicherte Hilfsmittel oder zusätzliche Leistungen, die über das Maß des Notwendigen hinausgingen, hätten sie die Mehrkosten und dadurch bedingte Folgekosten selbst zu tragen. Das Bundessozialgericht (BSG, Urteil vom 17. Dezember 2009 – B 3 KR 20/08 R) habe entschieden, dass für die Versorgung mit Hörgeräten das Gebot eines möglichst weitgehenden Ausgleichs des Funktionsdefizits gelte, und zwar unter Berücksichtigung des aktuellen Standes des medizinischen Fortschritts. Ziel sei die Angleichung an das Hörvermögen gesunder Menschen. Die Leistungspflicht der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) werde jedoch durch das Wirtschaftlichkeitsgebot begrenzt. Ausgeschlossen seien daher Ansprüche auf teure Hilfsmittel, wenn eine kostengünstige Versorgung ebenso geeignet sei. Die Ersatzkassen hätten zur Erreichung dieses Versorgungsziels mit der Bundesinnung der Hörgeräte-Akustiker einen Versorgungsvertrag geschlossen. Der Versicherte erhalte hiernach für seine Hörsituation mindestens ein individuell geeignetes, eigenanteilsfreies Versorgungsangebot mit volldigitalen Hörsystemen entsprechend dem festgestellten Hörverlust und den Mindeststandards Digitaltechnik, Mehrkanaligkeit (mindestens 4 Kanäle), Rückkoppelungs- und Störschallunterdrückung, mindestens 3 Hörprogramme und Mehrmikrofontechnik. Vorliegend sei dem Kläger mit dem Gerät „Unitron ShineRev 4 Hpm“ ein Hörgerät zum Vertragspreis angeboten worden, mit dem er in Ruhe 75% und im Störlärm 50% verstanden habe. Mit dem gewählten Hörsystem „Unitron T Moxi All 700“ könne damit lediglich ein Hörgewinn von 5% erreicht werden. Dieser Unterschied liege im Toleranzbereich, welcher durch naturgemäße Tagesschwankungen bedingt sei. Eine signifikante Hörverbesserung liege nicht vor. Zu diesem Schluss sei auch die technische Beraterin gekommen. Für den funktionellen Ausgleich des Hörverlustes seien diese Funktionen nicht erforderlich, so dass sie das Maß des Notwendigen überstiegen. Die DRV Bund als zuständiger Träger für berufliche Rehabilitation habe auch keine speziellen, mit der Tätigkeit als Prozessbeauftragter verbundenen Höranforderungen erkannt. 

Der Kläger hat am 7. März 2019 Klage bei dem Sozialgericht (SG) Hannover erhoben, mit der er sein Begehren weiterverfolgt hat. Der im Widerspruchsbescheid genannten Auffassung könne nicht gefolgt werden. Die dort genannten Prozentzahlen des Hörgewinns seien nur in einer perfekten Umgebung und in einem perfekten Raum zu erzielen, bei dem keine Hintergrundgeräusche hörbar seien und auch keine weiteren Einflüsse auf die Hörgeräte herrschten. Unterschiede zwischen den beiden getesteten Geräten und die deutlich bessere Hörleistung des beantragten Gerätes würden deutlich, wenn er sich in normalen Meetings befinde, mehrere Personen gleichzeitig und durcheinanderredeten. Das von der Beklagten vorgeschlagene Gerät passe sich nicht automatisiert an die jeweilige Umgebung an.

Der Kläger hat mehrere Kostenvoranschläge aus Juni und Juli 2018 eingereicht, die für das „Unitron T Moxi All 700“ über die bereits gezahlten Festbeträge hinaus einen Eigenanteil von 3.318,- Euro und für das ebenfalls getestete „Unitron T Moxi All Flex“ einen Eigenanteil von 1.999,- Euro auswiesen.

Die Beklagte hat eine vom Kläger unterzeichnete „Empfangsbestätigung/Erklärung zu den Mehrkosten“ vom 22. Oktober 2018 vorgelegt, in der es heißt:

„Ich bin über das qualitativ hochwertige Angebot einer aufzahlungsfreien Versorgung (ohne Aufzahlung, ausgenommen der gesetzlichen Zuzahlung) informiert worden. Mit dem(n) getesteten aufzahlungsfreien Hörsystem(en) habe ich – soweit möglich – sowohl bei störenden Umgebungsgeräuschen als auch in größeren Räumen und größeren Personengruppen ein bestmögliches Sprachverstehen erreicht.

Dennoch habe ich mich für eine Versorgung mit Aufzahlung entschieden. Das/die Hörsystem(e) habe ich erhalten. Mit der von mir zu leistenden Aufzahlung bin ich einverstanden. Des Weiteren bin ich darüber informiert worden, dass die aus der Mehrleistung bei einem Hörsystem mit privater Aufzahlung resultierenden Reparaturmehrkosten auch zu meinen Lasten gehen. Ich erkläre mich bereit, auch diese zu übernehmen. Die Versicherteninformationen habe ich erhalten.“

Der Kläger hat hierzu erklärt, die unterschriebe Mehrkostenerklärung belege lediglich, dass die Firma K. ihn über das vorhandene Portfolio informiert habe und er sich anhand dieser Informationen ein entsprechendes Gerät ausgesucht habe. Sie könne damit allenfalls privatrechtliche Wirkungen gegenüber K. haben.

Mit Beschluss vom 21. Juni 2019 hat das SG die DRV Bund zum Verfahren beigeladen.

