L 19 AS 1826/21

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
19
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 33 AS 2946/18
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 19 AS 1826/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Auf die Berufung der Kläger wird das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 17.11.2021 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Entscheidung – auch über die Kosten des Berufungsverfahrens - an dieses Gericht zurückgewiesen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Kläger begehren die Bewilligung von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II für den Zeitraum 01.11.2016 bis 31.01.2017.

Die am 00.00.1973 geborene Klägerin zu 1) und der am 00.00.1970 geborene Kläger zu 2) sind verheiratet. Der am 00.00.1999 geborene Kläger zu 3) ist ihr gemeinsamer Sohn. Die drei Kläger sind bulgarische Staatsangehörige.

Am 30.09.2016 reisten die drei Kläger in die Bundesrepublik ein. Die Klägerin zu 1) und der Kläger zu 2) schlossen am 30.09.2016 einen Mietvertrag über die Wohnung N-Straße 10 in H. Seit dem 01.10.2016 waren die Kläger bei der Stadt H gemeldet.

Am 02.11.2016 beantragte die Klägerin zu 1) die Bewilligung von Grundsicherungsleistungen. Bei einer Vorsprache am 16.11.2016 beim Beklagten gab die Klägerin zu 1) an, dass sie mit ihrer Familie am 30.09.2016 aus Bulgarien nach Deutschland eingereist sei. Sie habe zum 01.11.2016 eine Nebenbeschäftigung aufgenommen. Zwei weitere Söhne (26 und 28 Jahre alt) hielten sich in Bulgarien auf. Ihr Bruder, den die Klägerin im gerichtlichen Verfahren als Zeugen benannt hat, arbeite bei der Firma L GmbH als Helfer und habe für sie die Arbeit gefunden. Die Arbeitsstätte befinde sich in C. Sie fahre mit ihrem Bruder zur Arbeitsstätte. Dieser habe ein Auto, sie wohnten nebeneinander. Sie fahre auch mit ihrem Bruder wieder zurück. Sie putze die Geschäftsräume, und zwar montags und donnerstags von 10:00 Uhr bis 14:00 Uhr. Die Arbeitszeiten seien fest.

Die Klägerin zu 1) legte einen vom 19.09.2016 datierten Arbeitsvertrag über eine geringfügige Beschäftigung bei der Firma L GmbH vor. Nach § 1 des Vertrages begann das Arbeitsverhältnis am 02.11.2019, wobei die Klägern zu 1) im Rahmen eines geringfügigen Beschäftigungsverhältnisses bis zu 450,00 € beschäftigt war. Nach § 3 des Arbeitsvertrages war die Klägerin zu 1) als Putzkraft eingestellt. Nach § 5 des Vertrages betrug die regelmäßige monatliche Arbeitszeit maximal 50 Stunden.

Die Firma L GmbH meldete die Klägerin zu 1) zur Sozialversicherung nach § 25 DEÜV als geringfügig entlohnte Beschäftigung nach § 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV für die Zeit vom 01.11.2016 bis 31.01.2017 an. Die Firma L GmbH meldete am 17.10.2017 Insolvenz an.

In der von der Klägerin zu 1) später dem Beklagten vorgelegten Arbeitgeberbescheinigung gab die Arbeitgeberin an, dass die Klägerin zu 1) ab dem 01.11.2016 als Raumpflegerin im Geschäftslokal C gearbeitet habe. Der Stundenlohn habe 8,50 € und die wöchentliche Arbeitszeit 13 Stunden betragen. Es werde eine Arbeitszeiterfassung mit Beginn- und Endzeiten durchgeführt, Arbeitszeitkonten würden nicht geführt, eine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall erfolge nicht. Des Weiteren habe die Klägerin zu 1) keinen Urlaubsanspruch. Die Lohnzahlung erfolge bar wegen vorzeitiger a-conto-Zahlung.

Mit Bescheid vom 30.12.2016 versagte der Beklagte die Leistungen unter Berufung auf § 66 SGB I ganz. Hiergegen legte die Klägerin zu 1) Widerspruch ein.

