L 2 R 235/21

Land
Niedersachsen-Bremen
Sozialgericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Sachgebiet
Rentenversicherung
1. Instanz
SG Stade (NSB)
Aktenzeichen
S 31 R 237/18
Datum
2. Instanz
LSG Niedersachsen-Bremen
Aktenzeichen
L 2 R 235/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Eine mathematisch-schablonenhafte Auswertung der Antworten eines Versicherten im Rahmen einer sog. SRSI-Testung mit dem Ziel einer pauschalen Einschätzung der "Authentizität" seiner Beschwerdeschilderung genügt nicht den wissenschaftlichen und rechtsstaatlichen Grundanforderungen an eine inhaltliche nachvollziehbare Erkenntnisgewinnung; sie ist daher in einem sozialgerichtlichen Verfahren nicht verwertbar.

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

                       Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Der am 16. März 1964 geborene Kläger begehrt eine Erwerbsminderungsrente.

Der Kläger war langjährig als Stahlbauschlosser beruflich tätig. Er ist Vater von drei Töchtern. 2006 beging seine Ehefrau Suizid.

Nach der Operation eines Prostatakarzinoms gewährte ihm die Beklagte von 30. Januar bis 20. Februar 2013 eine Anschlussheilbehandlung in der Klinik I.. Die Klinikärzte gelangten zu der Einschätzung eines fortbestehenden Leistungsvermögens für bis zu mittelschwere berufliche Tätigkeiten. Nachfolgend arbeitete der Kläger weiterhin als Stahlbauschlosser.

Am 15. Juni 2017 erfolgte eine Fusion des Wirbelsäulensegmentes L5/S1; bei der nachfolgenden Anschlussheilbehandlung in der Klinik für Orthopädische Rehabilitation in J. vom 24. Juli bis 14. August 2017 wurde ein fortbestehendes sechs- und mehrstündiges Leistungsvermögen für leichte bis mittelschwere Tätigkeiten festgehalten und eine berufliche Umorientierung empfohlen, da die Tätigkeit eines Stahlbauschlossers nicht mehr leidensgerecht sei.

Seitdem hat der Kläger nicht mehr am Erwerbsleben teilgenommen; er bezieht Leistungen nach dem SGB II. Der Versicherungsverlauf (vgl. wegen der Einzelheiten Bl. 112 ff. GA) weist seit September 2017 Beitragszeiten aufgrund der Ausübung von Pflegetätigkeiten aus.

Im Mai 2018 beantragte er die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 28. Mai 2018 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 10. Juli 2018 angesichts eines im Rehabilitationsverfahren bestätigten fortbestehenden jedenfalls sechsstündigen Leistungsvermögens ab.

Mit der am 6. August 2018 erhobenen Klage hat der Kläger ein aufgehobenes Leistungsvermögen geltend gemacht. Mittlerweile würden auch psychiatrische Beschwerden vorliegen (vgl. Schriftsatz vom 13.September 2018). Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben seien ihm dem Grunde nach bewilligt worden; aufgrund seiner körperlichen und psychischen Verfassung könne er sich eine berufliche Tätigkeit aber nicht mehr vorstellen.

Das Sozialgericht hat die im SB-Verfahren S 24 SB 18/19 eingeholten Gutachten des Nervenarztes Dr. K. vom 16. März 2020 und der Chirurgin und Unfallchirurgin Dr. L. vom 2. September 2020 beigezogen und die Klage mit Gerichtsbescheid vom 2. September 2021 unter Darlegung eines auch aus seiner Sicht fortbestehenden jedenfalls sechsstündigen Leistungsvermögens abgewiesen.

Gegen diese ihm am 3. September 2021 zugestellte Entscheidung richtet sich die Berufung des Klägers vom 28. September 2021. Der Kläger verweist insbesondere auf eine „erhebliche Gichterkrankung“ und auf „rezidivierende depressive Verstimmungszustände“.

Er weist darauf hin, dass er seine „Partnerin“ pflege, indem er sie motiviere und bei Terminen außerhalb ihrer Wohnung begleite (vgl. Schriftsatz vom 29. Oktober 2021). Daraus dürften aber keine Rückschlüsse auf ein fortbestehendes berufliches Leistungsvermögen gezogen werden.

Er beantragt,

  1. den Gerichtsbescheid vom 2. September 2021 und den Bescheid der Beklagten vom 28. Mai 2018 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 10. Juli 2018 aufzuheben und
  2. die Beklagte zur Gewährung einer Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung ab Rentenantragstellung zu verpflichten.

Die Beklagte beantragt,

            die Berufung zurückzuweisen.

Der Senat hat Befundberichte der behandelnden Ärzte, eine schriftliche Zeugenaussage des behandelnden Nervenarztes Dr. M. und ein psychiatrisches Gutachten der Sachverständigen Dr. N. eingeholt. Diese hat im Rahmen der Begutachtung zur Überprüfung der Authentizität der Beschwerdeschilderung einen sog. SRSI (Self-Report Symptom Inventory)-Test durchgeführt und im Ergebnis ein fortbestehendes sechs- und mehrstündiges Leistungsvermögen festgestellt.

Die Sachverständige hat ihr Gutachten um weitere Erläuterungen vom 24., 26. und 31. August 2022 ergänzt; sie hat des Weiteren auf Antrag des Klägers ihr Gutachten in der mündlichen Verhandlung erläutert.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

 

Die zulässige Berufung hat keinen Erfolg. Auch nach dem Ergebnis der weiteren Ermittlungen im Berufungsverfahren lassen sich die tatbestandlichen Voraussetzungen für die begehrte Erwerbsminderungsrente nicht objektivieren.
 

1. Versicherte haben nach § 43 Abs. 1 SGB VI bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie teilweise erwerbsgemindert sind und in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Ein Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung setzt nach § 43 Abs. 2 S. 2 SGB VI voraus, dass der Versicherte wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Erwerbsgemindert im Sinne einer vollen oder teilweisen Erwerbsminderung nach § 43 Abs. 1 bzw. 2 SGB VI ist nach § 43 Abs. 3 SGB VI hingegen nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.
 

Voraussetzung für einen solchen Rentenanspruch ist nach den genannten gesetzlichen Vorgaben des Weiteren, dass der Versicherte in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit hatte. Der Zeitraum von fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung verlängert sich nach § 43 Abs. 4 SGB VI um Anrechnungszeiten und Zeiten des Bezugs einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, Berücksichtigungszeiten, Zeiten, die nur deshalb keine Anrechnungszeiten sind, weil durch sie eine versicherte Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit nicht unterbrochen ist, wenn in den letzten sechs Kalendermonaten vor Beginn dieser Zeiten wenigstens ein Pflichtbeitrag für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit oder eine Zeit nach § 43 Abs. 4 Nummer 1 oder 2 liegt, und Zeiten einer schulischen Ausbildung nach Vollendung des 17. Lebensjahres bis zu sieben Jahren, gemindert um Anrechnungszeiten wegen schulischer Ausbildung. Die vorstehend genannten Zeiten sind nur zu berücksichtigen, soweit sie nicht mit Pflichtbeiträgen für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit belegt sind.

 

Ein Versicherter, der noch eine Erwerbstätigkeit ausüben kann, ist nicht allein schon deshalb erwerbsgemindert, weil er aufgrund einer wie auch immer verursachten Gesundheitsstörung häufiger arbeitsunfähig ist (vgl bereits BSG vom 5.3.1959 - BSGE 9, 192, 194 f; BSG vom 26.9.1975 - SozR 2200 § 1247 Nr 12 S 23; BSG vom 21.7.1992 - 4 RA 13/91 - Juris RdNr 16; U.v. 31.3.1993 - SozR 3-2200 § 1247 Nr 14). Allerdings hat das BSG entschieden, dass das Risiko einer häufigen Arbeitsunfähigkeit dann zu einer Erwerbsminderung führen kann, wenn feststeht, dass die (vollständige) Arbeitsunfähigkeit so häufig auftritt, dass die während eines Arbeitsjahres zu erbringenden Arbeitsleistungen nicht mehr den Mindestanforderungen entsprechen, die ein "vernünftig und billig denkender Arbeitgeber" zu stellen berechtigt ist, sodass eine Einstellung oder Weiterbeschäftigung eines solchen Versicherten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt praktisch ausgeschlossen ist (vgl BSG vom 5.3.1959 - BSGE 9, 192, 194; BSG vom 21.7.1992 - 4 RA 13/91 - Juris RdNr 16; U.v. 31.3.1993 - SozR 3-2200 § 1247 Nr 14 S 44 f; B.v. 31. Oktober 2012 – B 13 R 107/12 B –, SozR 4-2600 § 43 Nr 19 mwN).

 

2. Bei der Beurteilung des Leistungsvermögens des Klägers dürfen die Ergebnisse der von der im Berufungsverfahren gehörten Sachverständigen durchgeführten SRSI-Testung nicht verwertet werden. Die mit diesem Testverfahren vorgegebene rechnerisch-schablonenhafte Bewertung der „Authentizität der Beschwerdeschilderung“ genügt nicht rechtsstaatlichen Grundanforderungen an eine nachvollziehbare Erkenntnisgewinnung.

 

a) Bei diesem Testverfahren hat der Proband einen dreiseitigen Fragebogen mit insgesamt 107 Fragen insbesondere zu eventuellen gesundheitlichen Beeinträchtigungen auszufüllen. Dabei soll jede Frage durch Ankreuzen der in dem Testformular vorgesehenen Antwortfelder für „richtig“ oder „falsch“ beantwortet werden. Textliche Angaben des Probanden sind nicht vorgesehen.

 

Ausweislich der dem Fragebogen vorausgeschalteten Erläuterungen ist in Bezug auf alle Fragen das Antwortfeld „richtig“ auch dann anzukreuzen, wenn die jeweils abgefragte Aussage nicht vollständig, aber doch „eher zutrifft“. Entsprechend soll das Feld „falsch“ angekreuzt werden, wenn eine Aussage auch nur „eher nicht zutrifft“.

 

In diesen Erläuterungen werden die Testteilnehmer darüber belehrt, dass die abgefragten Aussagen und Beschwerden für einige Menschen zutreffen, für andere hingegen nicht.

 

Den Probanden wird keine bestimmte Zeitspanne für das Ausfüllen des Fragebogens vorgegeben. Aus Sicht des Anbieters des Testverfahrens wird die Bearbeitungszeit in der Regel nicht mehr als 10 bis 15 Minuten betragen (vgl. https://www.testzentrale.de/shop/self-report-symptom-inventory-deutsche-version-89304.html). Ausgehend von einem Mittelwert von 12,5 Minuten ergibt sich für jede der 107 Fragen des Fragebogens rechnerisch eine Zeitspanne von 7 Sekunden, um den genauen Inhalt zu erfassen und (auch unter Einbeziehung der Vorgaben, wonach für eine Bejahung ein „Eher-Zutreffen“ ausreichen soll) sachgerecht zu beantworten.

 

Inhaltlich wird beispielsweise im Rahmen des Fragebogens danach gefragt, ob etwa folgende Aussagen richtig oder falsch sind (also unter Einbeziehung der Hinweise im Vorblatt: jedenfalls „eher richtig“ oder „eher falsch“ sind): Ich erwache morgens früher als gewöhnlich (Nr. 11); Kleinigkeiten können mich aus der Ruhe bringen (Nr. 21); ich begreife langsamer als früher (Nr. 32); ich kann beide Schultern kaum noch anheben (Nr. 65).

 

Im Regelfall wird der Fragebogen von dem Probanden selbständig ausgefüllt. Im vorliegenden Fall hatte der Kläger allerdings die Sachverständige darauf hingewiesen, dass er seine Lesebrille bei der Begutachtung nicht mitgeführt habe. Daraufhin hat ihm die Sachverständige die Fragen aus dem Fragebogen (einschließlich des Vorblattes) vorgelesen und dann entsprechend den jeweiligen Antworten des Klägers in dem Fragebogen die Felder „richtig“ oder „falsch“ angekreuzt.

 

Für die Auswertung des Fragebogens geben die Testautoren folgende Vorgaben: Der ganz überwiegende Teil der Fragen sind nach den (insoweit dem Probanden natürlich nicht mitzuteilenden) Vorgaben für die Testauswertung einerseits der Gruppe „potenziell genuiner Beschwerden“ und andererseits der Gruppe der „Pseudobeschwerden“ zuzuordnen. Beispielsweise gehört die Aussage Nr. 23 „Ich kann mir überhaupt nichts merken“ oder Nr. 30 „Jeden Tag entdecke ich neue Dinge, die mir Furcht bereiten“ nach Auswertungsvorgaben zu den „Pseudobeschwerden“. Hingegen gehören wiederum beispielsweise die Aussagen Nr. 69 „ohne Schmerzen wäre ich ein anderer Mensch“ oder Nr. 98 „Ich bin an meinem Unglück selbst schuld“ zu den „potenziell genuinen Beschwerden“.