Im September 2019 erlitt der Kläger einen Hörsturz, der zu einer weiteren Hörverschlechterung sowie zu einem chronischen Tinnitus führte. Sowohl er als auch sein Arbeitgeber stellten daraufhin bei der Beklagten einen Antrag auf Übernahme der Kosten für ein neues Hörsystem der Marke „Phonak Audeo M70-13T P“ unter Vorlage eines Kostenvoranschlags der Firma K. über 4.780,- Euro. Um seiner Tätigkeit im SLA weiter nachgehen zu können, brauche der Kläger nun ein Akustiksystem. Ein solches existiere für sein derzeitiges Hörgerät nicht. Es sei besprochen worden, dass er sich ein Akustiksystem mit einer ebenfalls schwerhörigen Kollegin teile, weshalb er das beantragte Hörgerät benötige. 

Am 5. März 2020 hat der Kläger seine Klage geändert und beantragt, die Beklagte zur Kostenübernahme für das Hörgerät „Phonak Audeo M70-13T P“ zu verpflichten, hilfsweise zur Kostenübernahme für das Hörsystem „Unitron T Moxi All 700“.

Das als Hauptantrag begehrte Hörgerät stelle nunmehr die beste Leistung für ihn dar. Es bedürfe auch keines neuen Antrags, da die Beklagte schon das weniger anspruchsvolle Gerät nicht zahlen wolle. Gleichzeitig verfolge er aber seinen ursprünglichen Hauptantrag als Hilfsantrag weiter, da auch dieses Hörgerät eine Verbesserung zum Ist-Zustand darstelle. Das „Unitron T Moxi All 700“ sei noch nicht erworben worden.

Mit Urteil vom 1. Juni 2021 hat das SG die Klage abgewiesen. Diese sei unzulässig. Hinsichtlich des geänderten Klageantrags auf Versorgung mit dem Hörsystem „Phonak Audeo M70-13 TP“ lägen die Voraussetzungen für eine Klageänderung nicht vor. Für eine geänderte Klage müssten alle Prozessvoraussetzungen gegeben sein. Vorliegend sei das Widerspruchsverfahren noch nicht abgeschlossen. Hinsichtlich des hilfsweise beantragten Hörsystems „Unitron T Moxi All 700“ sei Erledigung eingetreten, da der Kläger aufgrund der nach dem Hörsturz eingetretenen weiteren Hörminderung und der fehlenden Kompatibilität des ursprünglich beantragten Geräts mit dem Audiosystem seines Arbeitgebers einen neuen Antrag gestellt habe. Darüber hinaus hätte ein Obsiegen mit dem Hilfsantrag zwingend zur Folge, dass der Kläger das primär begehrte „Phonak Audeo M70-13 TP“ nicht mehr zu Lasten der Beklagten erhalten könne, da der Anspruch auf Versorgung mit einer Hörhilfe für den Zeitraum von sechs Jahren bestehe, mithin Hörgeräte mit einer vorgesehenen Lebensdauer von sechs Jahren gewährt würden.

Gegen das ihm am 11. Juni 2021 zugestellte Urteil hat der Kläger am 9. Juli 2021 Berufung bei dem Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen eingelegt. Er trägt vor, es sei nicht zutreffend, dass er sich das Hörgerät „Unitron T Moxi All 700“ noch nicht beschafft habe. Tatsächlich habe er das Gerät erworben und den Preis hierfür bezahlt. Die Kostenübernahme der hierfür eingereichten Rechnung habe er zunächst klageweise begehrt. Sodann habe sich herausgestellt, dass ein weiteres System, das nun mit dem Hauptantrag begehrt werde, die beste Lösung für ihn darstelle, da es mit dem bei seinem Arbeitgeber verwendeten Akustiksystem kompatibel sei. Insofern seien gestellter Haupt- und Hilfsantrag prozessual richtig. Er sei dringend auf eine Hörgeräteversorgung angewiesen, die über das normale Maß der Grundgeräte hinausgehe. Sofern die Beklagte das Erstgerät nicht übernehme, habe er aufgrund des während des Verfahrens erlittenen Hörsturzes und der Verschlechterung seiner Hörsituation dann Anspruch auf das nun begehrte Gerät. Beides habe das SG nicht geprüft. Inwieweit ihm die gemessene Differenz zwischen dem „Unitron T Moxi All 700“ und dem Festbetragsgerät von 5% zumutbar sei, habe das SG nicht untersucht. Hierauf komme es aber auch nicht an, da die Differenz in der Realität wesentlich höher sei.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

die Bescheide vom 11. September 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Februar 2019 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihn mit den Hörgeräten des Typs „Phonak Audeo M70-13 TP“ zu versorgen, hilfsweise, ihm die Kosten für das Hörsystem „Unitron T Moxi All 700“ in Höhe von 2.719,- Euro zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,

       die Berufung zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, dass zur Ermittlung des tonaudiometrischen Hörverlusts nach der bundeseinheitlich geltenden Hilfsmittel-Richtlinie fachliche, räumliche und apparative Voraussetzungen zu erfüllen seien. Bei den Testverfahren zur Überprüfung des Hörhilfenversorgungs-Ergebnisses seien die Vorgaben der Hilfsmittel-Richtlinie (DIN ISO 8253-3) zu beachten. Die hieraus resultierenden Ergebnisse seien ausschlaggebend. Subjektive Eindrücke könnten bei der Entscheidungsfindung nicht berücksichtigt werden, da diese nicht messbar seien. Ein um lediglich 5% besserer Diskrimationswert im Störschall stelle beim Freiburger Sprachtest regelmäßig eine als geringfügig zu vernachlässigende Verbesserung des Hörvermögens dar, welche die Anschaffung eines über der Vertragsversorgung liegenden Hörhilfe nicht rechtfertige.

