S 35 AS 619/22

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Detmold (NRW)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
35
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 35 AS 619/22
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Heizkostennachzahlungen, die durch einen Mehrverbrauch im Abrechnungszeitraum entstanden sind, werden – soweit diese angemessen sind – als Bedarf für die Unterkunft und Heizung gemäß § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II im Monat der Fälligkeit in tatsächlicher Höhe anerkannt.

2. Eine Übernahme der erst nach Haftantritt und Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 4 S. 1, 2 SGB II fällig gewordenen Heizkostenabrechnung für den vergangenen Bewilligungszeitraum scheidet grundsätzlich aus.

3. Der Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung im Sinne des § 7 Abs. 4 S. 2 SGB II schließt die Anwendbarkeit des § 7 Abs. 4 S. 3 Nr. 2 SGB II nicht aus, wenn eine Erwerbstätigkeit von mindestens 15 Stunden unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts tatsächlich ausgeübt wird.

Urteil | Grundsicherung für Arbeitsuchende - Bedarfe für die Unterkunft und Heizung - Heizkostennachzahlung als aktueller Bedarf im Fälligkeitsmonat - fehlende Übernahmefähigkeit von Heizkostennachzahlungen bei Leistungsausschluss aufgrund von Haftantritt vor Fälligkeit | § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II, § 7 Abs. 4 S. 1, 2, 3 Nr. 2 SGB II.

 

         Die Klage wird abgewiesen.

        Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

        Die Berufung wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Ablehnung der Übernahme einer Heizkostennachzahlung für den Abrechnungszeitraum vom 19.02.2019 bis 21.01.2020.

Der Kläger stand in der Vergangenheit im laufenden Bezug von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Die Beklagte bewilligte jenem mit Bewilligungsbescheid vom 08.01.2019 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 27.05.2019 Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 01.02.2019 bis 31.01.2020. Dabei berücksichtigte sie im Rahmen der Leistungsbewilligung Regelbedarfsleistungen in Höhe von 424,00 Euro, einen Mehrbedarf für dezentrale Warmwasseraufbereitung in Höhe von 9,75 Euro und anteilige Mietzinsaufwendungen für die mit Frau T gemeinsam angemietete Wohnung in Höhe von (Grundmiete 200,00 Euro + Nebenkosten 25,00 Euro + Heizkosten 35,00 Euro =) 260,00 Euro und einen Betrag für weitere Heizkosten in Höhe von 5,80 Euro monatlich.

Der Kläger legte am 15.11.2019 eine Haftbescheinigung über die Inhaftierung in der Justizvollzugsanstalt C für die Zeit ab November 2019 vor. Aus der Bescheinigung ging zunächst ein voraussichtlicher Austritt zum 00.00.2020 hervor.

Mit Aufhebungsbescheid vom 18.11.2019 hob die Beklagte sodann die bisherige Bewilligung für die Zeit ab dem 01.12.2019 auf. Zur Begründung trug sie vor, dass der Kläger seit dem 00.00.2019 inhaftiert und deshalb die Bewilligung ab dem 01.12.2019 aufzuheben sei.

Der Kläger reichte am 26.03.2020 die Schlussabrechnung des Energieversorgers für die Zeit vom 19.02.2019 bis 21.01.2020 ein. Diese wies eine Nachforderung in Höhe von 614,08 Euro auf. Die noch offene Forderung war dabei bis zum 25.03.2020 zu zahlen.

Die Beklagte legte das Einreichen als Antrag des Klägers auf Übernahme der Heizkosten aus und lehnte diesen Antrag mit Ablehnungsbescheid vom 27.03.2020 ab. Zur Begründung trug sie vor, dass der Kläger sich zum Fälligkeitszeitpunkt der Nachforderung nicht im Leistungsbezug befunden habe. Eine Zahlung sei daher nicht möglich.

Der Kläger legte am 16.04.2020 Widerspruch gegen den Ablehnungsbescheid vom 27.03.2020 ein. Zur Begründung trug er vor, dass er bis einschließlich November 2019 im Leistungsbezug gewesen sei.

Die Beklagte wies den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 18.09.2020 als unbegründet zurück. Zur Begründung trug sie vor, dass dieser im maßgeblichen Fälligkeitszeitpunkt nicht leistungsberechtigt nach dem SGB II gewesen sei. Er halte sich seit dem 00.00.2019 in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung auf. Auch sei er nicht unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 15 Stunden wöchentlich erwerbstätig.

Der Kläger hat am 19.10.2020 Klage erhoben.

Er trägt vor, dass ihm nicht die vollen Heizkosten gezahlt worden seien. Anhand der Akte sei ersichtlich, dass über Monate hinweg nur die Hälfte der maßgebenden Heizkosten gezahlt worden sei. Im laufenden Leistungsbezug seien zu geringe Heizkosten gezahlt worden. Frau T sei in der Zeit nach seiner Inhaftierung ausgezogen. Der auf sie entfallende Anteil an den Heizkosten sei nicht gezahlt worden.