 

Im Ergebnis soll der Test eine Aussage darüber ermöglichen, ob sein Ergebnis zugunsten oder zuungunsten einer „authentischen Beschwerdeschilderung“ zu werten ist. Die dafür maßgebliche Auswertung des ausgefüllten Fragebogens erfolgt nach den Testvorgaben in zwei Schritten: In einem ersten Schritt wird die Zahl der zur Gruppe der „potenziell genuiner Beschwerden“ gehörenden Aussagen ermittelt, welche der Proband als „richtig“ angekreuzt hat. Entsprechend wird die Zahl der zur Gruppe der „Pseudobeschwerden“ gehörenden Aussagen ermittelt, welche der Proband als „richtig“ angekreuzt hat.

 

Im nächsten Schritt werden diese beiden Zahlen zueinander ins Verhältnis gesetzt. Diese Verhältniszahl wird von den Testautoren als „Ratio“ bezeichnet. So hat der Kläger in dem Fragebogen 20 sog. Pseudobeschwerden und 46 Aussagen aus der der Gruppe der „potenziell genuinen Beschwerden“ als richtig angegeben. Daraus ergab sich rechnerisch die Ratio von 0,43 (entsprechend dem – gerundeten – Ergebnis der Division 20 durch 46).

 

Diese „Ratio“ entscheidet nach dem Testdesign (abgesehen von Sonderfällen des Fehlens einer relevanten Zahl bejahter Aussagen aus dem Bereich „potenziell genuiner Beschwerden“) über das Testergebnis: Bei einer „Ratio“ unterhalb des von den Testautoren vorgegebenen Grenzwertes von 0,288 ist der Test zugunsten einer „authentischen Beschwerdeschilderung“ zu bewerten; überschreitet die „Ratio“ diesen Grenzwert, dann soll dies zuungunsten einer „authentischen Beschwerdeschilderung“ zu bewerten sein. Bei solchen Überschreitungen gilt nach dem von den Testautoren verfassten Auswertungsbogen der Ansatz „je höher, desto auffälliger“. In diesem den Testanwendern vorgegebenen Auswertungsbogen wird der angesprochene Grenzwert von 0,288 als „empirisch ermittelt“ ausgewiesen.

 

Da in diesem Zusammenhang nach den Vorgaben der Testautoren lediglich eine rechnerische Erfassung der Zahl der bejahten Aussagen aus dem Bereich „potenziell genuiner Beschwerden“ und der Zahl der bejahten Aussagen aus dem Bereich der Pseudobeschwerden sowie die rechnerische Bildung des wechselseitigen Verhältnisses dieser beiden Werte vorgesehen ist, wird den Testanwendern eine Schablone zur Vereinfachung dieser rechnerischen Auswertungsschritte zur Verfügung gestellt.

 

Da im vorliegenden Fall die Testung eine „Ratio“ von 0,43 ergeben hat, mit der der vorgegebene Grenzwert von 0,288 (deutlich) überschritten worden war, hat die Sachverständige entsprechend den Testvorgaben das Testergebnis dahingehend gewürdigt, dass dieses zuungunsten einer „authentischen Beschwerdeschilderung“ ausgefallen sei.

 

Anknüpfend an die Darlegung dieser erheblichen Überschreitung des Grenzwertes hat sie in ihrem schriftlichen Gutachten festgehalten: „Somit sind anhand dieses Verfahrens zur Validierung der Beschwerden negative Antwortverzerrungen in so erheblichem Umfang nachweisbar, dass substantielle Zweifel an der Gültigkeit der gelieferten Beschwerdeschilderung bestehen und von einem unauthentischen Antwortverhalten auszugehen ist.“

 

b) Eine entsprechende rechnerisch-schablonenhafte Auswertung der Ergebnisse des SRSI-Fragebogens ist jedoch mit den rechtsstaatlichen Anforderungen an eine Beweiserhebung nicht in Einklang zu bringen.

 

Die Heranziehung von Sachverständigen in gerichtlichen Verfahren dient der Aufklärung des Sachverhalts und damit (im Rahmen der naturgemäß begrenzten menschlichen Erkenntnismöglichkeiten) der Wahrheitsfindung. Testverfahren und deren Auswertungen dürfen nur herangezogen werden, wenn und soweit diese einen hinreichend verlässlichen Beitrag zur Ermittlung des tatsächlichen Sachverhalts versprechen. Diesen Anforderungen vermag die im Testdesign vorgesehene rechnerisch-schablonenhafte Auswertung der Ergebnisse des SRSI-Fragebogens nicht zu genügen.

 

(1) Die Beurteilung der Verlässlichkeit der von der Sachverständigen herangezogenen SRSI-Testung zur Einschätzung der „Authentizität“ insbesondere auch im Sinne der Glaubhaftigkeit der Beschwerdeschilderung des Klägers obliegt uneingeschränkt dem Senat. Die Durchführung der Testung und ihre Auswertung auf der Basis der von den Testautoren dafür vorgegebenen Schablone und Berechnungsvorgaben setzten keine medizinischen Fachkenntnisse voraus. Die vorgedruckten Testfragebögen legen die insgesamt 107 Testfragen präzise fest; abweichende Ausformulierungen der Fragen im Einzelfall sehen die Testvorgaben gerade nicht vor.

 

Dabei sollen die Antworten ausschließlich in Form des dafür vorgesehenen Ankreuzens der vorgegebenen Antwortfelder „richtig“ bzw. „falsch“ erfolgen. In den Testvorgaben wird vorab festgelegt, welche der vorgegebenen Fragen einerseits zur Gruppe der „potenziell genuiner Beschwerden“ und welche andererseits zur Gruppe der sog. „Pseudobeschwerden“ zu rechnen sind.

 

Auf Seiten des Testanwenders sieht der Test bezogen auf die unmittelbare Testdurchführung und –auswertung keine Bewertungsspielräume vor. Noch weniger gibt es solche, für deren Anwendung medizinische Kenntnisse herangezogen werden könnten. Das SRSI-Testverfahren sieht gar nicht vor, dass bei der Testung individuelle Umstände wie etwa der Bildungsgrad oder der Gesundheitszustand erfragt und das Testergebnis beeinflussen können. Das Testverfahren beruht vielmehr auf der Annahme, dass das Testergebnis insbesondere im Sinne einer zugunsten oder zuungunsten der „Authentizität“ der „Beschwerdeschilderung“ sprechenden Einschätzung sich unabhängig von individuellen Faktoren und erst recht losgelöst von der gesundheitlichen Verfassung des Probanden gewinnen lässt.

 

In einem weiteren Schritt kann der Testanwender natürlich individuelle Faktoren bei der Prüfung einfließen lassen, welche Relevanz er dem Testergebnis beimessen und welche Schlussfolgerungen er ggfs. aus diesem Ergebnis ziehen will. Dies betrifft aber nicht die Anwendung des Testverfahrens als solches, sondern einen weiteren nachfolgenden Bewertungsschritt.

 

Die unmittelbare Testauswertung kann anhand der detaillierten Vorgaben der Testverfasser Hilfskräften übertragen werden. Auf der Basis einer maschinenlesbaren Beantwortung der Fragen können dafür auch entsprechend programmierte Computer eingesetzt werden.

 

Der Test soll eine Beurteilung der Frage ermöglichen oder jedenfalls fördern, ob eine Schilderung (im Sinne einer „Beschwerdeschilderung“) als „authentisch“ verstanden und damit jedenfalls schwerpunktmäßig im Sinne von glaubhaft zu bewerten ist. Die Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Aussagen wie namentlich von Zeugenaussagen setzt als solche ohnehin keine medizinische Fachkunde voraus, sie ist vielmehr ureigene Aufgabe des Tatgerichts (BGH, Urteil vom 8. Juli 2020 – 5 StR 80/20 –, Rn. 9, juris) und damit auch des Senates. Diesbezüglich ist das Tatgericht nach der Prozessordnung verpflichtet, eine eigen- und letztverantwortliche Entscheidung zu treffen (BGH, Urteil vom 17. Dezember 1998 – 1 StR 156/98 –, BGHSt 44, 308).

 

In Einzelfällen kann eine entsprechende Glaubhaftigkeitsprüfung natürlich auch die Einbeziehung medizinischer Erkenntnisse beinhalten. Beispielsweise kann eine psychische Erkrankung zu Antwortverzerrungen führen; daran anknüpfend kann die Einschätzung der Glaubhaftigkeit von Angaben eines entsprechend Erkrankten eine Befassung mit der für entsprechende Verzerrungen in Betracht kommenden Erkrankung voraussetzen. Oder es können Beschwerdeangaben mit medizinischen Befunden abzugleichen sein. Im Rahmen des SRSI-Testverfahrens kommt eine Berücksichtigung entsprechender individueller medizinischer Besonderheiten aber schon deshalb nicht in Betracht, weil solche nach den Testvorgaben für die eigentliche Testung weder zu erfragen noch zu berücksichtigen sind.

 

Im Bereich der Psychologie sind eingehende wissenschaftliche Untersuchungen zur Evaluierung und Auswertung von Glaubhaftigkeitsmerkmalen insbesondere bei Zeugenaussagen durchgeführt worden (vgl. nur beispielsweise Arntzen, Psychologie der Zeugenaussage, 5. Aufl. 2011, und BGH, Urteil vom 17. Dezember 1998 – 1 StR 156/98 –, BGHSt 44, 308, sowie Urteil vom 30. Juli 1999 – 1 StR 618/98 –, BGHSt 45, 164 mwN). Es ist jedoch schon nichts dafür erkennbar, dass die entsprechenden wissenschaftlichen psychologischen Erkenntnisse in die Ausgestaltung des SRSI-Testfragebogens eingeflossen sind. Noch weniger sind entsprechende Kenntnisse für die nach den Testvorgaben schematisch-rechnerische vorzunehmende Testauswertung erforderlich.

 

Ohnehin ist nichts dafür ersichtlich, dass die entsprechenden psychologischen Erkenntnisse überhaupt in einen Testfragebogen nach Art der SRSI-Testung umgesetzt werden können. Der entsprechende wissenschaftliche Ansatz beinhaltet vielmehr eine sorgfältige Analyse und Bewertung einzelner konkreter (insbesondere Zeugen-)Aussagen unter Einbeziehung vorausgegangener Angaben des Zeugen, seiner Motivation und seiner Persönlichkeitsmerkmale. Geprüft werden aussageimmanente Qualitätsmerkmale (z. B. logische Konsistenz, quantitativer Detailreichtum, raum-zeitliche Verknüpfungen, Schilderung ausgefallener Einzelheiten und psychischer Vorgänge, Entlastung des Beschuldigten, deliktsspezifische Aussageelemente), deren Auftreten in einer Aussage als Hinweis auf die Glaubhaftigkeit der Angaben gilt (vgl. BGH, Urteil vom 30. Juli 1999 – 1 StR 618/98 –, BGHSt 45, 164).

 

Diesem Ansatz liegt es gerade fern, losgelöst von konkreten Äußerungen des Probanden im jeweiligen Verfahren allgemeine Aussagen zur Authentizität einer (im Rahmen der SRSI-Testung inhaltlich gar nicht näher zu erfassenden) Beschwerdeschilderung treffen zu wollen. Gegenstand einer aussagepsychologischen Begutachtung ist - wie sich letztlich auch bereits aus dem Begriff ergibt - nicht die Frage nach einer allgemeinen Glaubwürdigkeit des Untersuchten im Sinne einer dauerhaften personalen Eigenschaft. Es geht vielmehr um die Beurteilung, ob auf ein bestimmtes Geschehen bezogene Angaben zutreffen, d. h. einem tatsächlichen Erleben der untersuchten Person entsprechen (BGH, Urteil vom 30. Juli 1999 – 1 StR 618/98 –, BGHSt 45, 164, Rn. 11).

 

Da eine Bewertung insbesondere der Glaubhaftigkeiten der Aussagen und Schilderungen von Zeugen und Verfahrensbeteiligten ureigene Aufgabe der Richter in den Tatsacheninstanzen ist obliegt diesen auch in eigener Verantwortung, die Verlässlichkeit von ihnen in diesem Zusammenhang angedienten Testverfahren zu beurteilen. Nur damit wird das zuständige Gericht seinem Verfassungsauftrag zur eigenverantwortlichen Entscheidung des betroffenen Rechtsstreits gerecht.

 

Entsprechende Testungen dürfen vom Gericht nur herangezogen werden, wenn diese den rechtsstaatlichen Vorgaben entsprechen und in uneingeschränkt nachvollziehbarer Weise einen verlässlichen Beitrag zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Angaben gewährleisten. Dies gilt unabhängig von den jeweiligen Testverfassern und deren anderweitiger beruflicher Qualifikation und damit insbesondere auch unabhängig von der Frage, ob die Testautoren etwa andere Juristen, Mediziner, Psychologen oder eventuell auch Philosophen sein mögen. Ebenso wenig kommt es in diesem Zusammenhang darauf an, ob das Gericht seinerseits entsprechende Testungen veranlassen will oder bereits von anderen Personen wie vorliegend etwa von einer Sachverständigen gewonnene Testergebnisse zu berücksichtigen haben könnte.