Die Beigeladene stellt keinen Antrag. Sie verweist darauf, dass der vom Kläger ausgeübte Beruf keine Versorgung mit höherwertigen Hörhilfen erfordere. Wenn der Kläger also mit Hörhilfen zum Festbetrag nicht adäquat versorgt sei, um eine störungsfreie Kommunikation in seinem aktuellen Beruf zu führen, sei es nicht Aufgabe des Rentenversicherungsträgers, eine unzureichende Versorgung der Krankenkassen aufzustocken.

Der Kläger hat die Rechnung des im November 2018 von ihm erworbenen „Unitron T Moxi All 700“ vom 9. November 2018 über 2.719,- Euro zzgl Zuzahlung iHv 20,- Euro sowie Belege über die Begleichung der Rechnung zu den Akten gereicht.

Die Beteiligten haben sich mit Schriftsätzen vom 14. September 2022, 21. September 2022 und 22. September 2022 mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten sowie der Beigeladenen Bezug genommen. Diese sind Gegenstand der Entscheidungsfindung des Senats gewesen.

 

Entscheidungsgründe

Gemäß § 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) konnte der Senat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt haben.

 

Die Berufung des Klägers ist gemäß §§ 143 ff SGG form- und fristgemäß eingelegt worden und auch im Übrigen zulässig. Sie ist teilweise in Bezug auf den Hilfsantrag begründet.

 

I. Der Hauptantrag auf Kostenübernahme für das „Phonak Audeo M70-13 TP“ ist bereits unzulässig. Zutreffend ist das SG insoweit zu dem Schluss gekommen, dass die hierin liegende Klageänderung unzulässig ist. Eine Änderung der Klage ist gemäß § 99 SGG nur zulässig, wenn die übrigen Beteiligten einwilligen oder das Gericht die Änderung für sachdienlich hält (Abs 1). Die Einwilligung der Beteiligten in die Änderung der Klage ist anzunehmen, wenn sie sich, ohne der Änderung zu widersprechen, in einem Schriftsatz oder in einer mündlichen Verhandlung auf die abgeänderte Klage eingelassen haben (Abs 2). Als eine Änderung der Klage ist es nicht anzusehen, wenn ohne Änderung des Klagegrundes 1. die tatsächlichen oder rechtlichen Ausführungen ergänzt oder berichtigt werden, 2. der Klageantrag in der Hauptsache oder in Bezug auf Nebenforderungen erweitert oder beschränkt wird oder 3. statt der ursprünglich geforderten Leistung wegen einer später eingetretenen Veränderung eine andere Leistung verlangt wird (Abs 3). Die Entscheidung, dass eine Änderung der Klage nicht vorliege oder zuzulassen sei, ist unanfechtbar (Abs 4).

 

In der mit Schriftsatz vom 2. März 2021 erfolgten Umstellung des Klagebegehrens in der Hauptsache auf Kostenübernahme für das „Phonak Audeo M70-13 TP“ handelt es sich um eine (echte) Klageänderung. Der Kläger begehrt in der Hauptsache nunmehr die Versorgung mit einem anderen Hörgerät als dem ursprünglich beantragten und auch bereits beschafften „Unitron T Moxi All 700“. Es handelt sich dabei auch nicht um das Verlangen einer anderen als der ursprünglich geforderten Leistung wegen später eingetretener Veränderung im Sinne des § 99 Abs 2 Nr 3 SGG. Voraussetzung ist hierfür, dass bei der Änderung des Antrags der Klagegrund identisch bleibt, wie beispielsweise bei der Umstellung auf Kostenerstattung für eine inzwischen durchgeführte Therapie oder dem Übergang von einer Anfechtungs- und Verpflichtungs- zu einer Fortsetzungsfeststellungsklage (B Schmidt in Meyer-Ladewig, SGG – Kommentar, 13. Aufl 2020, § 99 Rn 5 mwN). Vorliegend hat sich nach dem Hörsturz des Klägers und den damit verbundenen weiteren Einschränkungen der dem ursprünglichen Antrag zugrunde liegende komplette Lebenssachverhalt und damit auch der Klagegrund geändert (vgl B Schmidt aaO, Rn 2b).

 

Die Beteiligten haben auch nicht in die Änderung der Klage eingewilligt. Erforderlich ist insoweit, dass alle Beteiligten, also auch Beigeladene ihre Zustimmung erteilt haben (B Schmidt aaO, Rn 8a). Eine solche Zustimmung liegt jedenfalls seitens der Beigeladenen nicht vor. Zwar kann die Zustimmung gemäß § 99 Abs 2 SGG auch stillschweigend erfolgen, indem der Beteiligte sich ohne Widerspruch auf die geänderte Klage eingelassen hat (B Schmidt aaO, Rn 9). Ein solches Verhalten liegt hier jedoch jedenfalls seitens der Beigeladenen nicht vor. Sie hat sich weder schriftlich noch in der mündlichen Verhandlung auf die Klageänderung eingelassen und auch ausdrücklich keinen Antrag gestellt.

 

Die Entscheidung des SG, die Sachdienlichkeit der Klageänderung aufgrund des nicht abgeschlossenen Vorverfahrens und der damit nicht vorliegenden Prozessvoraussetzungen des geänderten Klageantrags zu verneinen, war auch nicht zu beanstanden. Der Senat ist an die erstinstanzliche Entscheidung, anders als im Falle der Verneinung einer Klageänderung oder deren Zulassung (§ 99 Abs 4 SGG), nicht gebunden. Allerdings kann die Entscheidung des SG, die Zulässigkeit der Klageänderung zu verneinen, nur auf Ermessenfehler hin überprüft werden (BeckOGK/Bieresborn, 1. August 2022, SGG § 99 Rn 69). Solche sind hier nicht ersichtlich. Soweit ein Vorverfahren wegen eines neu angefochtenen Verwaltungsaktes nicht durchgeführt ist, muss zwar grundsätzlich Gelegenheit zur Nachholung des Vorverfahrens gegeben werden (vgl etwa BSG SozR 4600 § 143d Nr 3; SozR 3-2500 § 85 Nr 12), die Verneinung der Sachdienlichkeit wegen nicht durchgeführten Vorverfahrens ist aber möglich (vgl BSGE 98, 229, 231; B Schmidt aaO, § 99 Rn 10a).