Am 31.01.2017 beantragte die Klägerin zu 1) erneut die Gewährung von Grundsicherungsleistungen. Mit Bescheid vom 16.02.2016 lehnte der Beklagte die Bewilligungsanträge vom 02.11.2016 und 31.01.2017 ab. Er führte u.a. aus, dass die Beschäftigung bei der Firma L GmbH keinen Arbeitnehmerstatus der Klägerin zu 1) begründe. Er habe auch berücksichtigt, dass die Klägerin zu 1) sich zum 01.10.2016 bei der Stadt H als Einwohner angemeldet habe. Am 01.11.2016 habe ihr Arbeitsverhältnis begonnen. Im direkten Anschluss am 02.11.2016 habe die Klägerin zu 1) einen Antrag auf Grundsicherungsleistungen gestellt. Mietzahlungen habe sie bislang nicht geleistet. Dies lasse darauf schließen, dass die Einreise alleine dem Zwecke der Beantragung von Sozialleistungen gedient habe.

Hiergegen legte die Klägerin zu 1) Widerspruch ein. Sie machte geltend, dass ihre Familie nach Deutschland gekommen sei, weil die Lebensumstände in Bulgarien wesentlich schlechter gewesen seien, als die Möglichkeit in Deutschland, sich ein neues Leben aufzubauen. Ein Großteil ihrer Familie lebe schon in Deutschland. Sie möchten ihre Chance in Deutschland suchen. Durch entsprechende Vorbereitungen ihrer Angehörigen habe sich schnell eine Wohnung gefunden und für sie eine Arbeit. Ihre Arbeit habe sie ordnungsgemäß ausgeführt.

Zum 13.02.2017 nahm der Kläger zu 2) eine Teilzeitbeschäftigung auf (wöchentliche Arbeitszeit 80 Stunden, Stundenlohn 8,50 €).

Der Kläger zu 3) besuchte in der Zeit vom 19.01.2017 bis 11.07.2018 das Berufskolleg des beruflichen Gymnasiums der Stadt H.

Am 22.03.2017 beantragte die Klägerin zu 1) den Erlass einer Regelungsanordnung, S 31 AS 870/6 17 ER. Sie trug vor, sie sei mit ihrer Familie am 01.10.2016 von Bulgarien nach Deutschland gezogen. Sie habe durch einen Teil ihrer Familie, der bereits in Deutschland lebe, einen Job sichergestellt bekommen. Da es sich hierbei um einen Teilzeitjob gehandelt habe und dessen Ertrag nicht zur Sicherstellung des Lebensunterhaltes ausgereicht habe, habe sie auch Leistungen nach dem SGB II beantragt.

Mit Bescheid vom 24.04.2017 bewilligte der Beklagte den Klägern als Bedarfsgemeinschaft vorläufig Grundsicherungsleistungen für die Zeit vom Februar 2017 bis Juli 2017.

Mit Widerspruchsbescheid vom 22.09.2017 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Die Klägerin zu 1) sei nicht als Arbeitnehmerin im Sinne des § 2 Abs. 1 und 2 S. 1 Nr. 1 FreizügG/EU freizügigkeits-und aufenthaltsberechtigt. Im Hinblick auf die Tätigkeit als Raumpflegerin bei der Firma L GmbH komme die Annahme einer Arbeitnehmereigenschaft schon aufgrund der kurzen Dauer der Beschäftigung von nur drei Monaten nicht in Betracht. Eine derart kurze Beschäftigungsdauer erlaube es nicht, in der betrieblichen Organisation und den Arbeitsabläufen des Arbeitgebers eine solchermaßen gefestigte Stellung einzunehmen, dass die Annahme einer dauerhaften Integration in Betrieb gerechtfertigt sei. Des Weiteren habe der Arbeitgeber angegeben, dass die Klägerin zu 1) weder einen Urlaubsanspruch noch einen Anspruch auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall habe. Fraglich sei, ob ein Scheinarbeitsverhältnis vorliege. Bei der Vorsprache am 16.11.2016 habe die Klägerin zu 1) mitgeteilt, dass sie am 30.09.2016 aus Bulgarien nach Deutschland eingereist sei. Der Arbeitsvertrag sei von der Klägerin bereits am 19.09.2016 unterzeichnet worden. Die Klägerin zu 1) habe nur ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche.

Am 23.10.2017 haben die Kläger Klage erhoben.