 

In diesem Zusammenhang muss der Senat nicht abschließend klären, ob verlässliche Testverfahren mit dem Ziel allgemeiner Aussagen zur Verlässlichkeit von Aussagen einer Person etwa im Sinne von „Beschwerdeschilderungen“ überhaupt realisierbar sind. So dürfte die Beschränkung des Gegenstandes aussagepsychologischer Begutachtungen im Sinne der Richtigkeitsprüfung allein konkreter auf ein bestimmtes Geschehen bezogener Angaben (BGH, Urteil vom 30. Juli 1999 – 1 StR 618/98 –, BGHSt 45, 164, Rn. 11) sachbezogene Grenzen sinnvoller Abklärungen zum Ausdruck bringen. Über die Abklärung konkreter für die Gutachtenerstellung maßgeblicher Angaben hinausgehende Pauschaleinschätzungen der Glaubhaftigkeit des Betroffenen im Allgemeinen dürften überdies vielfach schon im Ausgangspunkt seinen in der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) wurzelnden Wert- und Achtungsanspruch (BVerfG, B.v. 9. Juli 1997 – 2 BvR 1371/96 –, BVerfGE 96, 245) missachten. Dies gilt in besonderem Maße, wenn für eine solche pauschalierende Bewertung nicht einmal eine verlässliche wissenschaftliche Erkenntnisgrundlage ersichtlich ist.

 

In der vorliegend zu beurteilenden Konstellation kann sich der Senat ohnehin mit der Feststellung begnügen, dass auch unter Einbeziehung der Ergebnisse der ergänzenden Befragung der für die Testdurchführung verantwortlichen Sachverständigen nichts dafür zu erkennen ist, dass das SRSI-Testverfahren im Sinne der mit ihm vorgegebenen rechnerisch-schablonenartigen Bewertung einer „Authentizität“ der Beschwerdeschilderung zu inhaltlich nachvollziehbaren verwertbaren Ergebnissen führt.

 

(2) Ein Bemühen zur Bewertung der Verlässlichkeit dieser Testung scheitert letztlich bereits an der Ungenauigkeit der für die Testausrichtung herangezogenen Begrifflichkeiten. Diese bedingen durchgreifende Unklarheiten hinsichtlich des mit dem Test abzuklärenden Untersuchungsgegenstandes und auch des Ergebnisses einer SRSI-Testung.

 

Im Ergebnis soll ein SRSI-Test (entsprechend den Formulierungen in dem von den Testautoren herausgegebenen Auswertungsbogen) in erster Linie Auskunft im Hinblick darauf geben, ob die „Beschwerdeschilderung“ im Ergebnis „authentisch“ oder nicht ausgefallen ist. Dabei wird dem Testergebnis im Ergebnis allerdings nur eine Art Indizwirkung beigemessen: Das jeweilige Ergebnis der Testung kann nach den Auswertungsvorgaben entweder „zugunsten einer authentische Beschwerdeschilderung“ oder aber „zuungunsten“ einer solchen sprechen.

 

Schon formulierungsmäßig lässt dieser Ansatz weithin offen, was genau mit dem Test abzuklären sein soll. Der Begriff einer (oder der) „Beschwerdeschilderung“ wird nicht nachvollziehbar konkretisiert. Ebenso wenig wird hinreichend deutlich, wann im Ausgangspunkt die Schilderung zunächst einzelner Beschwerden als „authentisch“ oder als „nicht authentisch“ und daran anknüpfend die Gesamtheit der „Beschwerdeschilderung“ als (nicht) „authentisch“ einzustufen sein soll. Ebenso unklar bleibt der genaue Bedeutungsinhalt der Formulierung, in welcher Hinsicht im Einzelnen das jeweilige Testergebnis (in Abhängigkeit insbesondere von der im Rahmen der Testung jeweils zu ermittelnden sog. „Ratio“) „zugunsten“ oder „zuungunsten“ einer „authentischen Beschwerdeschilderung“ zu „bewerten“ sein soll. Schon angesichts dieser den Ausgangspunkt des Testverfahrens betreffenden Ungenauigkeit entzieht sich das Testverfahren einer inhaltlichen Nachvollziehbarkeit.

 

(a) Es bestehen bereits durchgreifende Unklarheiten, was konkret unter dem im Rahmen der von den Testautoren vorgegebenen Testauswertung gebrauchten Begriffen der „Beschwerdeschilderung“ zu verstehen sein soll.

 

Funktional betrachtet, besteht eine „Beschwerdeschilderung“ nicht nur in einer Auflistung von Beschwerden, sondern auch in der näheren Beschreibung ihrer Ausgestaltung und ihrer Auswirkungen etwa auf die Lebensführung. Dementsprechend wäre zunächst zu klären, ob alle diesbezüglichen Angaben zur „Beschwerdeschilderung“ im Sinne der Testauswertung zu rechnen sind oder ob sich die Beurteilung der Authentizität der Beschwerdeschilderung nur auf einzelne (näher zu konkretisierende) Teile dieser Angaben beziehen soll.

 

Darüber gibt es in sozialgerichtlichen Verfahren in aller Regel nicht nur eine Beschwerdeschilderung des jeweiligen Probanden, vielmehr sind den Akten eine Vielzahl entsprechender Schilderungen zu entnehmen. Abgesehen davon, dass sehr häufig mehrere Gutachten im Laufe eines Verfahrens eingeholt werden, pflegen die Betroffenen regelmäßig auch ihre Beschwerden im Laufe des gerichtlichen Verfahrens mit ihrem schriftsätzlichen (vielfach durch Rechtsanwälte oder andere fachkundige Vertreter verfassten) Vortrag und in der mündlichen Verhandlung direkt gegenüber den Gerichten zu erläutern. Darüber hinaus lassen sich auch die behandelnden Ärzte die Beschwerden im Rahmen der kurativen Betreuung schildern. Die Ergebnisse dieser Schilderungen werden regelmäßig vermittels von Befundberichten und Stellungnahmen dieser Ärzte ebenfalls in das gerichtliche Verfahren eingeführt.

 

Dementsprechend stellt sich zunächst die Frage, auf welche Teile dieser Vielzahl von Schilderungen sich die mit dem Test angestrebte Einschätzung der „Authentizität“ der „Beschwerdeschilderung“ erstrecken soll. Weder der dem Senat vorgelegte Auswertungsbogen noch die Ergebnisse der Befragungen der Sachverständigen ermöglichen eine nachvollziehbare Klärung dieser Frage. Damit bleibt schon in diesem Ausgangspunkt die Zielrichtung des Testverfahrens im Ungefähren.

 

(b) Entsprechendes gilt für die nach dem Testdesign zentrale Frage, ob eine Schilderung „authentisch“ oder etwa „nicht authentisch“ einzuschätzen ist. Der allgemeine Sprachgebrauch versteht unter Authentizität Echtheit (wie im Sinne von Ursprünglichkeit); eine authentische Angabe soll den Tatsachen entsprechen und glaubwürdig sein. Aber auch diese Definitionsansätze ermöglichen keine hinreichend präzisen Rückschlüsse auf das dem Test zugrunde gelegte Begriffsverständnis.

 

Anknüpfend an den Begriff der Ursprünglichkeit lässt sich der Begriff der „Authentizität“ dahingehend konkretisieren, dass damit eine Übereinstimmung der geäußerten Angaben mit den subjektiv für richtig gehaltenen Angaben gemeint ist. In diesem Sinne wird etwa Führungskräften „Authentizität“ zugesprochen, wenn sich diese in Übereinstimmung mit ihren Werten, Überzeugungen und Glaubensvorstellungen verhalten.

 

Ausgehend von einem solchen Verständnis kann etwa die Angabe eines Zeugen, er habe die Person drei Wochen später in einem Café gesehen, durchaus als „authentisch“ eingeschätzt werden, sofern der Zeuge selbst an die Richtigkeit seiner Äußerung glaubt, mag sie auch aufgrund eines dem Zeugen nicht bewussten Wahrnehmungsfehlers den Tatsachen widersprechen (wie etwa, wenn im Café nicht der Betroffene, sondern sein ihm sehr ähnlich aussehender Bruder war).

 

Wenn hingegen unter einer „authentischen“ Angabe eine mit den Tatsachen übereinstimmende Angabe zu verstehen ist, dann wäre im vorstehend angesprochenen Beispiel die Aussage des Zeugen gerade „nicht authentisch“. Er hat zwar subjektiv bestens Wissens ausgesagt, seine subjektiven Vorstellungen wichen jedoch eines Wahrnehmungsfehlers von den Tatsachen ab.

 

Dementsprechend würde ein präzises (und erst recht ein wissenschaftliches) Vorgehen mit der dafür erforderlichen Genauigkeit zunächst eine nähere Festlegung des maßgeblichen Begriffsverständnisses voraussetzen; auch nach Befragung der Sachverständigen ist nichts dafür erkennbar, dass das SRSI-Testverfahren dieser Anforderungen genügt.

 

Mit dem SRSI-Test wird sicherlich auch der Ansatz verfolgt, dass die Testverfasser und –anwender mögliche Lügen des Probanden erfassen wollen, also in Kenntnis ihrer Unrichtigkeit getätigte Falschangaben im Sinne bewusster Täuschungen. Darauf beschränkt sich jedoch nicht das Testziel, soweit sich dieses überhaupt hinreichend objektivieren lässt. Offenbar sollen bei der Abklärung der „Authentizität“ der Schilderung auch weitere Fehler (ohne entsprechende Differenzierungen im Testergebnis) erfasst werden, welche im Ergebnis einer Berücksichtigung einzelner Angaben als (uneingeschränkt) glaubhaft entgegenstehen mögen. Lügen bilden lediglich nur einen Bereich der in Betracht kommenden im Ergebnis nicht glaubhaften Angaben. Die Fragen in dem SRSI-Fragebogen beziehen sich teilweise auch auf vergangene Zeiträume. Dies betrifft etwa – nur beispielhaft – die Aussage „Es ist schon vorgekommen, dass ich mich nicht einmal an meinen Namen erinnere“ (Nr. 56) oder „ich benötige für vieles mehr Zeit als früher“ (Nr. 64). Das menschliche Erinnerungsvermögen ist natürlich begrenzt. Fehlerhafte Beschreibungen vergangener Zustände können auch auf Fehler im Erinnerungsvermögen zurückzuführen sein, welche dem Probanden gar nicht bewusst sind und dementsprechend schon im Ausgangspunkt nicht dem Bereich der Lügen zugerechnet werden können.

 

Darüber hinaus ist gerade bei psychischen Erkrankungen nicht selten auch mit der Möglichkeit krankheitsbedingter Wahrnehmungsverzerrungen zu rechnen. Naturgemäß werden psychiatrische Begutachtungen regelmäßig bei Versicherten veranlasst, bei denen ohnehin Anhaltspunkte für eine psychische Erkrankung vorliegen. Krankheitsbedingte Wahrnehmungsverzerrungen bringen natürlich schon im Ausgangspunkt keine Lügen zum Ausdruck; sie können in nicht seltenen Fallgestaltungen ohnehin tendenziell eher für die Schwere der in Betracht kommenden Erkrankung als dagegen sprechen.

 

Dabei bleibt schon im gedanklichen Ausgangspunkt unklar, wie diese ganz unterschiedlichen in Betracht kommenden Fehlerquellen mit einem Testfragebogen und dessen vorgesehener schablonenartig-rechnerischen Auswertung entdeckt und sachgerecht bewertet werden sollen.

 

(c) Ebenso wird nicht verlässlich geklärt, was genau mit der im Auswertungsbogen gebrauchten Formulierung einer Bewertung „zugunsten“ (bzw. „zuungunsten“) einer authentischen Beschwerdeschilderung festgestellt werden soll. Die Formulierung soll offenbar zum Ausdruck bringen, dass es keinen zwingenden Zusammenhang zwischen dem Testergebnis und der „Authentizität“ der „Beschwerdeschilderung“ geben muss. Dies würde bedeuten, dass auch bei einem nach den Auswertungsvorgaben „zugunsten einer authentischen Beschwerdeschilderung“ zu bewertenden Testergebnis diese Schilderung (und erst recht einzelne Teile ihrer) gleichwohl „nicht authentisch“ sein kann (und umgekehrt). Daran anknüpfend stellt sich schon die Frage, inwieweit der SRSI-Test überhaupt zu einem konkreten Ergebnis führt. Selbst wenn die Testverfasser den Testergebnissen offenbar nur eine gewisse indizielle Bedeutung beimessen wollen, wäre für eine Nachvollziehbarkeit auch nur des Ansatzes zunächst eine nähere Konkretisierung des Ausmaßes einer solchen indiziellen Wirkung zu fordern.