 

II. In Bezug auf den Hilfsantrag ist die Klage zulässig und teilweise begründet. Der Antrag des Klägers auf Versorgung mit dem Hörsystem „Unitron T Moxi All 700“ war in dessen wohlverstandenem Interesse als Antrag auf Erstattung der ihm für die Hörgeräte entstandenen Kosten in Höhe von 2.739,- Euro auszulegen. Denn anders, als er noch in der mündlichen Verhandlung vor dem SG vorgetragen hatte, hat er mittlerweile erklärt und auch nachgewiesen, dass er die Geräte bereits selbst beschafft hat. Ihm ist daher mit einer Sachleistung durch die Beklagte nicht mehr gedient. Da die Selbstbeschaffung bereits im November 2018 und damit vor dem Hörsturz erfolgte, erübrigen sich Ausführungen zu einer etwaigen Erledigung der Ablehnungsentscheidung der Beklagten. Maßgeblicher Zeitpunkt zur Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist im Falle der Kostenerstattung der Zeitpunkt der Beschaffung der Leistung (BSG vom 17. Dezember 2009 - B 3 KR 20/08 R - juris Rn 13 - SozR 4-2500 § 36 Nr 2; BSG vom 7. Oktober 2010 - B 3 KR 5/10 R - juris Rn 10 - SozR 4-2500 § 33 Nr 32).

 

Der Hilfsantrag ist auch zum Teil begründet. Der ablehnende Bescheid der Beklagten vom 11. September 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Februar 2019 ist rechtswidrig. Der Kläger hat über die ihm bereits gewährten Festbeträge hinaus einen Anspruch auf weitere Kostenerstattung für die von ihm erworbenen Hörgeräte.

 

Soweit – wie hier – nicht grundsätzlich anstelle der Sach- und Dienstleistungen gegenüber der Krankenkasse Kostenerstattung gewählt wurde (§ 13 Abs 2 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch – SGB V) oder eine im Ausland erbrachte Leistung streitgegenständlich ist (§ 13 Abs 4 und 5 SGB V), setzt ein Anspruch auf Kostenerstattung gemäß § 13 Abs 3 Satz 1 SGB V voraus, dass die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte oder eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dadurch dem Versicherten für die selbst beschaffte Leistung Kosten entstanden sind.

 

Vorliegend hat die Beklagte die begehrte Leistung zu Unrecht abgelehnt. Der Kostenerstattungsanspruch ist in seinem Umfang abhängig vom Sachleistungsanspruch. Er setzt voraus, dass die selbstbeschaffte Behandlung oder Leistung zu den Leistungen gehört, die die Krankenkassen allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben (vgl BSGE 97, 190 = SozR 4-2500 § 27 Nr 12 Rn 11; BSGE 100, 103 = SozR 4-2500 § 31 Nr 9 Rn 13 mwN; BSGE 111, 137 = SozR 4-2500 § 13 Nr 25 Rn 15 mwN).

 

Nach § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V haben gesetzlich Versicherte Anspruch ua auf Versorgung mit Hörhilfen, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs 4 ausgeschlossen sind. Danach besteht ein Anspruch auf Hörhilfen, die nur von hörbehinderten Menschen benutzt werden und deshalb kein Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens sind, auch nicht nach § 34 Abs 4 SGB V aus der Versorgung der GKV ausgeschlossen sind und weder der Krankenbehandlung noch der Vorbeugung einer Behinderung dienen, soweit sie im Rahmen des Notwendigen und Wirtschaftlichen (§ 12 Abs 1 SGB V) für den von der Krankenkasse geschuldeten Behinderungsausgleich erforderlich sind. Der von den Krankenkassen geschuldete Behinderungsausgleich bemisst sich nach ständiger Rechtsprechung des BSG entscheidend danach, ob eine Leistung des unmittelbaren oder des mittelbaren Behinderungsausgleichs beansprucht wird.

 

Der Anspruch ist von der Krankenkasse grundsätzlich in Form einer Sachleistung gemäß § 2 Abs 2 Satz 1 SGB V zu erbringen, wobei sie ihre Leistungspflicht gemäß § 12 Abs 2 SGB V mit dem Festbetrag erfüllt, wenn für die Leistung ein Festbetrag festgesetzt ist. Über die Erbringung der Sach- und Dienstleistungen schließen die Krankenkassen nach den Vorschriften des Vierten Kapitels des SGB V Verträge mit den Leistungserbringern, § 2 Abs 2 Satz 3 SGB V (BSG Urteil vom 24. Januar 2013 – B 3 KR 5/12 R). Grundsätzlich erfüllt die Krankenkasse die Sachleistung „Versorgung mit Hörhilfen“ auf der Grundlage einer Festbetragsregelung (§ 36 SGB V), also unter Zuzahlungspflicht des Versicherten hinsichtlich des den Festbetrag übersteigenden Teils des Kaufpreises. Dies ist grundsätzlich verfassungsgemäß, gilt jedoch in dieser Form nur, wenn eine sachgerechte Versorgung des Versicherten zu den festgesetzten Festbeträgen möglich ist. Der für ein Hilfsmittel festgesetzte Festbetrag begrenzt die Leistungspflicht der Krankenkasse nämlich dann nicht, wenn er für den Ausgleich der konkret vorliegenden Behinderung objektiv nicht ausreicht (BSG, Urteil vom 21. August 2008 – B 13 R 33/07 R).