Der Kläger beantragt schriftsätzlich sinngemäß,

die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 27.03.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18.09.2020 zu verurteilen, ihm Leistungen nach dem SGB II in Gestalt der noch offenen 118,64 Euro zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung verweist die Beklagte im Wesentlichen auf ihre Ausführungen im Widerspruchsverfahren. Ergänzend trägt sie vor, dass sie dem Kläger den auf ihn entfallenden Anteil in Höhe von 42,50 Euro monatlich an Heizkosten bewilligt und ausgezahlt habe. Ab dem Zeitpunkt der Inhaftierung am 00.00.2019 sei er aufgrund seiner Inhaftierung von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen gewesen. Ein Anspruch auf Kostenübernahme bestehe nicht. Eine fällige Heizkostenforderung erhöhe den Bedarf im Fälligkeitsmonat. Im Zeitpunkt der Fälligkeit der Nachforderung habe er sich in Haft befunden und sei von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen gewesen.

Die Beteiligten haben am 06.05.2022 und 25.05.2022 ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erklärt.

Der Kläger ist laut weiterer Haftbescheinigung der Justizvollzugsanstalt I seit dem 00.00.2019 bis voraussichtlich zum 00.00.2024 in Haft. Am 26.07.2021 hat er eine Korrekturabrechnung des Energieversorgers eingereicht, aus dem sich für den Zeitraum vom 19.02.2019 bis 21.01.2020 eine Reduktion der offenen Heizkostenabrechnung auf einen Betrag in Höhe von 118,64 Euro und eine Zahlungsfrist bis zum 14.07.2021 ergab.

Zur weiteren Darstellung des Sach- und Streitstands und bezüglich des Vortrags der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen. Diese waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.

 

Entscheidungsgründe:

Das Gericht hat vorliegend ohne mündliche Verhandlung entscheiden. Die Beteiligten haben schriftlich ihr Einverständnis zur Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 SGG erklärt. Das Einverständnis ist vor der Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nicht widerrufen worden.

SGB II.

Streitgegenständlich ist in Ansehen des Meistbegünstigungsgrundsatzes die Ablehnung der Übernahme der noch offenen Nebenkostennachzahlung in Höhe von 118,64 Euro.

Das Klagebegehr war im Rahmen der Meistbegünstigung so auszulegen, dass der Kläger die Übernahme des in der Korrekturrechnung vom 28.06.2022 genannten noch offenen Betrags begehrt, auch wenn er im Schriftsatz vom 18.05.2022 sich auf eine Minderung des Streitwerts auf einen Betrag in Höhe von 112,00 Euro bezieht. Der anwaltlich nicht vertretene Kläger bezieht sich nach dem vorliegenden Kontext auf die im Klageverfahren eingereichte Korrekturabrechnung vom 28.06.2022. Das Gericht ist nach § 123 SGG nicht an die Fassung des Antrags gebunden, sondern an das erkennbare Klagebegehren bei Einreichung der Klage, welches insbesondere bei nicht vertretenen Klägern nach dem sog. Prinzip der Meistbegünstigung auszulegen ist (vgl. zur Meistbegünstigung: Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 27.09.2011 – B 4 AS 160/10 R Rn. 14 m.w.N). Ungeachtet des Wortlauts des Antrags ist jedenfalls bei einem nicht vertretenen Kläger regelmäßig dasjenige gewollt, was ihm den größten Nutzen bringen kann. Die Auslegung der Anträge muss sich daher danach richten, was als Leistung möglich ist, wenn jeder verständige Antragsteller mutmaßlich seinen Antrag bei entsprechender Beratung angepasst hätte und keine Gründe zur Annahme eines abweichenden Verhaltens vorliegen. Insofern ist aufgrund der inhaltlichen Ausführungen des Klägers die Abänderung der behördlichen Entscheidung durch das Gericht insoweit begehrt, dass die noch offenen Heizkosten vollständig durch die Beklagte beglichen werden sollen.

Die so verstandene und als Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 1 S. 1 Alt. 1, Abs. 4 SGG statthafte Klage und im Übrigen zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg.

Die Klage hat in der Sache keinen Erfolg. Der Kläger ist durch den Ablehnungsbescheid vom 23.03.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18.09.2020 nicht beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 S. 1 SGG. Der angegriffene Bescheid ist rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Übernahme der noch offenen Heizkosten in Höhe von 118,64 Euro aus der Heizkostenabrechnung vom 09.03.2020 in der Fassung der Korrekturrechnung vom 28.06.2022.

