L 4 KR 373/22 B ER

Land
Niedersachsen-Bremen
Sozialgericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Sachgebiet
Krankenversicherung
1. Instanz
SG Hannover (NSB)
Aktenzeichen
S 10 KR 372/22 ER
Datum
2. Instanz
LSG Niedersachsen-Bremen
Aktenzeichen
L 4 KR 373/22 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Hannover vom 27. Juli 2022 aufgehoben.

Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, den Antragsteller unter der Voraussetzung einer vertragsärztlichen Verordnung mit Dekristol 20.000 Weichkapseln zu versorgen.

Die Antragsgegnerin hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers beider Instanzen zu erstatten.

Dem Antragsteller wird Prozesskotenhilfe für das Beschwerdeverfahren unter Beiordnung von Rechtsanwalt H., I., bewilligt. Ratenzahlung wird nicht angeordnet.

 

Gründe
I.

Der Antragsteller begehrt von der Antragsgegnerin die Versorgung mit dem Arzneimittel Dekristol 20.000 Weichkapseln oder alternativ mit einem entsprechenden Präparat (Vitamin D), vorliegend im Wege Einstweiligen Rechtsschutzes.
 

Der im Jahr 1967 geborene Antragsteller ist bei der Antragsgegnerin gesetzlich krankenversichert und leidet seit Jahren unter zahlreichen Erkrankungen, u.a.

  • Zustand nach Nierentransplantation,
  • schwere Albuminausscheidung bei chronischer Nierenerkrankung, Glomerulonephritis
  • als Ursache ein Alport-Syndrom, Erstdiagnose 2000 mit Schwerhörigkeit und genetisch bedingter Nierenzystenveränderung mit Niereninsuffizienz
  • Zustand nach dialysepflichtiger Niereninsuffizienz,
  • Zustand nach allogener Nierentransplantation,
  • renale Hypertonie,
  • sekundärer Hyperparathyreoidismus,
  • Hypercholesterinämie,
  • exogen allergisches Asthma bronchiale,
  • multiple Allergien und Nahrungsmittelallergien,
  • Sigmadivertikulose,
  • Chronic Fatique Syndrom,
  • periphere arterielle Verschlusskrankheit mit embolischem Verschluss 09/2017,
  • Zustand nach multiplen Frakturen,
  • deutlicher Vitamin D-Mangel im Rahmen des Hyperparathyreoidismus mit Störung des Kalzium- und Phosphathaushaltes und des Vitamin DHaushaltes,
  • Hypothyreose,
  • arterieller Hypertonus,
  • Überlappung des Asthma bronchiale mit fixierter Obstruktion COPD GOLD2,
  • schwere Gangstörung mit Rollstuhlabhängigkeitsphasen.

 

Es besteht ein GdB von 100. Der Antragsteller erhält eine teilweise Erwerbsminderungsrente und ergänzend SGB XII-Leistungen.

 

Das Erkrankungsbild des Antragstellers ist progredient. Inzwischen – seit dem 1.12.2021 - ist dem Antragsteller der Pflegegrad 3 zuerkannt, laut dem zugrundeliegenden Pflegegutachten vom 12.6.2022 benötigt der Versicherte nunmehr u.a. eine umfassende und individuelle Beratung bei der Auswahl und Inanspruchnahme von Sozialleistungen, ebenso inzwischen erfolgte die Zuerkennung des Merkzeichens aG, in der Ärztlichen Verordnung des Allgemeinmediziners Dr. J. (K.) vom 17.6.2022 wird ein Leichtkraftrollstuhl rezeptiert, bei Angabe der Diagnosen Osteoporose, Gangstörung, Z.n. Nierentransplantation.

 

Der Antragsteller führt zahlreiche Rechtsstreite – nach eigener Erklärung: im dreistelligen Bereich - wegen der Versorgung mit verschiedenen Arzneimitteln und Behandlungen im Wege Einstweiligen Rechtsschutzes und in Hauptsache-Verfahren. Er macht dabei maßgeblich geltend, mit seiner Grunderkrankung des CFS im System der gKV nicht hinreichend versorgt zu sein.

 

Am 4.6.2022 beantragte der Antragsteller bei der Antragsgegnerin die „weitere kassenärztliche Verschreibung des Medikaments Dekristol 20.000 oder eines gleichartigen Produktes ab Juni 2022 dauerhaft“.

 

Mit Bescheid vom 22.6.2022 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag mit der Begründung ab, dass die Kosten für Dekristol oder ein gleichwertiges Vitamin-D-Präparat nur dann erstattet werden könnten, wenn eine Verordnung auf einem Kassenrezept erfolgt sei, was der behandelnde Arzt anhand der Diagnose entscheide. Der den Antragsteller behandelnde Arzt stelle indes kein Kassenrezept aus. 

 

Bereits zuvor, am 7.6.2022, hat der Antragsteller bei dem Sozialgericht (SG) Hannover Antrag auf Einstweiligen Rechtsschutz gestellt und zur Begründung geltend gemacht, dass er Dekristol bereits seit ca. 20 Jahren durch seinen vorherigen Nephrologen verordnet erhalten habe. Es existiere eine diesbezügliche Therapieempfehlung der L.. Eine Eilbedürftigkeit sei aus medizinischen Gründen gegeben. 