Die Kläger haben beantragt,

den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 21.02.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.09.2017 zu verurteilen, in den Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe für die Zeit vom 01.11.2016 bis zum 01.02.2017 zu gewähren.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Sozialgericht hat zur mündlichen Verhandlung am 17.11.2021 den Zeugen M als Geschäftsführer der Firma L GmbH zum Beweisthema „Beschäftigung der Klägerin zu 1)“ geladen. Der Zeuge ist nicht zum Termin erschienen.

Mit Urteil vom 17.11.2021 hat das Sozialgericht Gelsenkirchen die Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt, dass die Kläger keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II hätten. Sie seien nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II von Grundsicherungsleistungen ausgeschlossen. Die Klägerin zu 1) habe ihre Arbeitnehmereigenschaft nicht nachgewiesen. Gegen die Arbeitnehmereigenschaft spreche, dass der Arbeitsvertrag keinen Anspruch auf Urlaub sowie Lohnfortzahlung im Krankheitsfall vorsehe sowie die kurze Dauer der Beschäftigung von nur drei Monaten.

Gegen das ihrem Prozessbevollmächtigten am 02.12.2021 zugestellte Urteil haben die Kläger am 06.12.2021 Berufung eingelegt. Sie tragen vor, dass sie im streitbefangenen Zeitraum freizügigkeitsberechtigt gewesen seien. Die Klägerin zu 1) habe bei der Firma L GmbH gearbeitet. Der Arbeitgeber sei zum Termin geladen gewesen, aber nicht erschienen. Es hätte keine Entscheidung in der Sache erfolgen dürfen. Der Zeuge hätte zwingend angehört werden müssen.

Die Kläger beantragen,

das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 17.11.2021 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 21.02.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.09.2017 zu verurteilen, den Klägern Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe für die Zeit vom 01.11.2016 bis zum 01.02.2017 zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,          

die Berufung zurückzuweisen.

Der Beklagte hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.

Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitverhältnisses wird im Übrigen auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung der Kläger ist begründet und führt zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Sozialgericht Gelsenkirchen.

Nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Landessozialgericht durch Urteil die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet und aufgrund dieses Mangels eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist. Ein Verfahrensmangel ist ein Verstoß gegen eine das Gerichtsverfahren regelnde Vorschrift. Wesentlich ist der Mangel, wenn die Entscheidung des Sozialgerichts auf ihm beruhen kann (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig, SGG, 13. Aufl. 2020, § 159 Rn. 3a). Dabei ist (nur) auf die Rechtsauffassung des Sozialgerichts abzustellen.

Vorliegend leidet das Verfahren an einem wesentlichen Verfahrensmangel im Sinne des § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG. Das Sozialgericht hat gegen den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 103 SGG) verstoßen (I) und die unechte notwendige Beiladung des Sozialhilfeträgers unterlassen (II).

  1. Das Sozialgericht hat den entscheidungserheblichen Sachverhalt entgegen der Verpflichtung zur Amtsermittlung (§ 103 SGG) nicht hinreichend aufgeklärt. Eine Verletzung des § 103 SGG liegt vor, wenn das Tatsachengericht Ermittlungen unterlässt, obwohl es sich ausgehend von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt zu weiteren Ermittlungen hätte gedrängt fühlen müssen (Mushoff in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl., § 103 SGG - Stand: 21.04.2020 – Rn. 90 ff.; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 10.03.2016 - L 8 R 710/15). Ein Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz ist ein wesentlicher Mangel des Verfahrens im Sinne der § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG und § 160 Abs. 2 Nr. 3 SGG. Weil die Beteiligten auf eine ordnungsgemäße Aufklärung des Sachverhalts nicht verzichten können, können Verstöße gegen § 103 SGG über § 202 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 295 ZPO nicht geheilt werden.