 

Des Weiteren bedürfte es auch einer Konkretisierung der für die indizielle Wirkung maßgeblichen Umstände. Nur so ließe sich hinreichend verlässlich überblicken, ob die für das Testergebnis maßgeblichen Gesichtspunkte bereits in anderen Indizien zum Ausdruck kommen oder ob es sich um neue Gesichtspunkte handelt. Nur auf dieser Basis könnte eine sachlich nicht gebotene mehrfache Berücksichtigung des in der Sache selben Kriteriums im Rahmen der regelmäßig erforderlichen Gesamtabwägung vermieden werden. Die Testauswertung gibt dazu jedoch keine Aufschlüsse.

 

(3) Für den (jedenfalls häufigen) Fall der Angabe einer für die Auswertung aus Sicht der Testverfasser ausreichenden Zahl sog. „potenziell genuiner Beschwerden“ soll das Testergebnis nach den Auswertungsvorgaben entweder „zugunsten“ oder „zuungunsten“ einer „authentischen“ Beschwerdeschilderung sprechen. Auch abgesehen von allen weiteren vorstehend bereits angesprochenen Unklarheiten bringt bereits dieses dichotomische Vorgehen eine unzureichende Erfassung und Auswertung der entscheidenden Fragestellung zum Ausdruck.

 

In vielen Fällen führt es nicht richtungweisend weiter, pauschal zwischen „authentischen“ bzw. „nicht authentischen“ Schilderung unterscheiden zu wollen. Ab einer gewissen Komplexität der Beschwerdeschilderung ist vielmehr in sehr vielen Fällen ein Nebeneinander von überzeugenden und nicht bzw. jedenfalls weniger überzeugenden Teilen der meistens umfänglichen Schilderungen und Angaben, welche im Ergebnis dem Komplex der „Beschwerdeschilderung“ zuzuordnen sind, zu erwarten.

 

Menschen sind schon nach ihrer psychischen Grundkonstitution in vielen Zusammenhängen nicht die besten Zeugen. Insbesondere Wahrnehmungs- und Erinnerungsfehler, Ängste, Verwirrungen und anderen psychische Beeinträchtigungen können die Qualität von Zeugenaussagen beeinträchtigen. Entsprechendes gilt auch für eigene Darstellungen von Prozessbeteiligten wie etwa beim Vorbringen zum Ausmaß und zu den Auswirkungen gesundheitlicher Beeinträchtigungen durch klagende Rentenbewerber. Entsprechende Defizite entheben weder die erkennenden Gerichte noch die von ihnen herangezogenen Sachverständigen von der Notwendigkeit, im Einzelfall mit der erforderlichen Sorgfalt zu prüfen, inwieweit auch ungeachtet ggfs. zu konstatierender Aussagemängel Teile der Aussageinhalte im Ergebnis als glaubhaft einzuschätzen sind.

 

Auch einem um eine zutreffende Schilderung bemühten Probanden werden bei komplexen Sachverhalten regelmäßig Ungenauigkeiten und Irrtümer etwa bedingt durch Wahrnehmungsfehler, sprachliche Ungenauigkeiten oder aufgrund des begrenzten Erinnerungsvermögens unterlaufen. Die Ergebnisse der aussagenpsychologischen Forschungen stützen sogar die Einschätzung, dass bestimmte Ausprägungen von Inkonstanzen im Aussageverhalten durchaus (im Hinblick auf den Aussagekern) als Glaubhaftigkeitsmerkmal in die Bewertung einzustellen sein können (vgl. Arntzen, aaO, S. 52).

 

Dies gilt schon für psychisch gesunde Probanden. Erst recht ist natürlich (gemessen an objektiven Idealvorstellungen) mit Aussagemängeln bei psychisch Kranken zu rechnen, wenn diese etwa (um nur beispielhaft in Betracht kommende Symptome bei unipolar depressiv Erkrankten nach Maßgabe der Nationalen Versorgungsleitlinie 2022, S. 29 f., anzusprechen) an Niedergeschlagenheit, Verzweiflung, rascher Irritierbarkeit, Einschränkungen im Denkvermögen, krankheitsbedingten Einschätzungsverzerrungen wie unrealistischen Schuldgefühlen und weiteren Beeinträchtigungen leiden.

 

Der erläuterte dichotomische Ansatz des SRSI-Tests versperrt jedoch bereits den erforderlichen Blick auf die in diesem Zusammenhang unerlässliche differenzierende Beurteilung.

 

Bezeichnenderweise ist der Test auch nicht geeignet, innere Widersprüche und Inkonsistenzen in den Angaben des Probanden adäquat zu erfassen. Solche sind in der Praxis häufig anzutreffen (und haben – nicht unbezeichnend – auch im vorliegenden Fall die Sachverständige zur Anwendung des SRSI-Testverfahrens bewogen). Da das Ergebnis nach dem Testdesign (jedenfalls im Sinne einer indiziellen Aussage) pauschal entweder auf die „Authentizität“ des gesamten „Beschwerdevorbringens“ oder auf die fehlende „Authentizität“ dieses Gesamtvortrages hinausläuft, werden im Ergebnis beide (sich inhaltlich gerade widersprechenden) Teilaussagen gleichermaßen als (tendenziell) „authentisch“ bzw. „nicht authentisch“ eingestuft. Dies hilft natürlich nicht bei der Auflösung von Widersprüchen.

 

(4) Die Auswertung des SRSI-Testverfahrens beruht auf der Hypothese, dass das Verhältnis zwischen der Anzahl der bejahten Aussagen aus dem Bereich „potenziell genuiner Beschwerden“ und der Zahl der bejahten Aussagen aus dem Bereich der Pseudobeschwerden einen Rückschluss darauf zulässt, ob (so die Formulierung der Testverfasser in dem von ihrer Seite vorgegebenen Auswertungsbogen) die „Beschwerdeschilderung“ als „authentisch“ zu bewerten ist. Eine Überschreitung des Grenzwertes für die sog. „Ratio“ von 0,288 soll zuungunsten, eine Unterschreitung zugunsten dieser Authentizität sprechen.

 

Schon angesichts der Unbestimmtheit des jeweiligen Testergebnisses kommt die im Rahmen des Auswertungsbogens von Seiten der Testverfasser geltend gemachte empirische Absicherung (namentlich im Sinne eines „empirisch ermittelten“ Grenzwertes von 0,288 für die sog. „Ratio“) nicht in Betracht.

 

Überdies handelte es sich bei den nach dem Auswertungsbogen in Erwägung zu ziehenden (ohnehin unzureichend bestimmten) Testergebnissen nicht um empirisch ermittel- und nachprüfbare Werte. Die angestrebte Einschätzung der „Authentizität“ einer Beschwerdeschilderung beinhaltet keine messbaren Parameter. Dies gilt schon für die Einschätzung einer konkreten Aussage anhand des (ohnehin konkretisierungsbedürftigen) Maßstabes der Authentizität. Erst recht ist davon auszugehen, wenn die Einschätzung gleich eine Vielzahl von Äußerungen erfassen soll, wie dies mit dem vage gehaltenen Begriff der „Beschwerdeschilderung“ intendiert ist.

 

Schon mangels Messbarkeit handelt es sich bei entsprechenden Einschätzungen nicht um statistisch nachprüfbare Hypothesen. Die Einschätzung einer Schilderung als „authentisch“ ist schon im Ausgangspunkt (auch unabhängig von der unzureichenden Bestimmtheit dieses Begriffs) eine Bewertung; sie beinhaltet ihrer Struktur nach eine Meinungsäußerung. Bewertungen dieser Art lassen sich nicht verifizieren. Sie können nicht statistisch oder anderweitig empirisch abgesichert werden.

 

Bewertungen und Meinungsäußerungen etwa im Sinne einer Beurteilung der (zunächst näher zu konkretisierenden) „Authentizität“ von Schilderungen können mehr oder weniger überzeugend begründet sein, sie mögen einleuchten oder auch nicht; sie sind aber nicht als solche dem empirischen Beweis zugänglich. Dementsprechend lässt sich auch für ihre Überzeugungskraft keine Wahrscheinlichkeit im mathematischen Sinne ermitteln. Meinungsäußerungen (wie etwa Bewertungen der „Authentizität von Äußerungen) werden durch die subjektive Beziehung des sich Äußernden zum Inhalt seiner Aussage geprägt sowie durch das Element der Stellungnahme und des Dafürhaltens gekennzeichnet; sie lassen sich deshalb nicht als wahr und unwahr erweisen (BGH, Urteil vom 23. Februar 1999 – VI ZR 140/98 –, Rn. 11, NJW 1999, 2736).

 

Durchaus bezeichnend hat auch die im vorliegenden Verfahren gehörte Sachverständige nach kritischen Nachfragen des Senates bei ihrer Anhörung in der mündlichen Verhandlung eingeräumt, dass sie abweichend von ihrer im Gutachten festgehaltenen anfänglichen Einschätzung und den Angaben im Auswertungsbogen nicht mehr von einer empirischen Absicherung eines Grenzwertes von 0,288 ausgehe. Allerdings meinte sie anknüpfend an die Darlegungen in dem von Merten, Giger, Merkel-Bach und Stevens herausgegebenen Handbuch zum SRSI-Test weiterhin einen sog. „rigorosen Grenzwert“ für die Auswertung zur Anwendung bringen zu können. Diese im Rahmen der Befragung vertretene Einschätzung der Sachverständigen läuft darauf hinaus, dass bei einem Probanden, der mehr als 15 sog. Pseudobeschwerden bejaht hat, von einem „unauthentischen“ Antwortverhalten auszugehen sein soll, wobei die Sachverständige auch im Rahmen ihrer Befragung in der mündlichen Verhandlung diesen Schluss als „empirisch gesichert“ eingeschätzt hat.

 

Eine nachvollziehbare Begründung für eine entsprechende „empirische Absicherung“ eines solchen Grenzwertes von mehr als 15 sog. Pseudobeschwerden hat die Sachverständige allerdings nicht ansatzweise darzulegen vermocht. Da weiterhin der Schluss auf ein „unauthentisches“ Antwortverhalten, also auf eine nicht messbare Größe, sondern auf eine Bewertung, gezogen werden soll, kommt eine solche ohnehin nicht in Betracht.

 

Bei dieser Ausgangslage ist nur ergänzend anzumerken, dass der in diesem Zusammenhang von der Sachverständigen herangezogene von den Testautoren als „rigoroser Grenzwert“ ausgewiesener Grenzwert von mehr als 15 sog. Pseudobeschwerden im Ergebnis letztlich wiederum den schon angesprochenen Ausgangsgrenzwert von 0,288 (aufgerundet also von 0,3) zum Ausdruck bringt: Aus Sicht der Testverfasser, soweit sich dies dem Senat anhand der Ausführungen der befragten Sachverständigen erschließt, leitet sich dieser rigorose Grenzwert von mehr als 15 sog. Pseudobeschwerden rechnerisch von dem zuvor herangezogenen Grenzwert für die sog. Ration von 0,288 ab. Da der Fragebogen lediglich 50 Fragen aus dem Bereich „potenziell genuiner Beschwerden“ beinhaltet, wird bei Bejahung von mehr als 15 Fragen aus dem Bereich der sog. Pseudobeschwerden der Grenzwert für die Ratio von 0,288 rechnerisch zwangsläufig überschritten. Es ist nicht ersichtlich, dass die Testverfasser mit dem sog. „rigorosen Grenzwert“ mehr als diese rechnerische Umformung zum Ausdruck bringen wollen oder können. Auf einer solchen Basis ist es dann allerdings in sich widersprüchlich, den Grenzwert für die „Ratio“ von 0,288 als nicht empirisch gesichert, den davon abgeleiteten Grenzwert von mehr als 15 Pseudobeschwerden hingegen als empirisch gesichert einstufen zu wollen.

 

(5) Da die Beurteilung der „Authentizität“ einer Beschwerdeschilderung keine Tatsachenbehauptung, sondern ein Werturteil zum Ausdruck bringt, kommt aus den dargelegten Gründen keine unmittelbare statistische oder anderweitig empirische Absicherung in Betracht. Es lässt sich nur eine Einschätzung für die Überzeugungskraft der für die Bewertung sprechenden Argumente abgeben. Entsprechende Argumente können ihrerseits durchaus an tatsächlichen Erkenntnissen anknüpfen, die darauf aufbauende Schlussfolgerung, wonach eine Schilderung als authentisch bzw. unauthentisch einzuschätzen sei, beinhaltet aber ein Werturteil, welches nicht mehr den tatsächlichen Feststellungen zuzurechnen ist. Dementsprechend ist das Werturteil als solches auch einer empirischen Absicherung bzw. Objektivierbarkeit entzogen.