 

Das SG hat eine Auskunft eingeholt bei dem Nephrologen des Antragstellers, Dr. M., der unter dem 26.7.2022 mitteilte, dass er Dekristol 20.000 nur dann auf einem Kassenrezept hätte ausstellen können, wenn eine Niereninsuffizienz (GFR < 40 ml/min) oder eine Osteoporose vorliegen würden.

 

Sodann hat das SG den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit Beschluss vom 27.7.2022 abgelehnt und zur Begründung im Einzelnen ausgeführt:

Der Antrag des Antragstellers auf vorläufigen Rechtsschutz sei vorliegend gem. § 86b Abs. 2 SGG statthaft. Danach könne das Gericht der Hauptsache, soweit ein Fall des § 86b Abs. 1 SGG (Anordnung der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch oder Anfechtungsklage) nicht vorliege, auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr bestehe, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung des Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könne (Satz 1, Sicherungsanordnung); Einstweilige Anordnungen seien auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheine (Satz 2, Regelungsanordnung). Mit der Sicherungsanordnung solle die Rechtsstellung des Antragstellers (vorläufig) gesichert, mit der Regelungsanordnung solle sie (vorläufig) erweitert werden. Voraussetzung sei jeweils die Glaubhaftmachung (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO) eines Anordnungsanspruchs und eines Anordnungsgrunds. Unter dem Anordnungsanspruch sei der materielle Anspruch zu verstehen, den der Antragsteller als Antragsteller im Hauptsache-Verfahren geltend mache. Der Anordnungsgrund bestehe in der Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung müsse gerechtfertigt sein. Daher müssten Gründe vorliegen, aus denen sich ihre besondere Dringlichkeit ergebe.

 

Im vorliegenden Fall des Antragstellers seien weder ein Anordnungsanspruch noch ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.

 

Nach § 31 Abs.1 SGB V hätten Versicherte Anspruch auf Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln, soweit die Arzneimittel nicht nach § 34 oder durch Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 ausgeschlossen seien. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) habe in den Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 festzulegen, in welchen medizinisch notwendigen Fällen Stoffe und Zubereitungen aus Stoffen, die als Medizinprodukte nach § 3 Nr. 1 oder Nr. 2 des Medizinproduktegesetzes zur Anwendung am oder im menschlichen Körper bestimmt seien, ausnahmsweise in die Arzneimittelversorgung einbezogen würden. Der Vertragsarzt könne Arzneimittel, die auf Grund der Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 von der Versorgung ausgeschlossen seien, ausnahmsweise in medizinisch begründeten Einzelfällen mit Begründung verordnen. 

 

Bei den vom Antragsteller begehrten Dekristol 20.000 Weichkapseln handele es sich um ein verschreibungspflichtiges Arzneimittel. Anwendungsgebiet sei ein Vitamin D-Mangel. Zugelassen sei das Arzneimittel zur einmaligen Anwendung bei der Anfangsbehandlung von Vitamin D-Mangelzuständen (https://beipackzetteln.de/dekristol).

 

Vorliegend handele es sich jedoch nicht um eine einmalige Anwendung; der Antragsteller begehre vielmehr die dauerhafte Versorgung mit dem Vitamin D-Präparat.

 

Nach der Anlage I zum Abschnitt F der Arzneimittel-Richtlinie (Gesetzliche Verordnungsausschlüsse in Arzneimittelversorgung und zugelassene Ausnahmen, Zugelassene Ausnahmen zum gesetzlichen Verordnungsausschluss nach § 34 Abs. 1 Satz 2 SGB V) Ziffer 11 seien Vitamin D-Präparate als OTC-Präparate auch zur Behandlung der manifesten Osteoporose verordnungsfähig.

 

Auch diese Voraussetzungen lägen hier nicht vor. Der behandelnde Arzt des Antragstellers habe auf Nachfrage des SG mitgeteilt, dass die Voraussetzungen für eine Verordnungsfähigkeit (Niereninsuffizienz; Osteoporose) beim Antragsteller nicht gegeben seien.

 

Damit fehle es zusammenfassend an einem Anordnungsanspruch.

 

Es fehle aber auch an einem Anordnungsgrund. Trotz der schweren Erkrankungen des Antragstellers sei nichts dafür ersichtlich, dass eine Entscheidung des Hauptsache-Verfahrens nicht abgewartet werden könne. Es seien keinerlei Anhaltspunkte gegeben, dass das Vitamin D-Präparat unbedingt erforderlich sei, damit sich der Gesundheitszustand des Antragstellers nicht verschlechtere. Allein die eigene Einschätzung des Antragstellers dazu genüge nicht.

 

Da die Kammer das Begehren dahingehend auslege, dass der Antragsteller das Arzneimittel auf Dauer begehre, sei die Beschwerde gegen den Beschluss zulässig. 

 

Mit seiner hiergegen am 15.8.2022 bei dem Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen eingelegten Beschwerde macht der Antragsteller ergänzend geltend, dass die Erkrankung einer Osteoporose sehr wohl bei ihm vorliege und dies auch in zahlreichen medizinischen Unterlagen bestätigt werde. Im Übrigen gehöre die Vitamin D-Substitution zum „anerkannten Behandlungskanon der ME/CFS (N., Prof. Dr. O., WHO usw.)“. Die Sache sei auch eilbedürftig, weil der frühere Behandler Prof. Dr. P. das Präparat 20 Jahre lang monatlich verschrieben habe, die Erkrankung des Antragstellers lebensbedrohlich und ein Zuwarten auf eine Hauptsache-Entscheidung in 2 – 6 Jahren unzumutbar sei.