 

Zu ermitteln sind alle Tatsachen, die, ausgehend von der Rechtsauffassung des Sozialgerichts, für die Entscheidungsfindung in prozessualer und materieller Hinsicht entscheidungserheblich sind (BSG, Urteil vom 20.09.1988 – 5/5b RJ 32/87 und vom 18.05.2006 – B 9a V 2/05 R). Welche Tatsachen zu ermitteln sind, hängt davon ab, welche Voraussetzungen nach dem Gesetz für den Anspruch des Klägers gegeben sein müssen und welche für seine prozessuale Geltendmachung. Wesentlich oder entscheidungserheblich ist eine Tatsache, wenn sich aus ihr ein Tatbestandsmerkmal der anzuwendenden Norm ergibt oder mittelbar auf Vorliegen oder Nichtvorliegen einer unmittelbar erheblichen Tatsache geschlossen werden kann (BSG, Urteil vom 12.12.1995 – 5 RJ 26/94).

Das Ausmaß der Aufklärung und die Wahl der Beweismittel sind in das pflichtgemäße richterliche Ermessen des Gerichts gestellt. Es hat diejenigen Ermittlungen durchzuführen, zu denen es sich nach der Sach- und Rechtslage gedrängt fühlen muss. Welcher Beweismittel sich das Gericht bedient, ist eine Frage der pflichtgemäßen richterlichen Ermessensausübung. Das Gericht ist gehalten, diejenigen Beweismittel zu verwenden, die nach den Umständen des Einzelfalles zur Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts geeignet und erforderlich sind. Umfang und Reihenfolge der Ermittlungen sind zum Teil durch die Umstände des Einzelfalls vorgegeben (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 12.05.2021 – L 8 R 3419/20 R m.w.N.)

Insoweit ist im Verfahren u.a. entscheidungserheblich zu klären, ob die Tätigkeit der Klägerin zu 1) bei der Firma L GmbH in der Zeit vom 01.11.2016 bis 31.01.2017 einen Arbeitnehmerstatus der Klägerin zu 1) i.S.v. Art. 45 AUEV begründet hat und damit die Leistungsausschlüsse des § 7 Abs. 1 S. 2 Nrn. 1 und 2 SGB II i.d.F. ab dem 01.08.2016 (Gesetz vom   26.07.2016, BGBl.  I 1824) bzw. § 7 Abs. 1 S. 2 Nrn. 2a und 2b SGB II i.d.F. ab dem 29.12.2016 (Gesetz vom 22.12.2016, BGB I 3155) zu Ungunsten der Kläger nicht eingreifen.

Die Arbeitnehmereigenschaft i.S.v. Art 45 AUEV beurteilt sich allein nach objektiven Kriterien, die das Arbeitsverhältnis im Hinblick auf Rechte und Pflichten kennzeichnen. Arbeitnehmer in diesem Sinne ist jeder, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstelle. Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält. Der Umstand, dass eine Person im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses nur sehr wenige Arbeitsstunden leistet, kann ein Anhaltspunkt dafür sein, dass die ausgeübte Tätigkeit nur untergeordnet und unwesentlich ist. Unabhängig von der begrenzten Höhe des aus einer Berufstätigkeit bezogenen Entgelts und des begrenzten Umfangs der insoweit aufgewendeten Arbeitszeit ist indes nicht auszuschließen, dass die Tätigkeit aufgrund einer Gesamtbewertung des betreffenden Arbeitsverhältnisses den Arbeitnehmerstatus begründen kann. Auch die Dauer der von dem Betroffenen ausgeübten Tätigkeit ist ein Gesichtspunkt, der bei der Beurteilung der Frage zu berücksichtigen, ob es sich hierbei um eine tatsächliche und echte Tätigkeit handelt oder ob sie vielmehr einen so geringen Umfang hat, dass sie nur unwesentlich und untergeordnet ist. Liegen die Voraussetzungen des Arbeitnehmerstatus vor, sind die Motive für den Abschluss von Arbeitsverträgen sowie der Suche von Arbeit in einem Mitgliedstaat unerheblich (EuGH, Urteil vom 23.03.1982 - C-53/81 und vom 21.02.2013 - C-46/12), können aber für die Frage, ob das Berufen auf einen Arbeitnehmerstatus rechtsmissbräuchlich ist, relevant  sein (vgl. BSG, Urteil vom 27.01.2021 – B 14 AS 25/20 R m.w.N.).