 

Auch wenn ein Gericht eine Äußerung als glaubhaft einschätzt, handelt es sich um eine Wertung, wobei eher regelmäßig durchaus auch Argumente für eine anderweitige Bewertung in Betracht kommen können. Soweit gleichwohl für die in einem Rechtsstreit zu treffende Entscheidung im Ergebnis die Einschätzung des dafür (ggfs. insoweit letztinstanzlich) zuständigen Gerichts maßgeblich ist, ist dies Ausdruck der den gerichtlichen Entscheidungen zugewiesenen streitbeendenden Funktion. Der Wertungscharakter entsprechender Einschätzungen wird dadurch nicht berührt (vgl. auch BGH, Urteil vom 17. Dezember 1998 – 1 StR 156/98 –, BGHSt 44, 308, Rn. 64: Gerichtsurteile … mögen der Wahrheit näherkommen, wenn sie auf einer umfassenden Sachverhaltsaufklärung beruhen. Mehr als eine mehr oder weniger große Wahrscheinlichkeit für die Wahrheit bieten aber auch sie nicht).

 

(6) Es ist jedoch auch im Rahmen der allein in Betracht kommenden argumentativen Wertung nichts dafür erkennbar, dass die Bewertung der (fehlenden) „Authentizität“ einer Beschwerdeschilderung im Sinne der mit dem SRSI-Test vorgegebenen schematisch-rechnerischen Auswertung des Antwortverhaltens einen nachvollziehbaren und verwertbaren Beitrag für eine erforderliche Einschätzung der „Authentizität“ (insbesondere auch im Sinne von Glaubhaftigkeit) auch nur einzelner Äußerungen (und erst recht nicht der Gesamtheit des „Beschwerdevorbringens“) zu leisten vermag.

 

Die nach dem Testdesign dem Test zu entnehmende Einschätzung eines Ergebnisses zugunsten oder zuungunsten der „Authentizität“ der „Beschwerdeschilderung“ als solcher lässt ohnehin keine Rückschlüsse auf die Glaubhaftigkeit bzw. Authentizität einzelner im Rahmen der „Beschwerdeschilderung“ erfolgten Äußerungen zu. Dies hat auch die Sachverständige im Rahmen ihrer ergänzenden Befragungen eingeräumt. Darüber hinaus ist ohnehin kein inhaltlich nachvollziehbarer methodischer Ansatz dafür erkennbar, welcher dafür Sorge tragen könnte, dass das SRSI-Testverfahren auf der Basis der mit ihm vorgegebenen rechnerisch-schablonenhaften Auswertung zu inhaltlich greifbaren und nachvollziehbaren Erkenntnissen führt.

 

Dass nach dem Testdesign für die Auswertung letztlich maßgebliche Verhältnis zwischen der Zahl der als richtig bejahten „potenziell genuinen“ Beschwerden und der Zahl der als richtig bejahten sog. „Pseudobeschwerden, d.h. in der Formulierung der Testvorgaben die sog. „Ratio“, wird durch eine Division der beiden Zahlen gebildet. Ein Wert oberhalb des in den Testvorgaben ausgewiesenen Grenzwertes von 0,288 soll für eine fehlende, ein Wert unterhalb dieses Grenzwertes hingegen für eine „Authentizität“ der Beschwerdeschilderung sprechen.

 

Dieser Grenzwert soll durch eine einfache Division ermittelt werden, bei der die Zahl der als richtig bejahten sog. „Pseudobeschwerden“ den Zähler und die Zahl der als richtig bejahten sog. „potenziell genuinen“ den Nenner bildet. Das Ergebnis muss möglichst klein sein, wenn der nach den Testvorgaben ausschlaggebende Grenzwert von 0,288 unterschritten werden soll.

 

Ein zahlenmäßig kleiner Wert als rechnerisches Ergebnis dieser Division wird einerseits durch eine geringe Zahl bejahter sog. „Pseudobeschwerden“ (im Zähler) und eine große Zahl bejahter sog. „potenziell genuiner“ Beschwerden (im Nenner der vorgesehenen Division) gefördert. Dies ist die Konsequenz der mit dem Test vorgegebenen Berechnungsvorgaben, welche auf die Verhältniszahl aus diesen beiden Werten abstellen.

 

Hat beispielsweise ein Proband 30 „potenziell genuine“ Beschwerden und 8 sog. „Pseudobeschwerden“ als richtig angekreuzt, ergibt sich eine Verhältniszahl von 0,267. Diese unterschreitet den Grenzwert von 0,288, so dass das Ergebnis nach den Testvergeben für eine „authentische Beschwerdeschilderung sprechen soll. Hat in dem genannten Beispiel der Proband hingegen statt acht sogar neun sog. Pseudobeschwerden für richtig angesehen, dann ergibt sich eine Verhältniszahl (also die „Ratio“ des Testsprachgebrauchs) von 0,3. Mit dieser wird der Grenzwert überschritten, dies soll zuungunsten einer authentischen Schilderung zu bewerten sein.

 

Geht allerdings die Bejahung von neun sog. Pseudobeschwerden mit der Bestätigung von 32 sog. „potenziell genuiner“ Beschwerden einher, dann soll das Testergebnis wiederum für eine „authentische“ Beschwerdeschilderung sprechen. Es ist dann der Wert von 9 durch 32 zu teilen, wobei das Ergebnis 0,282 wiederum den Grenzwert von 0,288 unterschreitet.

 

Es fehlt bereits an jeglicher inhaltlichen Nachvollziehbarkeit für die Relevanz des von den Testverfassern in den Mittelpunkt der Testauswertung gezogenen Verhältnisses zwischen Zahl der als richtig bejahten sog. „Pseudobeschwerden und der Anzahl der als richtig bejahten „potenziell genuinen“ Beschwerden. Wenn die Bejahung beispielsweise von acht sog. „Pseudobeschwerden“ im Ausgangspunkt geeignet sein sollte, Bedenken gegen eine Glaubhaftigkeit auszulösen, dann ist schon im ersten Ansatz nichts dafür erkennbar, weshalb diese Eignung entfallen sollte, wenn der Proband eine etwas größere Zahl von sog. „potenziell genuinen“ Beschwerden bejaht.

 

Ohnehin führt die im Testdesign vorgegebene maßgebliche Relevanz der erläuterten Verhältniszahl dazu, dass die Aussichten auf ein Testergebnis im Sinne einer „authentischen Beschwerdeschilderung“ steigen, wenn möglichst viele der sog. „potenziell genuinen“ Beschwerden als richtig angekreuzt werden. Auch dafür ist keine inhaltliche nachvollziehbare Grundlage erkennbar. Wenn ein Proband bei einer gutachterlichen Untersuchung etwa einen schlechteren als den tatsächlich empfundenen Gesundheitszustand vortäuschen will, dann wäre es geradezu naheliegend, dieses Ziel im Zuge der Testung (auch) durch die Bejahung von (sog. „potenziell genuinen“) Beschwerden zu fördern, welche er nicht oder jedenfalls nicht in der im Rahmen der Testung abgefragten Ausprägung und Stärke verspürt. Gleichwohl führt die Teststruktur dazu, dass auch sehenden Auges vom Probanden unzutreffend bejahte Fragen aus dem Bereich „potenziell genuinen“ Beschwerden bei der Testauswertung als für die Authentizität und damit jedenfalls tendenziell Glaubhaftigkeit seiner Angaben sprechend herangezogen werden.

 

Da im Rahmen der Testdurchführung und –auswertung anhand der entsprechenden Vorgaben der Testverfasser keine Abgleichung mit dem individuellen Schicksal des jeweiligen Probanden im Zuge der Ermittlung der erläuterten Verhältniszahl vorgesehen ist, kommt es nur auf das formale Antwortergebnis, also darauf an, ob das Antwortfeld „richtig“ oder aber „falsch“ angekreuzt worden ist. Es wird im Rahmen der Testung überhaupt nicht abgeklärt, was tatsächlich unter Berücksichtigung des individuellen Schicksals eine adäquate plausible und einleuchtende Antwort darstellen würde. Beispielsweise wird bei allen Testteilnehmern die Aussicht auf ein für die Authentizität der Schilderung sprechendes Ergebnis gefördert, wenn sie die (nach der Teststruktur zu den sog. „potenziell genuinen“ Beschwerden zählende) Frage bejahen, ob sie an ihrem „Unglück selbst schuld“ seien (Frage Nr. 98). Leidet beispielsweise der Proband an den Folgen schwerwiegender im Kindesalter erlittener Missbrauchserfahrungen, dann wird aus menschlicher, aus juristischer und aus medizinisch-psychologischer Sicht alles dafür sprechen, die Frage Nr. 98 zu verneinen. Nach den Auswertungsvorgaben schmälert diese Antwort jedoch die Aussichten auf eine Einschätzung des „Beschwerdevorbringens“ als „authentisch“.

 

(7) Ohnehin lässt sich auch der für die Teststruktur zentrale Begriff der sog. „Pseudobeschwerden“ überhaupt nicht konkret erfassen. Auch vor diesem Hintergrund fehlt es an der inhaltlichen Nachvollziehbarkeit des Testverfahrens. Dies hat zugleich zur Folge, dass auch eine isolierte Heranziehung der Zahl der im Rahmen der Testung bejahten sog. „Pseudobeschwerden“ zu keinen richtungweisenden Erkenntnissen führen kann. Die Zahl der bejahten sog. „Pseudobeschwerden“ lässt als solche keine inhaltlich nachvollziehbaren Rückschlüsse auf die Glaubhaftigkeit des Probanden etwa in Bezug auf seine Angaben aus dem Bereich der Beschwerdeschilderung zu.

 

Es lässt sich bereits nicht nachvollziehen, was konkret unter einer „Pseudobeschwerde“ zu verstehen sein soll. Insbesondere auch nach den eigenen Vorgaben der Testverfasser ist jedenfalls nicht davon auszugehen, dass „Pseudobeschwerden“ nur sachlich unzutreffende Beschwerdeäußerungen erfassen sollen. In dem von den Testverfassern vorgegebenen Vorblatt werden die Testteilnehmer vielmehr explizit darüber belehrt, dass die im Testfragebogen abgefragten „Aussagen und Beschwerden“ (und damit auch die den sog. Pseudobeschwerden zuzurechnenden Aussagen und Beschwerden) für „einige Menschen zutreffen“ würden (für andere hingegen nicht). Dies hat dann im Rahmen der vorgegebenen rechnerisch-schablonenhaften Testauswertung zur Folge, dass auch eine zutreffende Bestätigung von Fragen und Aussagen aus dem Bereich der sog. „Pseudobeschwerden“ zuungunsten der Authentizität der Beschwerdeschilderung ausgewertet wird. Entsprechende Schlussfolgerungen sind schon im Ausgangspunkt inhaltlich nicht nachvollziehbar.

 

Selbstverständlich kommt in Betracht, dass ein Proband die Erfahrung gemacht hat, dass „bestimmte Bilder und Szenen von etwas Schrecklichem, das mir passiert ist,“ ihm „immer wieder in den Kopf komme“ (Frage 77). Dies ist letztlich nur die umgangssprachliche Umschreibung sog. Flashbacks, wie sie bei bestimmten Erkrankungen wie etwa posttraumatischen Belastungsstörungen sogar typisch und oft quälend auftreten (was auch die Sachverständige im Rahmen ihrer mündlichen Befragung angesprochen hat). Es erschließt sich schon nicht, weshalb diese Äußerung überhaupt den sog. Pseudobeschwerden von den Testverfassern zugeordnet wird. Noch weniger ist nachvollziehbar, weshalb die Bestätigung entsprechender Erfahrungen auch dann gegen ein „authentisches“ Aussageverhaltens sprechen soll, wenn sie mit dem eigenen Erleben des Probanden übereinstimmt.

 

Ohnehin fehlt es bereits bei sehr vielen Fragen aus dem Bereich der sog. „Pseudobeschwerden“ an einer hinreichenden klaren Ausformulierung des jeweiligen konkreten Frageinhalts. Beispielsweise wird in Frage 23 nach der Richtigkeit der Aussage „Ich kann mir überhaupt nichts mehr merken“ gefragt. Versteht man diese Frage buchstäblich im naturwissenschaftlichen Sinne, dann ist sie zu verneinen. Bei Probanden, die jedenfalls ansatzweise noch in der Lage sind, einen Fragebogen mit 107 Fragen auszufüllen, ist letztlich nicht in Betracht zu ziehen, dass sie sich buchstäblich wirklich „nichts“ mehr merken können.