 

Der Antragsteller beantragt sinngemäß,

 

  1. den Beschluss des Sozialgerichts Hannover vom 27. Juli 2022 aufzuheben,

 

  1. die Antragsgegnerin zu verpflichten, die Kosten für eine dauerhafte Versorgung mit dem Arzneimittel Dekristol 20.000 Weichkapseln oder einem gleichwertigen Präparat zu übernehmen.

 

Die Antragsgegnerin beantragt schriftsätzlich,

 

                     die Beschwerde zurückzuweisen.

 

Die Antragsgegnerin verteidigt ihren Bescheid als rechtmäßig und bezieht sich zur Begründung ergänzend auf den Beschluss des SG. Weitere Stellungnahmen seien nicht beabsichtigt.

 

Mit der Beschwerde beantragt der Antragsteller gleichzeitig Prozesskostenhilfe (PKH) für das Beschwerdeverfahren.

 

Der erkennende Senat hat eine Auskunft eingeholt von dem den Antragsteller behandelnden Allgemeinmediziner Dr. J.. Wegen des Ergebnisses wird Bezug genommen auf die Auskunft des Dr. J. vom 22.9.2022.

 

Auf Nachfrage des Senats hat die Antragsgegnerin bestätigt, dass der Antragsteller gegen den ablehnenden Bescheid vom 22.6.2022 am 12.7.2022 Widerspruch eingelegt hat, über den noch nicht entschieden sei.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte Bezug genommen. Sie haben der Entscheidung zugrunde gelegen.

 

II.

Die Beschwerde gegen den angefochtenen Beschluss ist – wie bereits im Verfahren L 4 KR 165/22 B ER und L 4 KR 230/22 B ER - statthaft, namentlich der Beschwerdewert von 750 € überschritten. Denn der Antragsteller begehrt die – vorläufig auszusprechende - Versorgung mit einem Arzneimittel auf unbestimmte Zeit, § 144 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Auf ein Rechtsschutzbedürfnis kann sich der Antragsteller berufen, da seit der letzten Entscheidung im Einstweiligen Rechtsschutz eine wesentliche Änderung im Sachverhalt iS einer erheblichen Verschlechterung des Erkrankungsbildes erstmals dokumentiert wurde (Pflegegrad 3; Anleitungsbedarf nach Pflegebegutachtung; Merkzeichen aG; Rezeptierung eines Rollstuhls).

 

Die auch im Übrigen zulässige Beschwerde des Antragstellers ist begründet.

 

Das SG hat die maßgeblichen Rechtsgrundlagen herangezogen, namentlich § 86b Abs. 2 2. Alt. SGG, §§ 34, 31, 92 SGB V und richtig angewendet. Wegen der Einzelheiten der Begründung wird zum Zwecke der Vermeidung von Wiederholungen auf die Gründe des angefochtenen Beschlusses Bezug genommen (§ 142 Abs. 2 Satz 3 SGG).

Aufgrund der erstmals dokumentierten erheblichen Verschlechterung des Erkrankungsbildes des Antragstellers sowie aufgrund ergänzender Ermittlung im Beschwerdeverfahren kommt der Senat zu einer gegenüber dem SG abweichenden Entscheidung.

 

Dabei ergibt sich ein Anspruch auf die Versorgung mit Vitamin D (in Gestalt von Dekristol 20.000 Weichkapseln) nicht aufgrund derjenigen Rechtsgrundlagen, die die vollständige Evidenzbasierung der Versorgung voraussetzen, §§ 27, 34, 31 SGB V. Hier bleibt es bei der Entscheidung des SG und dessen zutreffender Begründung (ähnlich der erkennende Senat im früheren ER-Verfahren zu Biomo-Lipon (Liponsäure) in L 4 KR 165/22 B ER, Beschluss vom 25. April 2022).

 

Der Anspruch kann auch nicht aus einem Seltenheitsfall oder – wie der Antragsteller es wiederholt vertritt – aus einem Systemversagen hergeleitet werden. Einem Seltenheitsfall stehen die erheblichen Fallzahlen einer CFS-Diagnose entgegen: in Deutschland leiden nach Schätzungen 250.000 bis 300.000 Menschen an ME/CFS, darunter 40.000 Kinder, weltweit ca. 17 Millionen Menschen (Angaben der Deutsche Gesellschaft für ME/CFS e.V., recherchiert u.a. unter https://www.mecfs.de/daten-fakten/, Zugriff am 25.8.2022; siehe auch die Angaben der Bundesregierung, Zitierung: unten). Einem Systemversagen steht entgegen, dass das CFS in der medizin-wissenschaftlichen Untersuchung noch zu weitgehend ohne feststehende Parameter verbleibt, insbesondere die kausale Verursachung noch offen ist, ebenso die kausal-therapeutische Versorgung (Zitate: siehe unten), so dass die bisher nicht erfolgte Aufnahme einer Therapieform in den Leistungskatalog der gKV durch den hierfür zuständigen Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) derzeit rechtlich nicht zu beanstanden ist.