Für die Gesamtbewertung der Ausübung einer Tätigkeit als Beschäftigung und damit die Zuweisung des Arbeitnehmerstatus ist Bezug zu nehmen, insbesondere auf die Arbeitszeit, den Inhalt der Tätigkeit, eine Weisungsgebundenheit, den wirtschaftlichen Wert der erbrachten Leistung, die Vergütung als Gegenleistung für die Tätigkeit, den Arbeitsvertrag und dessen Regelungen sowie die Beschäftigungsdauer. Nicht alle einzelnen dieser Merkmale müssen schon je für sich die Arbeitnehmereigenschaft zu begründen genügen; maßgeblich ist ihre Bewertung in einer Gesamtschau. Der Gesamtbewertung ist mit Rücksicht auf einschlägige Rechtsprechung des EuGH ein weites Verständnis zugrunde zu legen (BSG, Urteil vom 12.09.2018 – B 14 AS 18/17 R).

Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts schließt die Dauer der Beschäftigung – vorliegend drei Monate – nicht grundsätzlich die Annahme eines Arbeitnehmerstatusses aus. Der bloße Umstand der kurzen Dauer der Beschäftigung führt als solcher nicht dazu, dass die Tätigkeit vom Anwendungsbereich der  Arbeitnehmerfreizügigkeit ausgeschlossen ist  (EuGH, Urteile vom 06.11.2003 - C-413/01 und vom 04.06.2009 - C-22/08C-23/08; siehe auch BSG, Urteil vom 27.01.2021 – B 14 AS 25/20 R: Arbeitnehmereigenschaft bei einer Tätigkeit mit einer Dauer von 4 Monaten bei einer Arbeitszeit von 8 Stunden wöchentlich und einem Entgelt i.H.v. 250,00 € monatlich; Urteil vom 27.01.2021 – B 14 AS 42/19 R: Arbeitnehmerstatus bei einer Tätigkeit mit einer Dauer von 2 Monaten und einem Entgelt i.H.v. 500,00 € monatlich).

Auch die Tatsache, dass der Anspruch der Klägerin zu 1) auf Urlaub und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall nicht ausdrücklich im Arbeitsvertrag vereinbart ist, spricht nicht grundsätzlich gegen einen Arbeitnehmerstatus. Denn auch ein Arbeitnehmer, der eine geringfügige Beschäftigung nach § 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV ausübt, ist nach § 2 Abs. 2 TzBFG teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer i.S.v. § 2 TzBFG. Als teilzeitbeschäftigte Arbeitnehmer i.S.v. § 2 Abs. 2 TzBFG  finden die Vorschriften des Entgeltfortzahlungsgesetzes (§ 1, 3 EntgFG) und des Bundesurlaubsgesetzes (§§ 1,2,3 BUrlG) auf geringfügig Beschäftigte nach § 8 Abs. 1 Nr. 12 SGB IV Anwendung, diese Vorschriften können vertraglich nicht abgedungen werden (§ 12 EntgFG, § 13 BUrlG). Insoweit ist fraglich, ob aus dem Fehlen von Vereinbarungen über  Anspruch auf Urlaub und auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall im schriftlichen Arbeitsvertrag geschlossen werden kann, dass die Vertragspartner entgegen den gesetzlichen Bestimmungen die Ansprüche der Klägerin zu 1) auf Urlaub und Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall als Arbeitnehmerin ausschließen wollten. Auch bei der Auskunft der Arbeitgeberin in der Arbeitgeberbescheinigung ist nicht auszuschließen, dass die Angaben auf Rechtsunkenntnis beruhen.

Die Arbeitgeberin hat die Klägerin zu 1) ordnungsgemäß zur Sozialversicherung angemeldet und wieder abgemeldet. Anhaltspunkte, dass die Betriebsstätte nicht existiert hat, ergeben sich nicht aus den Feststellungen des Sozialgerichts.

Feststellungen zur Höhe des Entgelts, dem Umfang der wöchentlichen Arbeitszeit und Inhalt der Tätigkeit hat das Sozialgericht nicht getroffen. Ausgehend von den Angaben der Klägerin zu 1) im Verwaltungsverfahren hat die Arbeitszeit mindestens 8 Stunden wöchentlich betragen. Nach den Angaben der Arbeitgeberin im Verwaltungsverfahren hat die Klägerin zu 1) den im Jahr 2016 geltenden Mindestlohn von 8,50 € bei 13 Stunden wöchentlich erhalten. Auch die Tatsache, dass nach derzeitigen Kenntnisstand das erzielte Entgelt nicht den Bedarf der Klägerin zu 1) gedeckt hat, schließt eine Arbeitnehmereigenschaft nicht aus.