 

Umgangssprachlich wird die Formulierung eines sich „Nichts“-Merken-Könnens aber viel weiter verstanden. Sie bringt dann lediglich Merkschwierigkeiten, mitunter wohl auch nur den Wunsch nach einem besseren Merkvermögen, zum Ausdruck. Nur ergänzend sei angemerkt, dass auch Einrichtungen des Gesundheitswesens den Begriff eines sich Nichts-Merken-Könnens im Sinne des angesprochenen Alltagssprachgebrauchs verwenden (vgl. etwa https://www.klinikum-nuernberg.de/DE/ueber_uns/Fachabteilungen_KN/zentren/Altersmedizin/leistungen/symptome/
index.html; https://www.studierendenberatung.at/persoenliche-probleme/depression/was-ist-eine-depression/). Verstanden im Sinne des alltäglichen Sprachgebrauchs wird die Frage natürlich von vielen Probanden zu bejahen sein.

 

Auch sonst lassen viele Fragen offen, ob sie im buchstäblichen oder in einem eher bildlichen Sinne zu verstehen sein sollen. So bleibt etwa unklar, wie genau die Frage nach der „schweren Zunge“ (aufgrund derer der Proband an manchen Tagen „kaum sprechen“ kann, Frage 34) zu verstehen sein soll. Es bleibt letztlich offen, inwieweit die Frage auf Änderungen im physikalischen Gewicht der Zunge und/oder auf eine unzureichende phonetische Aussprachequalität abzielen soll.

 

Die Frage Nr. 78 („Manchmal meine ich zu sehen, dass sich die Dinge bewegen, obwohl das nicht sein kann“) kann jedenfalls naheliegenderweise darauf bezogen werden, ob optische Täuschungen in dem angesprochenen Sinn (etwa wenn in der Dunkelheit zwei Züge mit beleuchteten Abteilen nebeneinanderstehen, so dass beim Anfahren des benachbarten Zuges bei den Insassen des anderen Zuges zunächst der unzutreffende Eindruck entstehen kann, dass sich der eigene Zug bewege) in Betracht kommen. Welchen Zusammenhang entsprechende Kenntnisse des Probanden in Bezug auf optische Täuschungen mit Beschwerden im Allgemeinen und „Pseudobeschwerden“ im Besonderen und daran anknüpfend auf die „Authentizität“ ihrer Äußerungen haben sollen, bleibt allerdings unklar.

 

Die durchgreifenden Unklarheiten bei der genauen Erfassung des Inhalts vieler Fragen des SRSI-Testbogens werden noch dadurch vermehrt, dass die Testteilnehmer in den vorausgeschalteten Erläuterungen darüber belehrt werden, dass bei allen Fragen das Antwortfeld „richtig“ auch dann anzukreuzen ist, wenn die jeweils abgefragte Aussage nicht vollständig, aber doch „eher zutrifft“. Entsprechend soll das Feld „falsch“ angekreuzt werden, wenn eine Aussage auch nur „eher nicht zutrifft“. Mit diesen Erläuterungen wird bezüglich vieler Fragen eine ganze Bandbreite unterschiedlicher Interpretationsmöglichkeiten eröffnet.

 

So lassen sich ganz unterschiedliche Einschätzung dazu vertreten, ob die Aussage Nr. 38 „An manchen Tagen bin ich so traurig, dass ich am ganzen Körper zittere“ zwar nicht ganz, aber doch noch „eher zutrifft“, wenn der Betroffene an „manchen Tagen“ sehr traurig ist und sich dabei (sehr) unwohl fühlt. Entsprechendes gilt etwa für Frage Nr. 72 („Auf einer Skala von 0 [schmerzfrei] bis 10 [maximale Schmerzen] sind meine Schmerzen nahezu ständig bei 10.“): Ist diese Aussage „eher zutreffend“ oder „eher unzutreffend“, wenn nach Einschätzung des Probanden die Schmerzen zwar nicht „nahezu ständig“ (ein Begriff, der seinerseits schon unterschiedliche Verständnismöglichkeiten eröffnet), aber doch jedenfalls häufig bei 10 liegen? Oder wenn nach seinem Dafürhalten die Schmerzen „nahezu ständig“ den (immer noch sehr hohen Wert) von 8 bis 9 erreichen?

 

Es macht jedoch schon im Ausgangspunkt keinen Sinn, aus der formalen Bejahung einer Frage Rückschlüsse auf eine „Authentizität“ von Äußerungen ziehen zu wollen, wenn die Frage schon ihrem Wortlaut nach insbesondere auch in Abhängigkeit vom Sprach- und Begriffsverständnis des Probanden sehr unterschiedliche Inhalte aufweisen kann. Die Testvorgaben sehen gleichwohl keine Erfassung des individuellen Begriffsverständnisses und seine Einbeziehung in die Testauswertung vor. Es wird einfach nur formal numerisch erfasst, bei wie vielen Fragen einerseits aus dem Bereich „potenziell genuiner Beschwerden“ und andererseits aus dem Bereich der sog. „Pseudobeschwerden“ das Antwortfeld „richtig“ angekreuzt wird.

 

Zudem ist bei vielen Fragen die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass der Proband auch aufgrund eingeschränkter intellektueller Fähigkeiten den genauen Frageinhalt nur unzulänglich erfasst. Dies wird regelmäßig auch zu ungenauen Antworten führen, ohne dass sich daraus nachvollziehbare Rückschlüsse auf eine „Authentizität“ der Beschwerdeschilderung ziehen lassen.

 

Von dieser Problematik sind viele Probanden betroffen. Die von der OECD veranlassten Untersuchungen zur Abklärung der sog. Lesekompetenz, welche insbesondere auch im Sinne der Fähigkeit, Texte zu verstehen, zu nutzen und zu bewerten verstanden wird, haben einen beträchtlichen Anteil von Menschen mit erheblichen Einschränkungen in diesem Bereich ergeben (vgl. nur beispielsweise: https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/PresseUndAktuelles/2019/Zusammenfassung_PISA2018.pdf). Auf dieser Basis müssen bei den Betroffenen natürlich auch besondere Schwierigkeiten bei der inhaltlich genauen Erfassung des Frageninhalts bei komplexen Testfragebögen in Betracht gezogen werden. Nicht ganz unbezeichnend hat die Sachverständige auch dem Kläger des vorliegenden Verfahrens in ihrem Gutachten eine „eher einfache kognitive Strukturierung“ bescheinigt.

 

Entsprechenden Schwierigkeiten muss durch eine einfache Strukturierung und eine besonders gute Verständlichkeit der an die Betroffenen zu richtenden Fragen Rechnung getragen werden. Sie können aber schon im gedanklichen Ausgangspunkt keine Rückschlüsse auf eine fehlende „Authentizität“ ihrer Schilderungen im Allgemeinen gestatten.

 

(8) Die aufgezeigten durchgreifenden Mängel hinsichtlich der inneren Schlüssigkeit des Testverfahrens bewirken, dass seine Anwendung eine Erfassung des zutreffenden Sachverhalts nicht fördert, sondern gefährdet. Damit ist in gerichtlichen Verfahren nicht brauchbar. Die Gerichte haben den Auftrag, die maßgeblichen Rechtsfragen anhand eines – im Rahmen der begrenzten menschlichen Erkenntnismöglichkeiten – zutreffend ermittelten Sachverhalts zu beantworten.

 

(9) Darüber hinaus werden mit dem Testverfahren auch grundlegende prozessuale Rechte des betroffenen Prozessbeteiligten missachtet.

 

(a) Nach dem allgemeinen verfassungsrechtlichen Prozessgrundrecht auf ein faires Verfahren, welches auf Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 20 Abs. 3 GG und auf Art. 19 Abs. 4 GG sowie auf Art. 6 Abs. 1 S 1 EMRK beruht, darf das Gericht insbesondere aus eigenen oder ihm zuzurechnenden Fehlern oder Versäumnissen keine Verfahrensnachteile ableiten; es ist allgemein zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation verpflichtet (BVerfG Beschlüsse vom 8.10.1974 - 2 BvR 747/73 - BVerfGE 38, 105, 111 ff, vom 10.6.1975 - 2 BvR 1074/74 - BVerfGE 40, 95, 98 f und vom 19.10.1977 - 2 BvR 462/77 - BVerfGE 46, 202, 210; BVerfG, Beschluss vom 4. Mai 2004 – 1 BvR 1892/03 –, BVerfGE 110, 339).

 

Dieser Ansatz beinhaltet zugleich die Verpflichtung, dass die Gerichte – und entsprechend auch die von ihnen als sog. Gehilfen des Gerichts (BGH, Urteil vom 23. September 2020 – IV ZR 88/19 –, Rn. 15, NJW-RR 2020, 1425) herangezogenen Sachverständigen – sich schon vorbeugend um die Vermeidung von Fehlern und Versäumnissen bemühen. Dies beinhaltet auch die Verpflichtung, sich um eine hinreichend klare dem Empfängerhorizont Rechnung tragende Fassung von Fragen zu bemühen. Insbesondere soweit nach der Struktur der Befragung keine Möglichkeiten besteht, sich Rat von anderen Personen einzuholen, muss namentlich bei komplexeren Fragestellungen sichergestellt sein, dass der Proband nach seinem individuellen intellektuellen Leistungsvermögen zu einer genauen Erfassung des Frageinhalts in der Lage ist.

 

Das Gebot eines fairen Verfahrens beinhaltet auch die Verpflichtung, den Beteiligten Gelegenheit zu geben, um eine Präzisierung von aus ihrer Sicht nicht hinreichend verständlichen oder unklaren Fragestellungen nachzusuchen. Soweit die Fragen nur durch Ankreuzen vorgegebener Antwortvarianten beantwortet werden sollen, muss sichergestellt sein, dass diese die ganze Bandbreite der nach der jeweiligen Fragestellung in Betracht kommenden Antworten erfassen. Insbesondere muss namentlich bei interpretationsbedürftigen Fragen auch eine Antwortmöglichkeit eröffnet werden, dass kein eindeutiges Ergebnis aus Sicht des Probanden festzustellen sei.

 

Des Weiteren gebietet auch das Gebot eines fairen Verfahrens, dass im Rahmen des Möglichen Fehler durch Übermüdung und vorzeitige Erschöpfung vermieden werden. Zu vermeiden ist namentlich auch, dass durch eine zeitlich dichte Aufeinanderfolge einer Vielzahl ihrerseits überwiegend schwierig zu erfassender ganz unterschiedliche Gegenstände betreffender Fragen die Probanden im Ergebnis auch nur partiell den Überblick verlieren und in ihren Fähigkeiten zur sachgerechten Erfassung und Beantwortung der Fragen beeinträchtigt werden.

 

Die Ausgestaltung des SRSI-Testverfahrens lässt schon keine Ausrichtung an den dargelegten Anforderungen erkennen.

 

(b) Der im Grundgesetz verankerte Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs ist eine Folgerung aus dem Rechtsstaatsgedanken für das Gebiet des gerichtlichen Verfahrens. Der Einzelne soll nicht bloßes Objekt des gerichtlichen Verfahrens sein, sondern er soll vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Worte kommen, um Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können. Art. 103 Abs. 1 GG garantiert den Beteiligten an einem gerichtlichen Verfahren daher, dass sie Gelegenheit erhalten, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt vor Erlass der Entscheidung zu äußern. An einer solchen Gelegenheit fehlt es nicht erst dann, wenn ein Beteiligter gar nicht zu Wort gekommen ist oder wenn das Gericht seiner Entscheidung Tatsachen zugrunde legt, zu denen die Beteiligten nicht Stellung nehmen konnten. Eine dem verfassungsrechtlichen Anspruch genügende Gewährung rechtlichen Gehörs setzt auch voraus, dass der Verfahrensbeteiligte bei Anwendung der von ihm zu verlangenden Sorgfalt zu erkennen vermag, auf welchen Tatsachenvortrag es für die Entscheidung ankommen kann (vgl. zum Vorstehenden: BVerfG, Beschluss vom 29. Mai 1991 – 1 BvR 1383/90 –, BVerfGE 84, 188, Rn. 7, mwN).

 

Insbesondere müssen auch Schlussfolgerungen von Sachverständigen nach Möglichkeit für alle Verfahrensbeteiligten nachvollziehbar dargestellt werden; es ist dem Erfordernis der Nachvollziehbarkeit und Transparenz der Begutachtung Rechnung zu tragen (BGH, U.v. 30. Juli 1999 – 1 StR 618/98 –, BGHSt 45, 164, Rn. 46f.).

 

Der Fragenkatalog des SRSI-Tests ist aber (soweit sich dies dem Senat erschließt: durchaus zielgerichtet) so umfangreich mit vielfach nur schwer fassbaren Fragen ausgestaltet worden, dass die Probanden, welche bei Sachverständigengutachten in sozialgerichtlichen Verfahren in aller Regel zugleich auch Verfahrensbeteiligte sind, keine Möglichkeit zur Einschätzung der Relevanz ihrer Antworten verbleibt. Auch im Zuge der Testauswertung wird ihnen (und letztlich auch den Gerichten) kein nachvollziehbarer Überblick ermöglicht, aus welchen inhaltlichen Gründen welche Antworten Rückschlüsse auf das Vorliegen oder Fehlen einer „authentischen“ Schilderungen ermöglichen sollen.