 

Aufgrund des schwergradigen Verlaufs der Erkrankung, insbesondere in fortgeschrittenen Erkrankungsstadien (zunächst Arbeitsunfähigkeit, sodann Erwerbsminderung, zunächst teilweise, dann vollständig, sodann Pflegestufen, Mobilitätseinschränkungen etc.; siehe Bericht der Bundesregierung mit statistischer Erfassung, Zitat: siehe unten), ist die Rechtsgrundlage für nicht (vollständig) evidenz-basierte Leistungen der gKV heranzuziehen: § 2 Abs. 1 a SGB V.

 

Nach § 2 Abs. 1 a SGB V können Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, eine Leistung der gKV beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht.

 

Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind beim Antragsteller – nach der im B ER-Verfahren allein gebotenen summarischen Prüfung – aufgrund der erstmals dokumentierten erheblichen Verschlechterung des Erkrankungsbildes, der medizinischen Stellungnahme des Dr. J. im Befundbericht und der vom Senat recherchierten medizin-wissenschaftlichen Abhandlungen erfüllt:

 

Das BSG hat die verfassungsrechtlichen Vorgaben aus dem sog. Dezember-Beschluss des BVerfG vom 6. Dezember 2005 (BVerfGE 115,  25, 49) in Fällen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung näher konkretisiert und dabei in die grundrechtsorientierte Auslegung auch Erkrankungen einbezogen, die mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung wertungsmäßig vergleichbar sind, wie etwa der nicht kompensierbare Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion (BSG, Urteil vom 19. März 2020, B 1 KR 22/18 R, zitiert nach juris).

 

Bei der vom Antragsteller zur Begründung seines Begehrens vor allem geltend gemachten Erkrankung des CFS handelt es sich nach Überzeugung des Senats in dem beim Antragsteller inzwischen erreichten Stadium des Krankheitsfortschritts um eine schwere Erkrankung iSv § 2 Abs. 1 a SGB V. Die Schwere der Erkrankung folgt nicht aus Mono-Symptomen, sondern – CFS als Systemerkrankung - aus der Breite der einer Systemerkrankung immanenten Betroffenheit mehrerer lebensfunktionaler Bereiche wie körperlicher Mobilität, Verrichtungen des täglichen Lebens und/oder Einschränkung der Leistungsfähigkeit im sozialen Umgang. Diese Lebensbereiche sind inzwischen beim Antragsteller limitierend betroffen (Pflegegrad 3; Anleitungsbedarf bei sozialen Ansprüchen nach Pflegebegutachtung; Merkzeichen aG; Rezeptierung eines Rollstuhls).

 

Diese Einordnung als schwere Erkrankung im vorgenannten Sinn bestätigt auch der im Verfahren L 4 KR 230/22 B ER (den Beteiligten des hiesigen Verfahrens bekannt) gehörte Sachverständige Dr. Q. in seiner Stellungnahme vom 12. September 2022.

 

„Bei der Erkrankung des Patienten (ME/CFS) (gemeint: der Antragsteller, Anm. des Senats) handelt es sich um eine chronische Erkrankung bisher ungeklärter Ätiologie. Chronische Erkrankungen sind per definitionem nicht heilbar, viele chronische Erkrankungen haben einen sogenannten „progredienten Verlauf“. Dies bedeutet, der Zustand des Patienten verschlechtert sich im Verlauf der Zeit. Dies ist auch bei der Erkrankung des Patienten der Fall. Bei anderen chronisch-progredienten Erkrankungen — wie beispielsweise Tumorerkrankungen — ist ebenfalls regelhaft mit einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes eines Patienten zu rechnen bis am Ende eine kritische Phase eintritt, der mit Verlust der Selbstständigkeit, Pflegebedürftigkeit und Zunahme der Beschwerden bis zur Grenze des erträglichen und darüber hinaus zu rechnen ist……

Wenn man andere Patienten mit der Erkrankung zum Vergleich heranzieht, so ist die Situation von Herrn R. jetzt schon als kritisch zu bezeichnen, eine weitere Verschlechterung wahrscheinlich zum Verlust seiner Selbstständigkeit oder zu Pflegebedürftigkeit führen würde.“

 

Auch aus dem vom Senat eingeholten Befundbericht des Dr. J. vom 22.9.2022 ist das Vorliegen einer (inzwischen) schweren Erkrankung ablesbar:

 

„Der Patient befindet sich dauerhaft in nephrologischer Überwachung. Anbei die letzten Werte der letzten 12 Monate in fachärztlichen Briefen. Der Patient ist erheblich eingeschränkt in seiner Gesamtgesundheit…… Da sich das Befinden des Patienten kontinuierlich verschlechtert, er ist erwerbsunfähig berentet, es besteht eine Schwerbehinderung und ein Pflegegrad 3……. Der Patient ist mehrfach operiert worden, insbesondere im Schultergelenk bei entsprechender Revisionsoperation bei multiplen Brüchen…….“

 

Damit ist eine wertungsmäßig vergleichbar schwere Erkrankung beim Antragsteller bereits jetzt gegeben.