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Beihilfe für die beantragten Heizkosten aus § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II. Zum Zeitpunkt der Fälligkeit der Heizkosten war er nicht im Leistungsbezug nach dem SGB II und von den Leistungen nach dem SGB II gemäß § 7 Abs. 4 S. 1, 2 SGB II ausgeschlossen. Zwar gehören bei Mietwohnungen auch Heizkosten grundsätzlich zu den erstattungsfähigen Aufwendungen, wobei auch Heizkostennachzahlungen umfasst sind. Nach § 22 Abs. 1 SGB II werden Bedarfe für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit diese angemessen sind. Den Unterkunftskosten zuzurechnen sind auch Nebenkostennachzahlungen für einen Mehrverbrauch im Abrechnungszeitraum. Durch die Nachforderung tritt eine wesentliche Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 48 des Zehnten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB X) ein (Piepenstock in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 22 Rn. 62). Die Nachforderung ist jedoch als tatsächlicher Bedarf im Monat der Fälligkeit zu berücksichtigen. Maßgeblich ist, dass der Leistungsberechtigte zu dem Zeitpunkt, in dem die Aufwendungen tatsächlich entstanden sind und in dem der Bedarf für die Nachforderung entstanden ist, im Leistungsbezug steht und der Bedarf nicht anderweitig gedeckt worden ist (Piepenstock in: a.a.O. Rn. 62). Dahinstehen kann dabei, ob auf den Zeitpunkt der Fälligkeit der Abschlussrechnung vom 09.03.2020 am 25.03.2020 oder auf den Zeitpunkt der Korrekturrechnung vom 28.06.2021 am 14.07.2021 abzustellen ist. Der Kläger war im Zeitpunkt der Fälligkeit beider Forderungen nicht leistungsberechtigt nach dem SGB II. Er befindet sich ausweislich der vorliegenden Haftbescheinigungen vom 00.00.2019 und 00.00.2020 seit dem 00.00.2019 bis zum 00.00.2024 in Haft. Nach § 7 Abs. 4 S. 1 SGB II erhält Leistungen nach dem SGB II nicht, wer in einer stationären Einrichtung untergebracht ist, Rente wegen Alters oder Knappschaftsausgleichsleistung oder ähnliche Leistungen öffentlich-rechtlicher Art bezieht. Dem Aufenthalt in einer stationären Einrichtung ist der Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung nach § 7 Abs. 4 S. 2 SGB II gleichgestellt. § 7 Abs. 4 S. 2 SGB II erfasst richterlich angeordnete Freiheitsentziehungen in allen Rechtsbereichen. Erfasst wird jede Vollzugsform, insbesondere auch der „offene Vollzug“ (Geiger in: Münder/Geiger, SGB II - Grundsicherung für Arbeitsuchende, SGB II § 7 Rn. 151-156).

Dahinstehen kann, ob die Rückausnahme nach § 7 Abs. 4 S. 3 Nr. 2 SGB II im Falle des Aufenthalts in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung greift. Der Kläger hat die Ausübung einer Tätigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes von mindestens 15 Stunden wöchentlich im Klageverfahren weder vorgetragen noch nachgewiesen. Nach § 7 Abs. 4 S. 3 Nr. 2 SGB II erhält abweichend von § 7 Abs. 4 S. 1 SGB II Leistungen nach dem SGB II, wer in einer stationären Einrichtung nach S. 1 untergebracht und unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 15 Stunden wöchentlich erwerbstätig ist. Auch wenn sich nach dem Wortlaut des § 7 Abs. 4 S. 3 Nr. 2 SGB II die Rückausnahme des § 7 Abs. 4 S. 3 Nr. 2 SGB II lediglich auf die Unterbringung in einer stationären Einrichtung im Sinne des § 7 Abs. 4 S. 1 SGB II bezieht, schließt der Wortlaut des § 7 Abs. 4 S. 2 SGB II, der mit der Gleichstellung des Aufenthalts in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung mit dem der stationären Einrichtung eine Gleichstellung des Aufenthalts nach § 7 Abs. 4 S. 2 SGB II mit dem des § 7 Abs. 4 S. 1 SGB II fordert, eine Anwendbarkeit nicht aus. Dafür spricht jedenfalls der Resozialisierungsgedanke, der den Staat verpflichtet, schädliche Auswirkungen des Freiheitsentzuges auf die Inhaftierten im Rahmen des Möglichen abzuwenden (Geiger in: a.a.O Rn. 157f.). § 7 Abs. 4 S. 3 Nr. 2 SGB II setzt jedoch eine tatsächliche Erwerbstätigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts voraus, wobei die bloße Möglichkeit, aus der Einrichtung heraus einer Beschäftigung unter arbeitsmarktüblichen Bedingungen nachzugehen, nicht ausreichend ist. Vielmehr muss eine tatsächliche Ausübung der Erwerbstätigkeit vorliegen (Geiger in: a.a.O.).

Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 183, 193 SGG und folgt der Entscheidung in der Sache.

Gründe für eine Berufungszulassung, über die zu entscheiden ist, da lediglich über die noch offene Nachzahlungssumme in Höhe von 118,64 Euro zu entscheiden war, und damit um weniger als 750,00 EUR gestritten wird (§§ 105 Abs. 2 S. 1 SGG, 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGG), bestehen nicht.

Rechtskraft
Aus
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