Im Hinblick auf die erforderliche Gesamtbewertung der Ausübung einer Tätigkeit als Beschäftigung, insbesondere betreffend der Höhe des Entgelts, Umfang der Arbeitsstunden, Inhalt der Tätigkeit haben dem Sozialgericht weitere Ermittlungsmöglichkeiten zur Verfügung gestanden, wie z.B. Beiziehung der Entgeltbescheinigungen und Unterlagen der Arbeitszeiterfassung, Befragung der Klägerin zu 1) im Verhandlungstermin, Vernehmung der als Arbeitskollegen benannten Zeugen sowie des Geschäftsführers der Firma L GmbH, des Zeugen M, die es unterlassen hat. Es hat auch nicht die Angaben der Klägerin zu 1) gegenüber dem Beklagten über ihre Arbeitszeit, Entgelte und Inhalt der der Tätigkeit als wahr unterstellt und in die Gesamtbewertung miteinbezogen.

  1. Das Sozialgericht hätte die Stadt H als die für die Leistungen nach § 23 Abs. 3 S. 3ff SGB XII i.d.F. ab dem 29.12.2016 (Gesetz vom  22.12.2016, BGBl I 3155) nach § 75 Abs. 2 Alt. 2 SGG notwendig beiladen müssen.

 

Voraussetzung einer unechten notwendigen Beiladung nach § 75 Abs. 2 Alt 2 SGG ist nur, dass bei Ablehnung eines Anspruchs gegen den Beklagten ggf. Ansprüche gegen die Stadt H als Sozialhilfeträger bestehen, wofür die ernsthafte Möglichkeit einer Leistungsverpflichtung genügt. Dies ist bei den auf die laufende Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums gerichteten Leistungen nach §§ 7 ff., 19 ff. SGB II und den Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs. 3 S. 3, 5, 6 SGB XII der Fall, soweit sich die Leistungszeiträume decken (vgl. BSG, Urteil vom 27.01.2021 – B 14 AS 25/20 R ).

Die Verfahrensmängel sind auch wesentlich, weil die Entscheidung des Sozialgerichts auf ihnen beruhen kann (zur Wesentlichkeit des Mangels siehe Keller, a.a.O., SGG, 13. Aufl. 2020, § 159 Rn. 3a). Es ist beim gegenwärtigen Sachstand auch davon auszugehen, dass der vorliegende Verfahrensmangel eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme erforderlich macht.

Im Rahmen seines nach § 159 SGG auszuübenden Ermessens hat der Senat das Interesse der Kläger an einer möglichst zeitnahen Entscheidung gegenüber den Nachteilen durch den Verlust einer Tatsacheninstanz abzuwägen und insbesondere zu berücksichtigen, dass die Zurückverweisung die Ausnahme sein soll (Keller, a.a.O,  § 159 Rn. 5a). Bei der Entscheidung für eine Zurückverweisung hat der Senat berücksichtigt, dass der Rechtsstreit angesichts des bisherigen Ermittlungsausfalls noch weit von einer Entscheidungsreife entfernt ist und weitere Ermittlungen zur Aufklärung des Sachverhalts erforderlich sind. Der Grundsatz der Prozessökonomie führt nicht dazu, dass diese Klage nunmehr abschließend in der Berufungsinstanz zu behandeln ist. Den Beteiligten würde eine Instanz verloren gehen. Durch die Zurückverweisung verbleibt den Beteiligten, einschließlich der noch notwendig Beizuladenden, die Möglichkeit, ihre Rechte in zwei Tatsacheninstanzen zu wahren. Dementsprechend stellt die Zurückverweisung die dem gesetzlichen Modell entsprechenden zwei Tatsacheninstanzen wieder her. Es erscheint deshalb prozessökonomischer, dem SG zunächst Gelegenheit zur Aufklärung des Sachverhalts in rechtskonformer Weise zu geben

Das Sozialgericht wird in seiner Kostenentscheidung schließlich auch über die Kosten der Berufung zu befinden haben.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.

 

Rechtskraft
Aus
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