 

Selbst dann aber, wenn man das aktuelle Erkrankungsbild des Antragstellers im jetzigen Zeitpunkt - noch - nicht als wertungsmäßig vergleichbar iSv § 2 Abs. 1 a SGB V ausreichen lassen wollte, ergäbe sich die Wertungsgleichheit, ggf. sogar unmittelbare Lebensbedrohlichkeit, daraus, dass das CFS als Systemerkrankung progredient verläuft, Verschlechterungen in Schüben auftreten können und im Fall des Antragstellers Zeitpunkt und Schwere des nächsten Schubes – sprich: der nächsten erheblichen abermaligen Verschlechterung – nicht exakt vorhersehbar sind. Eine exakte Zeitangabe ist indes zur Erfüllung der Wertungsgleichheit nicht erforderlich:

 

Nach der RSpg. des BSG erfordert die notstandsähnliche Situation in zeitlicher Hinsicht eine in einem gewissen Zeitdruck zum Ausdruck kommende Problematik, wie sie für einen zur Lebenserhaltung bestehenden akuten Behandlungsbedarf typisch ist, also nach den konkreten Umständen des Falles der drohende Verlust einer herausgehobenen Körperfunktion innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit verwirklicht werden wird (stRspr., vgl. etwa BSGE 100, 103 = SozR 4-2500 § 31 Nr. 9, Rn. 32; BVerfG, Beschluss vom 11. April 2017, 1 BvR 452/17 – SozR 4-2500 § 137c Nr. 8 = NJW 2017, 2096).

 

Der erkennende Senat hat die „Zeitnähe“ der Wertungsgleichheit in diesem Sinne dann bejaht, wenn das „Kippen“ in den Erkrankungszustand der (weitergehenden/kompletten) Aufhebung der Leistungsfähigkeit in zeitlicher Hinsicht nicht exakt prognostizierbar ist, sie in einigen Monaten, aber auch in einem kürzeren Zeitraum eintreten kann (drohende Erblindung bei Retinitis Pigmentosa, LSG Nds-HB, Urt v 13.12.2021, L 4 KR 310/19 – rechtskräftig; im Ergebnis ebenso: LSG Stuttgart, Urt v 18.2.2020,  L 11 KR 2478/19; rkräftig: BSG, Beschluss vom 27. Oktober 2020 – B 3 KR 18/20 B –, juris).

 

In diesem Sinne reicht es für § 2 Abs. 1 a SGB V im Fall des Antragstellers aus, dass der gehörte Sachverständige Dr. Q. im Verfahren L 4 KR 230/22 B ER ausführt:

 

„ME/CFS ist eine Erkrankung, die meist schubförmig verläuft. Hier ist sie mit anderen chronischen Erkrankungen, zum Beispiel der Multiplen Sklerose, vergleichbar. Der Zustand des Patienten ist heute schon als kritisch zu bezeichnen, dies nicht nur aufgrund des vorliegenden ME/CFS, sondern auch der zeitgleich vorliegenden Erkrankungen. Ein weiterer Schub von ME/CFS kann jederzeit eintreten. ……..Der Zeitraum, in dem eine solche Verschlechterung eintritt, ist innerhalb der nächsten Monate anzusetzen, die Wahrscheinlichkeit des Eintretens einer solchen deutlichen Verschlechterung ist hoch.“

 

Damit ist insgesamt die Voraussetzung einer wertungsmäßig vergleichbaren Schwere der Erkrankung iSv § 2 Abs. 1 a SGB V beim Antragsteller inzwischen gegeben.

 

Für die Versorgung des Antragstellers stehen keine sog. Standard-Therapien des gKV-Leistungskatalogs zur Verfügung, dies ist vorliegend unstreitig und stellt auch grundsätzlich gerade den aktuellen versorgungsrechtlichen Hintergrund der CFS-Erkrankungsfälle dar. Es steht – dies wird von keiner medizin-wissenschaftlichen Abhandlung und auch nicht von staatlicher Exekutive (siehe Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage zum Thema CFS in der Gesundheitsversorgung in Deutschland, unten zitiert) abweichend dargestellt - keine sog. Standard-Therapie der CFS im kausalen Sinn in Deutschland zur Verfügung; in der Medizin-Wissenschaft werden allein symptombezogene Versorgungen diskutiert (worauf auch der vom Senat im Verfahren L 4 KR 230/22 B ER gehörte Sachverständige Dr. Q. abschließend hinweist).

 

Vor diesem Hintergrund kommt dem vorliegend vom Antragsteller begehrten Arzneimittel Dekristol 20.000 Weichkapseln die nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf zu, wenn auch nur im palliativen Sinne:

 