 

3. Die mangelnde Verwertbarkeit der durchgeführten SRSI-Testung hat zur Folge, dass die Würdigung des klägerischen Begehrens unabhängig von ihren Ergebnissen zu erfolgen hat. Dementsprechend hat der Senat an die Sachverständige auch die Frage gerichtet, ob sie bei Hinwegdenken der Testergebnisse zu einer anderweitigen Beurteilung gelangen würde. Diese Frage hat die Sachverständige in ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 26. August 2022 und im Rahmen ihrer ergänzenden Anhörung in der mündlichen Verhandlung einleuchtend verneint.

 

Die Sachverständige hat im Ergebnis überzeugend dargelegt, dass sie nach dem Ergebnis der Untersuchung des Klägers und nach Auswertung des Akteninhalts keine Anhaltspunkte für ein in psychiatrischer Hinsicht eingeschränktes Leistungsvermögen des Klägers und insbesondere auch nicht für eine chronische ins Gewicht fallende Depression zu erkennen vermöge. Sie hat einleuchtend erläutert, dass sich weder den Angaben des Klägers im Rahmen der von ihr durchgeführten Begutachtung noch dem sonstigen Akteninhalt hinreichende Anhaltspunkte für eine dauerhafte Antriebsminderung namentlich im Sinne einer Adynamie oder für dauerhafte ins Gewicht fallende Rückzugstendenzen ausmachen lassen.

 

Bezeichnenderweise habe der Kläger selbst geschildert, dass er eine ihrerseits pflegebedürftige Person in ihrer psychischen Erkrankung zu unterstützen vermöge. Er fahre Auto, er könne Bastelarbeiten vornehmen, auch weise er eine geordnete Tagestruktur auf. Bei dieser Ausgangslage, so hat die Sachverständige überzeugend festgehalten, ist nichts für eine relevante depressive dauerhafte Erkrankung festzustellen.

 

Auch wenn der Kläger eine belastende Kindheit durchlebt habe und ihn der Suizid seiner Ehefrau hart getroffen habe, so seien doch im Ergebnis auch angesichts der bei ihm festzustellenden gewichtigen Resilienzfaktoren keine dauerhaften relevanten Leistungseinschränkungen festzustellen. Auf dieser Basis hat die Sachverständige überzeugend dargelegt, dass aus psychiatrischer Sicht keine qualitativen oder quantitativen Einschränkungen des beruflichen Leistungsvermögens festzustellen sind.

 

Diese Beurteilung beruht nicht auf den Ergebnissen der SRSI-Testung. Schon vor dem Test war der Sachverständigen zutreffend gewahr geworden, dass der Vortrag des Klägers (wie dies bei komplexeren Sachverhalten ohnehin sehr häufig festzustellen ist) auch Widersprüche und Ungereimtheiten aufwies. Zu weitergehenden Erkenntnissen hat auch die SRSI-Testung im Ergebnis aus Sicht der Sachverständigen nicht geführt.

 

In ihrem schriftlichen Gutachten hat die Sachverständige zwar angesichts der Ergebnisse der SRSI-Testung noch festgehalten, dass substantielle Zweifel an der Gültigkeit der gelieferten Beschwerdeschilderung bestünden und von einem unauthentischen Antwortverhalten auszugehen sei; von diesem Ansatz hat sie sich aber im Ergebnis aber weder im Rahmen der schriftlichen Begutachtung noch bei der ergänzenden mündlichen Befragung richtungweisend leiten lassen. Ihre gutachterliche Bewertung knüpft einleuchtend maßgeblich auch an den aus ihrer Sicht und auch nach Auffassung des Senates glaubhaften Schilderungen des Klägers namentlich zur Ausgestaltung der Lebensführung an.

 

Die Sachverständige hat – auch insoweit einleuchtend – einzelne Widersprüche in den Angaben des Klägers (außerhalb des nicht verwertbaren SRSI-Fragebogens) aufgezeigt; zentrale Teile des klägerischen Vortrages hat sie aber überzeugend als zutreffend angesehen. Es ist durchaus bezeichnend, dass das SRSI-Testverfahren und seine schablonenhafte Auswertung im vorliegenden Fall zu keinen richtungweisenden Erkenntnissen geführt hat.

 

Die vorstehend angesprochenen grundlegenden Mängel des Testverfahrens waren der Sachverständigen bei der Durchführung als solche nicht bewusst. Auch andere Sachverständige setzen dieses oder ähnlich strukturierte Testverfahren ein. Auch soweit die Testanwendung im Ergebnis letztlich zu beanstanden ist, lässt diese als solches bei der angesprochenen Ausgangslage keine Rückschlüsse auf eine unsachliche Grundeinstellung der Sachverständigen zu. Dafür ist auch von Seiten des Bevollmächtigten des Klägers nichts aufgezeigt worden. Dieser hat auch im Übrigen unter Einbeziehung insbesondere der mündlichen Erläuterungen des Gutachtens in der Verhandlung keinen Anlass gesehen, Zweifel an der Fachkunde der Sachverständigen geltend zu machen.

 

Ohnehin deckt sich die von der Sachverständigen vertretene Beurteilung des psychiatrischen Gesundheitszustandes des Klägers in den wesentlichen Punkten mit der Einschätzung des zuvor im SB-Verfahren gehörten Sachverständigen Dr. K.. Auch dieser vermochte keine schwerer wiegenden psychiatrischen Erkrankungen zu diagnostizieren, sondern hat lediglich die Diagnose rezidivierender depressiv-getönter Verstimmungszustände im Sinne einer Dysthymie vor dem Hintergrund fortbestehend belastender körperlicher Gesundheitsprobleme und einer unbefriedigenden sozialen Lebenssituation gestellt. Diese Beeinträchtigungen sind aus seiner Sicht lediglich mit einem sog. Einzel-GdB von 20 vH zu bewerten. Darin kommt ebenfalls zum Ausdruck, dass damit keine gewichtigen Auswirkungen auf das Leistungsvermögen verbunden sind.

 

Rentenrechtlich kommt es ohnehin nicht ausschlaggebend auf eine Diagnosestellung oder Bezeichnung von Befunden an; vielmehr ist im Rahmen des § 43 SGB VI die negative Beeinflussung des individuellen Leistungsvermögens durch dauerhafte Gesundheitsstörungen zu prüfen (BSG, Beschluss vom 23. Juni 2020 – B 5 R 66/20 B –, Rn. 5, juris).

 

Soweit der behandelnde Nervenarzt Dr. M. abweichend von den erläuterten Einschätzungen der Sachverständigen Dres. N. und K. zu der Annahme einer schweren depressiven Erkrankung gelangt ist, vermag ihm der Senat nicht zu folgen. Seine Einschätzung gibt dem Senat keinen Anlass die vorstehend erläuterten Beurteilungen der Sachverständigen in Zweifel zu ziehen.

 

Der behandelnde 77 Jahre alte Nervenarzt Dr. M. (vgl. insbesondere seinen Befundbericht vom 13. Dezember 2021, Bl. 124 GA, und seine schriftliche Zeugenaussage vom 13. Juni 2022 (Bl. 148 GA) ist ausweislich seiner Darlegungen im Rahmen seiner Zeugenaussage inzwischen nur noch als ärztlicher Psychotherapeut, nicht aber mehr als Psychiater beruflich tätig, wobei eine anderweitige laufende kurative Behandlung bei einem praktizierenden Facharzt für Psychiatrie auch auf Nachfrage des Senates von Seiten des Klägers nicht substantiiert aufgezeigt worden ist.

 

Bei der Bewertung der Zeugenaussage von Dr. M. fällt zunächst auf, dass wesentliche Fragen des Vernehmungsschreibens nicht beantwortet worden sind (wobei er in seiner schriftlichen Aussage zugleich darauf hingewiesen hat, dass er auch bei einer mündlichen Vernehmung keine weitergehenden Angaben machen könne). So hat der Zeuge auf die Frage, welche Befunde er an welchen Tagen im Zeitraum seit Januar 2021 erhoben habe, sich auf die Formulierung „Familienstreitigkeiten“ zurückgezogen. Diese Äußerung bringt als solche ohnehin keinen ärztlichen Befund zum Ausdruck. Erst recht ist keine detaillierte Befunderhebung erkennbar, die etwa Rückschlüsse auf den Verlauf der Beeinträchtigungen im Zeitraum Januar 2021 bis Juni 2022 zulassen könnte.

 

Auf die Frage, ob die Schwere des (psychischen) Krankheitsbildes Anlass zu einer stationären Einweisung gegeben habe, hat der Zeuge geltend gemacht, dass die „Rehabilitation-Maßnahme“ in J. ohne wesentliche Besserung verlaufen sei; damit hat er sich nach dem Zusammenhang auf die o.g. Anschlussheilbehandlung bezogen, welche in der Klinik für Orthopädische Rehabilitation in J. vom 24. Juli bis 14. August 2017 stattgefunden hat (und damit schon im Ausgangspunkt gar nicht das Ziel einer ernsthaften Aufarbeitung psychischer Beeinträchtigungen verfolgen konnte).

 

Bei dieser Ausgangslage ist letztlich nicht mehr erkennbar, dass die Behandlung durch Dr. M. den üblichen medizinwissenschaftlichen Standards namentlich hinsichtlich der gebotenen Genauigkeit der Befunderhebungen und ihrer Überprüfung auf mögliche Veränderungen im weiteren Behandlungsverlauf zu genügen vermag. Bezeichnenderweise stellt Dr. M. auf „Zerwürfnisse“ des Klägers „mit den Töchtern“ (vgl. seine Zeugenaussage) ab, obwohl ausweislich der eigenen Angaben des Klägers bei der Sachverständigen Dr. N. allenfalls von einem Zerwürfnis mit der älteren Tochter gesprochen werden kann, wohingegen er zu seinen beiden jüngeren Töchtern regelmäßig Kontakt hat (vgl. auch die Angabe des Klägers gegenüber dem Sachverständigen Dr. K., Bl. 40 GA, wonach er zu allen drei Töchtern ein „gutes Verhältnis“ habe). Damit unvereinbar ist wiederum die Angabe des Zeugen Dr. M. in seinem Befundbericht vom 13. Dezember 2021, wonach der Kläger „sozial völlig isoliert“ sei. Bezeichnenderweise hat auch der Kläger selbst im Schriftsatz vom 19. November 2021 (Bl. 107 GA) davon berichtet, dass er eine mittlerweile mehrjährige Freundschaft mit einer Frau (welche im Schriftsatz vom 29. Oktober 2021 von ihm auch als „Partnerin“ bezeichnet worden ist) pflege. Man helfe sich durch zahlreiche (auch telefonische) Gespräche. Mehrmals monatlich gebe es gegenseitige Besuche. Zeitweilig habe er sich der Kläger auch länger bei dieser Freundin aufhalten müssen, um ihr in psychischen Krisensituationen beizustehen. All dies macht deutlich, dass von einer „völligen sozialen Isolierung“ des Klägers nicht einmal ansatzweise gesprochen werden kann.

 

Angesichts der aufgezeigten Mängel weist die in den Befundberichten zum Ausdruck gebrachte Bewertung des Krankheitsbildes durch Dr. M. namentlich hinsichtlich der Annahme „schwerer depressiver Symptome“ (vgl. Befundbericht vom 13. Dezember 2021) keine Überzeugungskraft auf (wobei die Zeugenaussage vom 13. Juni 2022 eine entsprechende Schwere ohnehin nicht mehr zum Ausdruck bringt). Auch für die im Befundbericht vom 13. Dezember 2021 angeführte Einschätzung, dass sich der Gesundheitszustand „sehr viel schlechter“ als vor zwei Jahren darstelle, vermochte der Zeuge auf entsprechendes Befragen in seiner schriftlichen Aussage keine konkreten Befunde vorzutragen.

 

4. Auch im Übrigen sind keine gesundheitlichen Beeinträchtigungen beim Kläger zu objektivieren, aufgrund derer er dauerhaft an einer zumindest arbeitstäglich sechsstündigen Ausübung insbesondere körperlich leichter Tätigkeiten gehindert sein könnte.

 

(1) Bei dem Kläger erfolgte am 15. Juni 2017 eine Fusion des Wirbelsäulensegmentes L5/S1 mit einem Capestone-Cage; bei der nachfolgenden Anschlussheilbehandlung in der Klinik für Orthopädische Rehabilitation in J. vom 24. Juli bis 14. August 2017 wurde ein fortbestehendes sechs- und mehrstündiges Leistungsvermögen für leichte bis mittelschwere Tätigkeiten festgehalten. Damit korrespondiert im Ergebnis die Einschätzung der im SB-Verfahren gehörten chirurgischen Sachverständigen Dr. L. (vgl. ihr Gutachten vom 4. September 2020, Bl. 48 ff. GA), wonach im Bereich der Lendenwirbelsäule – mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewertende – mittelgradige funktionelle Auswirkungen verblieben sind.