 

Im Bereich des unmittelbaren Behinderungsausgleichs ist die Hilfsmittelversorgung grundsätzlich von dem Ziel eines vollständigen funktionellen Ausgleichs geleitet. Im Vordergrund steht dabei der unmittelbare Ausgleich der ausgefallenen oder beeinträchtigten Körperfunktion. Davon ist auszugehen, wenn das Hilfsmittel die Ausübung der beeinträchtigten Körperfunktion – hier das Hören – selbst ermöglicht, ersetzt oder erleichtert. Für diesen unmittelbaren Behinderungsausgleich gilt das Gebot eines möglichst weitgehenden Ausgleichs des Funktionsdefizits, und zwar unter Berücksichtigung des aktuellen Stands des medizinischen und technischen Fortschritts, § 2 Abs 1 Satz 3 SGB V. Deshalb kann auch die Versorgung mit einem fortschrittlich, technisch weiterentwickelten Hilfsmittel nicht mit der Begründung abgelehnt werden, der bisher erreichte Versorgungsgrad sei ausreichend, solange ein Ausgleich der Behinderung nicht vollständig im Sinne des Gleichziehens mit einem gesunden Menschen erreicht wird. Das Maß der notwendigen Versorgung würde deshalb verkannt, wenn die Krankenkassen ihren Versicherten Hörgeräte ungeachtet hörgerätetechnischer Verbesserungen nur „zur Verständigung beim Einzelgespräch unter direkter Ansprache“ zur Verfügung stellen müssten. Teil des von den Krankenkassen nach § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V geschuldeten – möglichst vollständigen – Behinderungsausgleich ist es vielmehr, hörbehinderten Menschen im Rahmen des Möglichen auch das Hören und Verstehen in größeren Räumen und bei störenden Umgebungsgeräuschen zu eröffnen und ihnen die dazu nach dem Stand der Hörgerätetechnik (§ 2 Abs 1 Satz 3 SGB V) jeweils erforderlichen Geräte zur Verfügung zu stellen (BSG, Urteil vom 30. Oktober 2014 - B 5 KR 8/14 R = BSGE 117, 192, Rn 47,48).  Ein Hörgerät ist erforderlich, wenn es nach dem Stand der Medizintechnik (§ 2 Abs 1 Satz 3 SGB V) die bestmögliche Angleichung an das Hörvermögen Gesunder erlaubt und damit im allgemeinen Alltagsleben einen erheblichen Gebrauchsvorteil gegenüber anderen Hörhilfen bietet. Ziel der Versorgung ist die Angleichung an das Hörvermögen hörgesunder Menschen; solange dieser Ausgleich im Sinne eines Gleichziehens mit deren Hörvermögen nicht vollständig erreicht ist, kann die Versorgung mit einem fortschrittlichen Hörgerät nicht mit der Begründung abgelehnt werden, dass die GKV nur für die Aufrechterhaltung eines Basishörvermögens aufzukommen habe (BSG, aaO).

 

Der vorstehend umrissene Anspruch auf eine Hilfsmittelversorgung nach § 33 SGB V ist durch das Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 Abs 1 SGB V begrenzt. Danach müssen die Leistungen „ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein“ und dürfen „das Maß des Notwendigen nicht überschreiten“. Daher verpflichtet auch § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V nicht dazu, den Versicherten jede gewünschte, von ihnen für optimal gehaltene Versorgung zur Verfügung zu stellen. Ausgeschlossen sind danach Ansprüche auf teurere Hilfsmittel, wenn eine kostengünstigere Versorgung für den angestrebten Nachteilsausgleich funktionell in gleicher Weise geeignet ist (BSG, Urteil vom 10. September 2020 - B 3 KR 15/19 R Rn 19 mwN; für die Hörgeräteversorgung, LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27. November 2020 – L 9 KR 90/18 R Rn 27). Eingeschlossen in den Versorgungsauftrag der GKV ist eine kostenaufwändigere Versorgung dagegen dann, wenn durch sie eine Verbesserung bedingt ist, die einen wesentlichen Gebrauchsvorteil gegenüber einer kostengünstigeren Alternative bietet (BSG, Urteil vom 17. Dezember 2009 – B 3 KR 20/08 R = BSGE 105, 170 Rn 15 ff). Das gilt bei Hilfsmitteln zum unmittelbaren Behinderungsausgleich für grundsätzlich jede Innovation, die dem Versicherten nach ärztlicher Einschätzung in seinem Alltagsleben deutliche Gebrauchsvorteile bietet. Keine Leistungspflicht besteht dagegen für solche Innovationen, die nicht die Funktionalität betreffen, sondern in erster Linie die Bequemlichkeit und den Komfort bei der Nutzung des Hilfsmittels. Dasselbe gilt für lediglich ästhetische Vorteile oder wenn die funktionalen Vorteile eines Hilfsmittels ausschließlich in bestimmten Lebensbereichen zum Tragen kommen. Weitere Grenzen der Leistungspflicht können schließlich berührt sein, wenn einer nur geringfügigen Verbesserung des Gebrauchsnutzens ein als unverhältnismäßig einzuschätzender Mehraufwand gegenübersteht (BSG, aaO).