Die Zulässigkeit der Anwendung und Abrechnung sog. außervertraglicher Therapien nach § 2 Abs. 1 a SGB V ist nur dann gegeben, wenn – neben den weiteren Voraussetzungen der lebensbedrohlichen Erkrankung bzw. notstandsähnlichen Lage sowie der Ausschöpfung des gKV-Leistungskatalogs (s.o.)  - die konkrete Behandlungsmethode ein Mindestmaß an medizin-wissenschaftlicher Akzeptanz betreffend das konkret in Rede stehende Erkrankungsbild aufweist. Nach der RSpg. des BVerfG und des BSG ist dies nur dann der Fall, wenn der Gesundheitszustand des betroffenen Versicherten im Vergleich mit Unbehandelten, mit der Behandlung anderer Erkrankter oder unter der wissenschaftlichen Diskussion betrachtet wird (BVerfG NZS 2006, 84, 88) oder durch Assoziationsbeobachtungen, pathophysiologische Überlegungen, deskriptive Darstellungen, Einzelfallberichte und ähnliche, nicht durch Studien belegte Meinungen anerkannter Experten sowie Berichte von Expertenkomitees und Konsensuskonferenzen bewertet wird (BSG, Urteil vom 2. September 2014, B 1 KR 4/13 R, SozR 4-2500 § 18 Nr 9; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 18.12.2014, L 1 KR 21/13; LSG Nds-HB, Beschluss vom 20.4.2016, L 4 KR 357/15 B ER; LSG Nds-HB, Urt v 30.6.2020, L 4 KR 298/18). Nicht ausreichend im Sinne einer im Mindestmaß bestehenden medizin-wissenschaftlichen Absicherung ist hingegen das subjektive Empfinden des Versicherten, ggf gestützt durch die Einschätzung oder Empfehlung des/der behandelnden Arzt/Ärzte oder deren Behandlungserfahrung im Einzelfall oder die Äußerung eines einzelnen Arztes, insbes. bei geführter wissenschaftlicher Diskussion (BSG MedR 2007, 557 (560); LSG Ba-Wü, Urt v 22. Februar 2017 – L 5 KR 1653/15).

 

Soweit konkretisierend nach der weiter gesicherten RSpg. des BSG gilt, dass die Anforderungen an die „ernsthaften Hinweise“ umso niedriger zu veranschlagen sind, je schwerwiegender die Erkrankung und je hoffnungsloser die Situation des Erkrankten ist (siehe etwa: BSG, Urt v 2.9.2014, B 1 KR 4/ 13 R; LSG Nds-HB, Urt v 18.12.2014, L 1 KR 21/13; LSG Celle-Bremen, B v 23.12.2021,  L 16 KR 516/21 B ER), gilt dies gerade auch im vorliegenden Fall einer CFS im aktuellen Stadium betreffend die Mindestevidenz einer symptomatische Versorgung des Patienten durch die gKV, vorliegend bei CFS mit den begehrten Dekristol 20.000 Weichkapseln.

 

Diese Mindestevidenz ist gegeben.

 

Zum einen hat nach den gerichtsbekannten Unterlagen der Vorbehandler des Antragstellers – Prof. Dr. P. – dem Antragsteller über Jahre hinweg Vitamin D rezeptiert.

 

Zum zweiten wird die medizinische Indikation der Vitamin D-Versorgung in dem vom Senat angeforderten Befundbericht von Dr. J. ausdrücklich medizin-wissenschaftlich begründet:

„…deutlicher Vitamin D-Mangel im Rahmen des Hyperparathyreoidismus mit Störung des Kalzium- und Phosphathaushaltes und des Vitamin DHaushaltes,…

Insbesondere durch den Hyperparathyreoidismus und die Störung des Phosphat- und Kalziumhaushaltes mit entsprechendem Einfluss auf die Mineralisation des Knochengerüstes als auch der Muskulatur und der schwankenden Vitamin D-Substitutionsnotwendigkeit ist eine Gabe von Vitamin D in unterschiedlichen Dosierungen zwingend notwendig.

 

Der Patient erhielt über Jahre je nach Vitamin D-Bedarf Dekristol 20.000 iE, Vitamin D 2.000 iE alle 2 Tage, je nach Verschiebung des pH-Wertes bzw. Soll im Blut, festgestellt in den nephrologischen Dialysepraxen eine entsprechende Substitution mit Vitamin D.

Da der Patient hierauf angewiesen ist, ist eine entsprechende Anpassung der Vitamin D-Dosen erforderlich……

 

Die erheblichen Störungen des Knochenmineralisations-Stoffwechsels gehören in den Bereich der osteoporotischen Veränderungen bei Hyperparathyreoidismus.

Der Patient ist mehrfach operiert worden, insbesondere im Schultergelenk bei entsprechender Revisionsoperation bei multiplen Brüchen. Von mehreren Fachärzten gerade wegen der Entmineralisierung wurde bereits im Jahre 2016 die Notwendigkeit der Substitution mit Vitamin D dokumentiert, insbesondere durch die Nephrologen Professor P. (aktueller Bericht von damals anbei), ebenso wie alle Krankenhausentlassungsberichte in fortlaufender nephrologischer Bild entfernt.Dokumentation……“

 

Zum dritten werden in der Medizin-Wissenschaft als – allein symptombezogene (siehe oben) - Versorgungen diskutiert auch die hier begehrte Vitamin D-Gabe. So etwa Studien zu CFS, zum Beispiel Doppelblindstudie der Universitätsklinik Zürich, in der eine Vitamin D Supplementation die Erholung von CFS um Faktor 4 beschleunigt hat (Universitäts -Hospital Zürich, Effect of vitamin D 3 on self-perceived fatigue, recherchierbar in:https://www.guetsel.de/content/39370/9957081.html).