 

Nur ergänzend sei angemerkt, dass sich nach Einschätzung von Dr. L. das Beschwerdebild im Bereich des Rückens durch konsequentes Muskelaufbautraining (wie dieses auch im Entlassungsbericht der Rehabilitationsklinik bereits nachdrücklich empfohlen worden war) positiv beeinflussen ließe.

 

Der behandelnde Orthopäde Dr. O. weist in seinem Befundbericht vom 8. Februar 2022 (Bl. 131 GA) überdies darauf hin, dass der Kläger auf die Beschwerdesymptomatik im Bereich der LWS bei seiner letzten Vorstellung nicht mehr hingewiesen habe. Angemerkt sei, dass zwischen der letzten Vorstellung bei diesen Orthopäden im November 2021 und der vorausgegangenen Untersuchung im März 2020 rund 1,5 Jahre lagen (vgl. im Übrigen ergänzend den Hinweis in dem Befundbericht, wonach sich der Befund im linken Kniegelenk objektiv gebessert habe).

 

(2) Bezüglich der Gichtproblematik hat der Kläger beispielsweise dem Sachverständigen Dr. K. erläutert, dass er „alle vier Wochen“ Gichtanfälle „überall am ganzen Körper“ habe (vgl. S. 4 des Gutachtens = Bl. 38 R GA). Die Beklagte hat bereits im Schriftsatz vom 16. März 2021 (Bl. 58 GA) darauf hingewiesen, dass Gichterkrankungen „heutzutage völlig unkompliziert“ medikamentös zu behandeln seien.

 

Rentenrechtlich sind nach § 43 SGB VI nur dauerhafte (sich also über jedenfalls sechs Monate erstreckende) gesundheitliche Beeinträchtigungen relevant. Bei schubweise auftretenden Erkrankungen bedarf es daher einer verlässlichen Abklärung, in welcher Häufigkeit und Intensität entsprechende Schübe auftreten. Gutachterliche Momentaufnahmen – wie etwa die Befunderhebung durch die Sachverständige Dr. L. – geben für sich allein diesbezüglich regelmäßig keine hinreichenden Aufschlüsse. Maßgeblich ist vielmehr in erster Linie eine verlässliche und aussagekräftige Dokumentation der kurativen Befunderhebungen und Behandlungsmaßnahmen durch die behandelnden Ärzte.

 

Eine entsprechende Dokumentation kann im vorliegenden Zusammenhang jedoch schon deshalb nicht herangezogen werden, weil sich der Kläger offenbar überhaupt nicht in einer ernsthaften kontinuierlichen Behandlung wegen mitunter zeitweilig auftretender Gichtbeschwerden befindet.

 

Schon Dr. L. hat in ihrem Gutachten auf die fehlende oder jedenfalls nur unzureichende Behandlung der Gichterkrankung hingewiesen.

 

Im Schriftsatz vom 19. November 2021 hat der Kläger mitgeteilt, dass der Orthopäde Dr. O. seine Gichterkrankung behandele (Bl. 106 GA). Der o.g. Befundbericht dieses Orthopäden (Bl. 131) GA lässt eine entsprechende Behandlung aber gar nicht erkennen; es findet sich dort nicht einmal die Diagnose einer Gichterkrankung (wobei auf die ca. 1,5jährige Pause in den dortigen Konsultationen bereits hingewiesen worden ist).

 

Ob er überhaupt seinen Hausarzt in den vorausgegangenen zwölf Monaten aufgesucht hatte, vermochte der Kläger ausweislich der Darlegungen im Schriftsatz vom 19. November 2021 (Bl. 106 GA) nicht mehr zu erinnern.

 

Auch bei der Befragung durch die Sachverständige Dr. N. nach den Behandlungsmaßnahmen (vgl. S. 7 ihres Gutachtens = Bl. 176 GA) waren dem Kläger keine aktuellen Maßnahmen zur Gichtbehandlung erinnerlich. Er wusste nur, dass er „als medikamentöse Therapie“ Tabletten zur Blutdrucksenkung erhalte; bei Schmerzen nehme er Ibuprofen 600mg.

 

Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass der Kläger bei der Begutachtung durch Dr. N. auf die Frage nach seinen gesundheitlichen Beeinträchtigungen Beschwerden im Sinne einer Gichterkrankung zunächst gar nicht benannt hat. Erst auf nachfolgende ausdrückliche Nachfrage der Sachverständigen hat er geltend gemacht, dass eine Gichterkrankung mit erheblichen Einschränkungen und Schmerzbelastungen verbunden sei. Ein „Medikament gegen Harnsäure“ habe er allerdings aufgrund von Übelkeit wieder abgesetzt. Zu konkreten Angaben, wann eine entsprechende morgendliche Übelkeit aufgetreten sein soll, bei welchem Arzt er sich wegen ihrer in Behandlung befunden hat und welche Ärzte er nachfolgend hinsichtlich einer adäquaten Behandlung der Gichtproblematik mit welchen Ergebnissen konsultiert haben will, sah sich der Kläger allerdings weder bei der Begutachtung noch in der Folgezeit in der Lage.

 

Bei dieser Ausgangslage fehlt es bereits an hinreichend verlässlichen Befunderhebungen, um auf der Basis eines konkreten Behandlungsverlaufs die rentenrechtliche Relevanz einer Gichterkrankung durch einen Sachverständigen näher beurteilen lassen zu können, die sog. materielle Beweislast trägt der Versicherte.

 

Das beschriebene Verhalten des Klägers lässt im Ergebnis nur den Rückschluss zu, dass er selbst keine fortdauernden relevanten gesundheitlichen Auswirkungen einer Gichterkrankung verspürt. Dem Gutachten von Dr. L. ist zwar zu entnehmen, dass der Kläger im Zeitpunkt der damaligen Begutachtung an einem vorübergehenden Schub einer Gichterkrankung gelitten hat, offenbar hat sich dieser aber so zeitnah nach einigen Wochen zurückgebildet, dass der Kläger sich nicht mehr zu einer kontinuierlichen Behandlung insbesondere in Form einer vorbeugenden medikamentösen Behandlung motivieren konnte (auch wenn eine solche kurativ zur Vermeidung des Risikos künftiger Verschlechterungen nach Aktenlage dringend indiziert ist).

 

Anhaltspunkte für eine anderweitige Einschätzung vermochte auch der Bevollmächtigte des Klägers nicht aufzuzeigen.

 

(3) Bezüglich der Inkontinenzproblematik hat der Kläger bei der Begutachtung durch Dr. K. erläutert, dass er immer Vorlagen tragen müsse und eine Toilette in erreichbarer Nähe benötige (vgl. S. 3 des Gutachtens = Bl. 38 GA). Es ist bislang nicht erkennbar, weshalb der Kläger unter diesem Gesichtspunkt an der Ausübung körperlich leichter beruflicher Tätigkeiten gehindert sein soll. Ein erforderlicher Gebrauch sog. Vorlagen ist rentenrechtlich ohne Weiteres zumutbar. Selbstverständlich sind stationäre Arbeitsstätten auch mit Toiletten ausgestattet.

 

Bezeichnenderweise bestehen die Inkontinenzprobleme seit der Operation des Prostatakarzinoms im Jahr 2013 (vgl. in diesem Sinne auch die Angaben des Klägers bei der Begutachtung durch Dr. N., Bl. 174 GA). In den folgenden Jahren vermochte der Kläger jedoch durchaus noch am Erwerbsleben teilzunehmen. Dem von ihm in diesem Zusammenhang bei der Begutachtung durch Dr. N. angeführten Umstand einer zwischenzeitlichen Erreichung des 59. Lebensjahr kommt in diesem Zusammenhang keine ausschlaggebende Bedeutung zu.

 

Auch wenn der Versicherte seinen bisherigen Beruf nicht mehr, dafür aber jedenfalls täglich sechsstündig körperlich leichte Tätigkeiten, wenn auch nur mit bestimmten Einschränkungen, ausüben kann, ist im Rahmen der Prüfung eines Rentenanspruchs aus § 43 SGB VI die konkrete Benennung zumindest einer Verweisungstätigkeit nur dann erforderlich, wenn eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorliegt. Beispiele, welche Einschränkungen jedenfalls nicht zu einer konkreten Benennung veranlassen sollen, stellen insbesondere der Ausschluss von Tätigkeiten, die überwiegendes Stehen oder ständiges Sitzen erfordern, in Nässe oder Kälte zu leisten sind, besondere Fingerfertigkeiten erfordern oder mit besonderen Unfallgefahren verbunden sind, der Ausschluss von Arbeiten im Akkord, im Schichtdienst, an laufenden Maschinen, der Ausschluss von Tätigkeiten, die besondere Anforderungen an das Seh-, Hör- oder Konzentrationsvermögen stellen, und der Ausschluss von Tätigkeiten, die häufiges Bücken erfordern, dar (vgl. BSG, B.v. 19. Juni 1996 - GS 2/95 - BSGE 80, 24 und Urteil vom 11. Dezember 2019 – B 13 R 7/18 R).

 

Soweit im jeweils zu prüfenden Einzelfall weder eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen noch eine schwere spezifische Leistungsbehinderung festzustellen ist, hat sich hingegen die rentenrechtliche Beurteilung an dem Grundsatz des offenen Arbeitsmarktes auszurichten. Versicherte, die nur noch körperlich leichte und geistig einfache Tätigkeiten – ggfs. unter weiteren gesundheitlichen Einschränkungen - wenigstens sechs Stunden täglich verrichten können, sind regelmäßig in der Lage, "erwerbstätig zu sein" (BSG, U. v. 11. Dezember 2019 – B 13 R 7/18 R –, BSGE 129, 274, Rn. 26). Auch unter Berücksichtigung der Digitalisierung und der weiteren jüngsten wirtschaftlichen Entwicklungen ist bislang ein außergewöhnlicher Rückgang von Einfacharbeit wegen technischer Substitution noch nicht zu verzeichnen (BSG, U.v. 11. Dezember 2019, aaO, Rn. 27).

 

Nach Maßgabe dieser Grundsätze bedarf es im vorliegenden Fall nicht der Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit. Es sind insbesondere keine Hindernisse erkennbar, die einer zumindest täglich sechsstündigen Ausübung einer körperlich leichten Tätigkeit, namentlich als Pförtner, Telefonist, Sortierer von Kleinteilen, Spielhallenaufsicht oder Bürohilfskraft, entgegenstehen könnten. Ebenso wenig sind gehäufte Arbeitsunfähigkeitszeiten zu erwarten.

 

5. Zur Erwerbsfähigkeit gehört auch die Fähigkeit, eine Arbeitsstätte aufzusuchen; denn die Beschäftigung als Arbeitnehmer gegen Entgelt wird im Allgemeinen in Betriebsstätten außerhalb der Wohnung des Arbeitnehmers verrichtet. Vor diesem Hintergrund hat das BSG aufgrund allgemeiner Erfahrungen generell eine Fähigkeit des Versicherten für erforderlich gehalten, Entfernungen von über 500 Metern zu Fuß zurückzulegen; es ist davon ausgegangen, dass derartige Wegstrecken üblicherweise erforderlich sind, um Arbeitsstellen oder Haltestellen eines öffentlichen Verkehrsmittels zu erreichen. Dem Charakter von Normstrecken entsprechend sind in diesem Zusammenhang besondere Beschaffenheiten eines konkreten Weges (insbesondere Unebenheiten, Steigungen, Glatteis) ohne Belang. Im Normalfall ist ferner davon auszugehen, dass ein Versicherter für die Wege zum Arbeitsplatz öffentliche Verkehrsmittel benutzen muss. Er muss dann regelmäßig auch Fußwege zurücklegen, um von zu Hause das Verkehrsmittel sowie vom Verkehrsmittel aus den Arbeitsplatz zu erreichen. Jeweils entsprechende Strecken sind auf dem Heimweg zu bewältigen, so dass die Gehfähigkeit des Versicherten insofern viermal am Tage gefordert wird (BSG, U.v. 17. Dezember 1991 - 13/5 RJ 73/90 - SozR 3-2200 § 1247 Nr 10).

 

Auch bezüglich dieser rentenrechtlichen Wegefähigkeit sind nach dem Ergebnis des Berufungsverfahrens keine Einschränkungen erkennbar. Im Übrigen verfügt der Kläger, wie er bei der Begutachtung durch Dr. N. erläutert hat, über ein Auto, mit dem er bei Bedarf insbesondere seine Partnerin/Freundin in D. zu besuchen pflegt und mit dem er auch einen Arbeitsplatz erreichen kann.

 

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), sind nicht gegeben.

Rechtskraft
Aus
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