 

Das begehrte Hörgerät muss mithin einen objektiv erheblichen bzw wesentlichen Gebrauchsvorteil gegenüber anderen, zum Festbetrag erhältlichen Hörhilfen bieten. Grundsätzlich ist dabei ausschließlich der subjektive Eindruck des Versicherten nicht ausreichend, es bedarf vielmehr eines messbaren Gebrauchsvorteils (siehe hierzu bereits Urteile des Senats vom 23. August 2022 – L 16 KR 60/20 und vom 13. Juli 2022 – L 16 KR 351/20; LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 19. August 2020 - L 6 KR 36/16 R Rn 48; SG Würzburg, Urteil vom 6. September 2011- S 6 KR 401/10 Rn 26; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27. November 2020 – L 9 KR 90/18 Rn 28 mwN; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 30. November 2021 – L 11 R 3540/20 Rn 33- jeweils zitiert nach juris). Der Hörgewinn muss sich objektivieren lassen, ein subjektiver Eindruck des Versicherten ist regelmäßig nicht ausreichend (LSG Mecklenburg- Vorpommern, aaO; LSG Baden-Württemberg, aaO). Die subjektiven Schilderungen des Hörgeräteträgers sind für das Gericht nicht überprüfbar. Auch besteht die Gefahr, dass der subjektive Eindruck nicht unwesentlich durch Komfortausstattungen des teureren Gerätes beeinflusst wird, die subjektiv das Hörvermögen erleichtern mögen (vgl LSG Baden-Württemberg, aaO, Rn 33). 

 

Nach § 21 Abs 2 der nach § 92 Abs 1 Satz 2 Nr 6 SGB V erlassenen und nach § 91 Abs 6 SGB V für die Versicherten, die Krankenkassen und die Leistungserbringer verbindlichen Richtlinie über die Verordnung von Hilfsmitteln in der vertragsärztlichen Versorgung (Hilfsmittel-Richtlinie) des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) soll bei der beidohrigen Hörgeräteversorgung der Freiburger Einsilbertest zur Anwendung kommen, Abs 3 Satz 2 sieht eine Störschalltestung vor. Der Freiburger Sprachtest ist ein normiertes Verfahren und ermöglicht einen objektiven Vergleich zwischen den getesteten Hörgeräten (vgl LSG Baden-Württemberg, Urteile vom 30. November 2021 – L 11 R 3540/20 Rn 33; 21. Januar 2020 -  L 5 KR 241/18 Rn 42 – juris) und dies auch im Störschall (vgl § 21 Abs 3 und 22 Abs 3 der Hilfsmittel-Richtlinie). Die Hilfsmittel-Richtlinie wurde mit Beschluss des GBA vom 24. November 2016 geändert. Nach den „Tragenden Gründen zum Beschluss“ (vgl https://www.g-ba.de/downloads/40-268-4059/2016-11-24_HilfsM-RL_Freiburger Einsilbertest_TrG.pdf) handelt es sich bei dem Freiburger Einsilbertest um ein Testverfahren zur Überprüfung der Sprachverständlichkeit. Da der Nachweis einer Gleichwertigkeit des Freiburger Einsilbertests im Störgeräusch mit den bisher beispielhaft aufgezählten Testverfahren zur Überprüfung nur anhand der vorhandenen Literatur nicht möglich gewesen sei, sei nach den Ausführungen des GBA eine Expertenanhörung auf niedrigerer Evidenzstufe durchgeführt worden mit dem Ergebnis, dass der Freiburger Einsilbertest im Störgeräusch prinzipiell als geeignet angesehen werden könne. Bisher hat kein anderes Verfahren den Freiburger Sprachtest wegen besserer Qualität/Geeignetheit abgelöst (vgl LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 30. November 2021 – L 11 R 3540/20 Rn 33).   

 

Im vorliegenden Fall ist für den im August 2018 gestellten Antrag des Klägers der Vertrag zur Komplettversorgung mit Hörsystemen zwischen den Ersatzkassen und der Bundesinnung der Hörgeräteakustiker mit Geltung ab dem 1. Juli 2015 maßgeblich. In der Anlage 1 § 1 wird die Versorgung der schwerhörigen Erwachsenen mit Ausnahme der an Taubheit grenzend Schwerhörigen der Krankenkassen mit Hörsystemen auf Basis der Festbeträge geregelt. Nach § 3 Nr 1 des Vertrages erhält der Versicherte für seine Hörsituation mindestens ein individuell geeignetes aufzahlungsfreies Versorgungsangebot mit volldigitalen Hörsystemen entsprechend dem festgestellten Hörverlust. Mit dem angebotenen Hörsystem ist das im Sprachaudiogramm ermittelte maximale Sprachverstehen (mit Freiburger Sprachtest gemessen mit Kopfhörern) soweit möglich zu erreichen.  Wird bei der vergleichenden Anpassung nach dem Testverfahren (§ 5) mit dem aufzahlungspflichtigen Hörgerät ein besseres Sprachverstehen erzielt, so muss nach § 3 Nr 9 ein weiteres aufzahlungsfreies Hörgerät zum Erreichen eines möglichst weitgehend gleichen Sprachverstehens getestet werden. Verfügt der Mitgliedsbetrieb über kein geeignetes weiteres Hörgerät in seinem Sortiment, ist das vergleichend angepasste aufzahlungspflichtige Hörgerät zum Vertragspreis abzugeben.

 

Nach Maßgabe der gesetzlichen und vertraglichen Vorschriften bestand hier ein Anspruch auf Erstattung der über den Festbetrag (§ 12 Abs 2 SGB V) hinausgehenden Kosten für das streitige zuzahlungspflichtige Gerät.