Weitere medizin-wissenschaftliche Abhandlungen bestätigen dies:

 

„Mit den auftretenden körperlichen Symptomen ahmt ein Vitamin-D-Mangel auch somatoforme und psychosomatische Krankheitsbilder nach, ebenso wie die Symptome von CFS, MCS und Fibromyalgie.“

Ärztlicher Erfahrungsbericht - Kritische Auseinandersetzung mit der derzeitigen Behandlungspraxis im Falle von Erkrankungen, die mit chronischer Müdigkeit einhergehen.

Zusammenfassung des Vortrags von Dr. Annedore H. anlässlich der Fatigatio-Fachtagung vom 24.-25. September 2010 in Dortmund, von Regina Clos; recherchierbar unter: www.cfs-aktuell.de

 

„Die Substitution von Vitamin D und bei
Mangel von Eisen, Selen und Zink ist wichtig für die Immunfunktion.“

 

Gijs Bleijenberg, Jos W. M. van der Meer:

Chronisches Fatigue-Syndrom

(für die deutsche Ausgabe Patricia Grabowski und Carmen Scheibenbogen) in:

Harrisons Innere Medizin • 19. Auflage, deutsche Ausgabe • In Zusammenarbeit mit der Charité • Herausgegeben von N. Suttorp, M. Möckel, B. Siegmund, M. Dietel

Recherchierbar unter www.cfc.charite.de

 

Im Ergebnis ebenso:

 

ME/CFS – das chronische Erschöpfungssyndrom

SBK (Siemens Betriebskrankenkasse), SBK.org, 3.4.2022

als beteiligte Krankenkasse (Konsortialpartner) des CFS_CARE - Innovationsfonds-Projekt unter der Leitung von Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen und Dr. Claudia Kedor vom Institut für Medizinische Immunologie der Charité Berlin

 

Schließlich wird auch in dem medizinwissenschaftlichen Nachschlagewerk Pschyrembel online zum CFS ausgeführt (Unterstreichung durch den Senat):

  • symptomatische Therapie
    • Analgetika (nichtsteroidale Antiphlogistika, bei starken Schmerzen auch Pregabalin oder Gabapentin)
    • bei Schlafstörungen Melatonin, Tryptophan, niedrig dosiertes Doxepin (bei aus­ge­präg­ten Schlafstörun­gen auch Zo­pic­lon oder Zolpidem)
    • bei Muskel­schmerzen und Fatigue Liponsäure und N-Acetylcystein
    • bei Konzentrationsstörungen Methylphenidat oder Modafinil (bei­des off-la­bel-use)
    • Substituti­on von Mineralstoffen, Spuren­ele­menten und Vi­t­a­mi­nen nach Bedarfs­ana­lyse (v. a. Ma­gnesium, Vi­t­a­min D, B-Vi­t­a­mi­ne, Ei­sen, Phosphat, Zink, Se­len)
    • Floh­samen­schalen bei Reiz­darm­be­schwerden
    • Physio­therapie und an­gepass­te kör­per­liche Belastung (falls noch tole­rier­bar)
    • Co­ping und Pacing (Krankheits­management durch Einteilung der Ener­gie­reserven, Ta­ges­s­trukturie­rung, Ver­meidung krankheits­unterhaltender Faktoren, v. a. Ü­ber­lastun­gen, In­fektion­sprophyla­xe)
    • Ginseng und Coenzym Q10 zeig­ten leichte Symptom­bes­serung in kleine­ren Studi­en
    • bei re­ak­tiver Depressi­on Anti­depressiva
    • bei star­ker Symptom­fixierung kogniti­ve Ver­haltenstherapie

 

Bestätigt wird das Ausreichen einer Mindestevidenz auch durch die Erkenntnis der Art der Versorgung des CFS im Gesundheitswesen in Deutschland.

 

Zum Gesamtbild der Versorgung des CFS in der Gesundheitswirtschaft in Deutschland, insbesondere in der gKV, heißt es als Antwort der Bundesregierung auf eine 22 Einzelfragen umfassende kleine Anfrage (Deutscher Bundestag Drucksache 19/12632, 23.08.2019, Antwort der Bundesregierung,– Drucksache 19/12204 – Myalgische Enzephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome – Aktuelle Situation in Versorgung und Forschung):

 

Zu Frage 4.:

„Menschen mit CFS/ME haben – wie bei jeder anderen Erkrankung auch – Anspruch auf eine medizinisch notwendige Krankenbehandlung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Bei Erbringung diagnostischer und therapeutischer Leistungen haben deren Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen. Die konkrete Ausgestaltung der zu Lasten der GKV erbrachten Behandlungsleistungen liegt im Verantwortungsbereich der Gremien der Gemeinsamen Selbstverwaltung, die dabei die medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse zu berücksichtigen haben.