 

Bei dem Kläger besteht eine beidseitige Schwerhörigkeit. Zum Zeitpunkt des Erwerbs des „Unitron T Moxi All 700“ im November 2018 waren sowohl dieses Gerät als auch das „Unitron T Moxi All flex“ ausweislich der Dokumentation zur Hörgeräteanpassung geeignet, diese Schwerhörigkeit bestmöglich auszugleichen. Nach den erzielten Messwerten bestand mit beiden Geräten ein Sprachverstehen im Freifeld von 75% und mit einem Störschall von 60dB von 55%. Diese boten damit auch wesentliche Gebrauchsvorteile gegenüber dem zuzahlungsfreien „Unitron Shine Rev 4 Hpm“. Denn mit diesem bestand beim Sprachtest ein Sprachverstehen mit Störschall von lediglich 50%. Der Kläger war damit in der Lage, mit dem „Unitron T Moxi All 700“ und dem „Unitron T Moxi All flex“ gerade mit den für den Alltag wesentlichen Hintergrundgeräuschen besser zu hören und zu verstehen als mit dem „Unitron Shine Rev 4 Hpm“.

Die Auffassung der Beklagten, dass dieser Unterschied im Toleranzbereich liege, welcher durch naturgemäße Tagesschwankungen bedingt sei, teilt der Senat nicht. Eine solche „Messtoleranz“ von 5%-Punkten ist zwar im Vertrag zu Komplettversorgung mit Hörsystemen erwähnt (siehe in Anlage 1 § 3 Nr 9); abgesehen davon, dass der Vertrag zwischen Hilfsmittelerbringer und Krankenkasse nicht den Anspruch des Versicherten zu begrenzen vermag, spiegelt sich diese jedoch auch in der Hilfsmittel-Richtlinie in keiner Weise wider. Die Hilfsmittel-Richtlinie sieht bei Anwendung des vorgeschriebenen Freiburger Einsilbertests keine Abschläge für Messungenauigkeiten oder Schwankungen vor (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19. März 2021 – L 26 KR 228/19 –, Rn 52, Urteil vom 19. August 2020, L 16 R 974/16, Rn 33; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11. Dezember 2019, L 9 KR 44/17, Rn 36; vgl. auch LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 27. November 2020, L 9 KR 90/18; aA LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 30. November 2021 – L 11 R 3540/20 –, Rn 33; Urteil vom 2. Februar 2021, L 11 KR 2192/19, Rn 29, jeweils juris ). Die Krankenkassen können gegen Messergebnisse eines Hörgeräteakustikers, die die Überlegenheit eines zuzahlungsfreien Geräts belegen, daher nicht pauschal Messungenauigkeiten einwenden, die eine Abweichung von 5 % zugunsten des teuren Geräts erklären könnten. Anhaltspunkte dafür, dass es in der konkreten Testsituation zu Messungenauigkeiten gekommen sein könnte, sind nicht ersichtlich und von der Beklagten auch nicht vorgetragen. Gegebenenfalls bestünde zudem die Möglichkeit, eine Wiederholung der Testung zu veranlassen. Findet eine solche erneute Testung nicht statt, so muss – bereits aus Gründen der Gleichbehandlung aller zu versorgenden Versicherten – unabhängig von allen Einwendungen gegen den Sprachtest an sich, eine alleinige Orientierung an den Messergebnissen erfolgen (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11. Dezember 2019 – L 9 KR 44/17 –, Rn. 36, juris). Denn wenn der Freiburger Sprachtest als derzeit am besten geeignet zur Überprüfung der Sprachverständlichkeit angesehen wird (siehe oben), dann muss er auch tatsächlich zugrunde gelegt werden. Bei der Berücksichtigung pauschaler Messtoleranzen ergäbe sich eine Verschiebung zuungunsten der betroffenen Versicherten. Denn auch wenn man unterstellen würde, dass 5% im Bereich einer Messtoleranz liege, so ist es in diesen Fällen ebenso gut möglich, dass der tatsächliche Unterschied 5% mehr, also 10% beträgt. Die Messtoleranz ohne weitere Überprüfung stets „aufzurunden“ und das getestete (Festbetrags-)Gerät pauschal für gleichwertig im Vergleich zum nächstbesseren zu erklären, erscheint daher willkürlich und nicht durch sachliche Gründe gerechtfertigt.

Zur Überzeugung des Senats ist der durch 5% besseres Sprachverstehen im Störschall zu erlangende Gebrauchsvorteil gegenüber dem zuzahlungsfreien Gerät auch nicht als unwesentlich anzusehen (anders insoweit LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 30. November 2021 – L 11 R 3540/20 –, Rn 33; Urteil vom 2. Februar 2021, L 11 KR 2192/19, Rn 29, beide juris). Zwar ist zutreffend, dass im Freiburger Sprachtest ein Wort bei der Austestung eine Wertigkeit von 5% hat, bei einem Unterschied von 5% also gerade einmal ein einziges Wort mehr bzw weniger verstanden wurde. Angesichts des Umstandes, dass insgesamt lediglich 20 Wörter abgefragt werden, hält der Senat diesen Unterschied jedoch durchaus für erheblich. Wenn übertragen auf den Alltag des Hörgeminderten mit dem aufzahlungspflichtigen Hörgerät jedes 20. Wort besser verstanden wird als mit dem Vergleichsgerät, so kann diesem Gerät die Tauglichkeit für einen weitergehenden Ausgleich des Funktionsdefizits und damit eine maßgebliche Verbesserung auf dem Weg zu dem erstrebten Gleichziehen des Klägers mit dem Hörvermögen gesunder Menschen nicht abgesprochen werden. Es handelt sich dabei nicht um bloße Komfortaspekte, sondern um das zentrale Anliegen eines verbesserten Hörens als solches, weshalb unter Beachtung der Teilhabeziele des Sozialgesetzbuchs Neuntes Buch (vgl § 11 Abs 2 Satz 3 SGB V), insbesondere § 1 SGB IX (Selbstbestimmung und Teilhabe am Leben in der Gesellschaft) ein großzügiger Maßstab anzulegen ist (siehe hierzu zB auch bereits BSG, Urteil vom 7. Mai 2020 – B 3 KR 7/19 R –, SozR 4-2500 § 33 Nr 54, Rn 29).