 

Gerade aus dem Fehlen sowohl eines einheitlichen Krankheitsmodells als auch einer wissenschaftlich abgesicherten Standardbehandlung von CFS/ME ergibt sich die Notwendigkeit, die Behandlung der betroffenen Menschen im Einzelfall sorgfältig und dem individuellen Hilfebedarf entsprechend zu planen und durchzuführen. Umfang und Inhalt der Behandlung können unter Berücksichtigung der individuellen Besonderheiten variieren. Bausteine dieser Behandlung können z. B. ärztliche Behandlung einschließlich Psychotherapie als ärztliche oder psychotherapeutische Behandlung, Versorgung mit Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln, Krankenhausbehandlung oder Leistungen zur medizinischen Rehabilitation sein.“

 

Zu Fragen 20. bis 22. heißt es als Zusammenfassung:

„Die Bundesregierung greift, wie bei anderen Krankheitsbildern auch, grundsätzlich nicht in den fachwissenschaftlich zu führenden Diskurs bezüglich Ursachen, Diagnostik und Behandlung von Erkrankungen ein. Die Klärung offener Fragen in Bezug auf die Krankheitsursachen sowie die Möglichkeiten der Diagnostik und Therapie von Menschen mit CFS/ME ist Aufgabe der medizinisch-wissenschaftlichen Fachwelt und der Forschung.“

 

Die Antwort der Bundesregierung auf die kleine Anfrage dokumentiert die vom BSG für das Ausreichen einer Mindestevidenz geforderte – zum gegenwärtigen Zeitpunkt (noch) gegebene - Hoffnungslosigkeit der therapeutischen Zugänglichkeit der jeweiligen Erkrankung:  für den Antragsteller steht – wie für viele tausend andere betroffene Patienten auch – eine kausale Therapie medizin-wissenschaftlich nicht zur Verfügung, insbesondere keine evidenzbasierte Verifizierung.

 

Damit steht dem Antragsteller ein Anordnungsanspruch aus § 2 Abs. 1 a SGB V auf Versorgung mit Vitamin D in Gestalt von Dekristol 20.000 Weichkapseln bei CFS zur Seite.

 

Auch ein Anordnungsgrund ist gegeben.

 

Im vorliegenden Verfahren hat der Antragsteller betreffend die Eil-Bedürftigkeit geltend gemacht, dass nach einem Behandler-Wechsel sein Vorrat an dem begehrten Medikament erschöpft sei. Der Antragsteller dürfte aus eigener Erfahrung zahlreicher, von ihm betriebener Verfahren des Einstweiligen Rechtschutzes wissen, dass diese in erster und zweiter Instanz insgesamt bis zu sechs Monaten dauern können. Bei isolierter Betrachtung dieser Zeitfolge könnten deshalb Zweifel bestehen, dass eine Eil-Bedürftigkeit betreffend die Versorgung mit dem Medikament Dekristol beim Antragsteller vorliegt.

 

Andererseits darf die gesundheitliche Situation des Antragstellers nicht außer Betracht bleiben, die sich seit Ende 2021 gerade im Hinblick auf die eigenverantwortliche Geltendmachung von Leistungsansprüchen erheblich verschlechtert hat:

 

Neben dem nunmehrigen Pflegegrad 3 (seit 1.12.2021) und dem Merkzeichen aG benötigt der Antragsteller laut dem Pflegegutachten vom 12.6.2022 inzwischen eine umfassende und individuelle Beratung bei der Auswahl und Inanspruchnahme von Sozialleistungen. Dies könnte eine inzwischen eingetretene gewisse Unvollkommenheit des Antragstellers im Umgang mit Zeitverläufen gerichtlicher Prozesse begründen. Hierzu passt, dass der Antragsteller nunmehr dazu übergeht, sich – anders als früher – durch einen Rechtsanwalt vertreten zu lassen. Das vorliegende Verfahren zählt zu den ersten, in denen er sich in der zweiten Instanz von einem Rechtsanwalt vertreten lässt.

 

Die Beschwerde des Antragstellers hat daher insgesamt Erfolg.

 

Die abschließende Entscheidung bleibt einem Hauptsache-Verfahren vorbehalten.

Aufgrund der damit gleichzeitig gegebenen hinreichenden Erfolgsaussicht war dem Antragsteller PKH für das Beschwerdeverfahren zu bewilligen. Als Bezieher von ergänzenden Leistungen der Grundsicherung nach SGB XII ist der Antragsteller prozesskostenhilfebedürftig, § 73 a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO.

 

Der Senat gestattet sich – wie bereits im Verfahren L 4 KR 230/22 B ER - den Hinweis an die Antragsgegnerin, dass ihre zukünftige Haltung gegenüber dem Antragsteller aufgrund der der hiesigen Entscheidung zugrunde liegenden rapiden Verschlechterung im Erkrankungsbild ggf. überdenkenswürdig sein könnte. Selbstverständlich werden alle weiteren Rechtsstreite des Antragstellers jeweils zu ihrem spezifischen Streitgegenstand vom Senat geprüft, sei es als ER-Verfahren oder sei es als Hauptsache-Verfahren. Der Senat hat bereits damit begonnen, vor allem in Hauptsache-Verfahren des Antragstellers (aber auch im hiesigen ER-Verfahren, siehe oben) medizinische Ermittlungen aufzunehmen. Andererseits könnten einige wenige Gerichts-Entscheidungen mit paralleler rechtlicher Würdigung auch zur unstreitigen Versorgung im künftigen Verwaltungsweg führen, ohne dass dies – aufgrund der ergangenen Rechtsentscheidungen - von der Aufsichtsbehörde zu beanstanden wäre. Die Erkrankungssituation von Versicherten (auch der Antragsgegnerin) könnte dies gebieten.

 

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG in entsprechender Anwendung.

 

Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).

Rechtskraft
Aus
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