Der Kläger hat auch den Beschaffungsweg eingehalten. Ansprüche nach § 13 Abs 3, 2. Alt SGB V sind nur gegeben, wenn die Krankenkasse eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dem Versicherten "dadurch" Kosten für die selbst beschaffte Leistung entstanden sind. Dazu muss die Kostenbelastung des Versicherten der ständigen Rechtsprechung des BSG zufolge wesentlich auf der Leistungsversagung der Krankenkasse beruhen. Hieran fehlt es, wenn diese vor Inanspruchnahme der Versorgung mit dem Leistungsbegehren nicht befasst worden ist, obwohl dies möglich gewesen wäre oder wenn der Versicherte auf eine bestimmte Versorgung von vornherein festgelegt war (vgl BSG, aaO mwN BSG, Urteil vom 24. April 2018 – B 1 KR 29/17 R Rn 10; 30. November 2017 – B 3 KR 11/16 R Rn 18; Schifferdecker, Kasseler Kommentar, 118. EL Stand: März 2022 § 13 Rn 85). Vorliegend erfolgte der Erwerb des „Unitron T Moxi All 700“ ausweislich der Rechnung vom 9. November 2018 erst im November und damit nach der ablehnenden Entscheidung der Beklagten am 11. September 2018. Auch die von der Beklagten eingereichte Mehrkostenerklärung unterzeichnete der Kläger erst nach Leistungsablehnung am 22. Oktober 2018. Soweit er hierin erklärte, mit dem getesteten aufzahlungsfreien Hörsystemen – soweit möglich – sowohl bei störenden Umgebungsgeräuschen als auch in größeren Räumen und größeren Personengruppen ein bestmögliches Sprachverstehen erreicht zu haben, ergibt sich hieraus jedenfalls kein Verzicht auf aufzahlungspflichtige Hörgeräte. Die Erklärung kann allenfalls als Indiz für die (gleiche) Eignung des aufzahlungsfreien Geräts gewertet werden, das durch die Messungen des Freiburger Sprachtests jedoch hier widerlegt wird.

Allerdings konnte und musste der Kläger vorliegend auf das „Unitron T Moxi All flex“ verwiesen werden, das im Vergleich zum streitgegenständlichen „Unitron T Moxi All 700“ die gleichen Testergebnisse aufwies. Etwas Anderes ergibt sich nicht aus dem Vortrag, das „Unitron T Moxi All 700“ sei aufgrund der dort vorhandenen Bluetooth-Schnittstelle und der damit verbundenen Möglichkeit zu telefonieren erforderlich gewesen. Denn aus dem Internetauftritt der Firma Unitron ergibt sich, dass alle Geräte der Reihe „Moxi All“ standardmäßig über eine Bluetooth-Schnittstelle verfügen (siehe unter https://www.unitron.com/de/de_de/products/product-details.html?product1=t-moxi-all-pro&product2=dx-moxi-fit-9&product3=dx-moxi-jump-r-t-9). Dieses trifft nur auf das – bereits wegen fehlender Eignung ausscheidende – Festbetragsgerät „Unitron Shine Rev 4 Hpm“ nicht zu. Abgesehen davon stellt die Bluetoothfähigkeit des Hörgerätes selbst nicht die einzige Möglichkeit zum Telefonieren dar. So kann auch ohne Zubehör telefoniert werden, indem der Hörer des Telefons nicht auf das Ohr, sondern auf das Mikrofon des Hörgerätes gehalten wird. Des Weiteren kann über eine im Zubehörhandel erhältliche Bluetoothschnittstelle ein beidohriges Telefonieren und Nutzung der Schnittstelle als Freisprecheinrichtung ermöglicht werden (siehe hierzu bereits Urteil des Senats vom 13. Juli 2022 – L 16 KR 351/20). Dies gilt sowohl für das Telefonieren im Alltag als auch bei der Arbeit, so dass ein Anspruch auf das höchstwertigste „Unitron T Moxi All 700“ auch unter dem Gesichtspunkt der aufgedrängten Zuständigkeit nach Maßgabe des § 14 SGB IX nicht in Betracht kam. Die Kostenerstattung war vielmehr auf die Kosten für das „Unitron T Moxi All Flex“ zu beschränken, die laut Kostenvoranschlag vom 18. Juni 2018 1.999,- Euro zzgl Zuzahlung betrugen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und berücksichtigt zum einen das teilweise Unterliegen des Klägers und zum Anderen den Umstand, dass der Kläger erstinstanzlich zunächst ausdrücklich die Selbstbeschaffung des streitgegenständlichen Hörgerätes verneint hat und das SG infolgedessen nachvollziehbar davon ausgegangen ist, dass das „Unitron T Moxi All 700“ nach der weiteren Hörverschlechterung für den Kläger nicht mehr geeignet war. Hätte der Kläger von Anfang an zutreffend vorgetragen, hätte möglicherweise ein zweitinstanzliches Verfahren vermieden werden können. Die Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig. Sie hat keinen Antrag gestellt (BSG, Urteil vom 14. November 2002 – B 13 RJ 19/01 R –, BSGE 90, 127-136, SozR 3-5795 § 10d Nr 1, SozR 3-2200 § 1303, SozR 3-2600 § 210 Nr 3, Rn 44; B Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, § 193 Rn 11a).

 

Die Revision wurde wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) zugelassen.

Rechtskraft
Aus
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