L 9 SF 274/22 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
9
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 22 SO 289/22 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 9 SF 274/22 ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Der Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung aus dem Beschluss des Sozialgerichts Düsseldorf vom 28.09.2022 wird abgelehnt.

Die Antragstellerin hat die Kosten der Antragsgegnerin für das Verfahren nach § 199 Abs. 2 SGG zu erstatten.

 

Gründe

 

Die Entscheidung beruht auf § 199 Abs. 2 SGG. Danach kann der Vorsitzende des Gerichts, das über das Rechtsmittel zu entscheiden hat, die Vollstreckung durch einstweilige Anordnung aussetzen, wenn das Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung hat.

 

Der Aussetzungsantrag ist zulässig. Der angefochtene Beschluss des Sozialgerichts vom 28.09.2022 ist ein vollstreckbarer Titel (§ 199 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Die statthafte und auch im Übrigen zulässige Beschwerde hat keine aufschiebende Wirkung (§ 175 Satz 1 und 2 SGG).

 

Der Antrag ist unbegründet.

 

Die Anordnung, die Vollstreckung einstweilen auszusetzen, ist eine Ermessensentscheidung (BSG Beschluss vom 08.12.2009 - B 8 SO 17/09; LSG Nordrhein-Westfalen Beschlüsse vom 04.02.2020 – L 7 SF 28/20 ER, vom 03.12.2014 - L 19 SF 801/14 ER und vom 16.07.2014 - L 6 SF 556/14 ER; LSG Baden-Württemberg Beschluss vom 26.01.2006 - L 8 AS 403/06 ER). Sie erfordert regelmäßig eine Abwägung des Interesses des Gläubigers an der Vollziehung mit dem Interesse des Schuldners, nicht vor der Beendigung des Instanzenzugs leisten zu müssen. Für die einstweilige Aussetzung der Vollstreckung bedarf es regelmäßig besonderer rechtfertigender Umstände, die über die Nachteile hinausgehen, die für den Antragsteller mit der Zwangsvollstreckung aus einem noch nicht rechtskräftigen Titel also solcher regelmäßig verbunden sind. Dies folgt aus der Entscheidung des Gesetzgebers, dass die Rechtsmittel Berufung und Beschwerde grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung haben (§§ 154, 175 SGG, hierzu auch BSG Beschluss vom 05.09.2001 - B 3 KR 47/01 R). Für die Aussetzung der Vollstreckung aus einer einstweiligen Anordnung kommt hinzu, dass schon das in der Hauptsache geführte Eilverfahren darauf gerichtet ist, effizienten Rechtsschutz unter Abwägung der widerstreitenden Interessen zu gewährleisten (so etwa BVerfG Beschluss vom 10.10.2013 - 1 BvR 2025/03). Daher bedarf es für eine vorläufige Aussetzung der Vollstreckung nach § 199 Abs. 2 SGG der Glaubhaftmachung weiterer schwerer und unzumutbarer, nicht anders abwendbarer Beeinträchtigungen, die durch die Entscheidung über die Beschwerde auch angesichts des Umstands, dass es sich auch beim Beschwerdeverfahren um ein Eilverfahren handelt, nicht mehr beseitigt werden können. Sind existenzsichernde Leistungen zum Lebensunterhalt im Streit, ist zudem zu berücksichtigen, dass deren Gewährung einer verfassungsrechtlichen, dem Schutz der Menschenwürde dienenden Pflicht des Staates entspricht (BVerfG Beschluss vom 23.07.2014 - 1 Bvl 10/12, 1 BvL 12/12, 1 BvR 1691713). Auch deshalb müssen in diesen Fällen die Interessen des Antragstellers gegenüber der existenzsichernden Funktion der zuerkannten Leistungen für den Antragsgegner deutlich überwiegen (ähnlich Bayerisches LSG Urteil vom 08.02.2006 - L 10 AS 17/06 ER; LSG Baden-Württemberg Beschluss vom 24.06.2008 - L 7 AS 2955/08 ER). Damit verengt sich der Anwendungsbereich des § 199 Abs. 2 SGG in Eilverfahren nach dem SGB XII auf Fallgestaltungen, in denen die Vollstreckung gegen den Leistungsträger ganz erheblich über die Nachteile hinausgeht, die für ihn regelmäßig mit der Zwangsvollstreckung aus dem Titel ohnehin verbunden sind (zum Ausnahmecharakter einer Aussetzung der Vollstreckung vergl. BVerfG Beschluss vom 04.08.2016 - 1 BvR 380/16; in diesem Sinne auch LSG Nordrhein-Westfalen Beschlüsse vom 04.02.2020 – L 7 SF 28/20 ER, vom 18.11.2019 - L 7 SF 401/19 ER, vom 31.10.2016 - L 7 SF 449/16 ER, vom 09.01.2015 - L 7 SF 928/14 ER; vom 16.03.2016 - L 19 SF 123/16 ER, vom 03.12.2014 - L 19 SF 801/14 ER, vom 04.11.2014 - L 19 SF 725/14 ER, vom 12.09.2013 - L 19 SF 267/13, vom 16.07.2014 - L 6 SF 556/14 und vom 22.05.2014 - L 6 SF 450/14 ER). Die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels sind insoweit zu berücksichtigen, als bei offensichtlicher Rechtswidrigkeit der angefochtenen Entscheidung die Vollzugsaussetzung regelmäßig angeordnet werden sollte.

 

Die Antragstellerin hat mit der Beschwerde und dem Vollstreckungsschutzantrag keine besonderen rechtfertigenden Umstände vorgetragen, die über die Nachteile hinausgehen, die mit der Vollstreckung aus einem nicht rechtskräftigen Titel ohnehin verbunden sind. Die Entscheidung ist weder offensichtlich rechtswidrig, noch liegen andere Gesichtspunkte vor, die eine Aussetzung unter Berücksichtigung der oben dargelegten Maßstäbe als geboten erscheinen lassen. Vielmehr hat das Sozialgericht zu Recht und mit zutreffender Begründung, auf die der Senat ergänzend verweist, die Antragstellerin und Beschwerdeführerin zur Leistungszahlung verpflichtet.

 

Der Beschluss verpflichtet die Antragstellerin, Leistungen „nach § 23 Abs. 3 Satz 6 iVm § 23 Abs. 3 Satz 5 Nr. 1-3 SGB XII“ (Überbrückungsleistungen) zu zahlen. Auch im einstweiligen Rechtsschutz ist in entsprechender Anwendung von § 130 Abs. 1 Satz 1 SGG die Verpflichtung des Leistungsträgers lediglich dem Grunde nach zulässig, die Vollstreckung erfolgt dann in entsprechender Anwendung von § 201 SGG mittels Zwangsgeldandrohung und -festsetzung (Schmidt in Meyer-Ladewig, SGG, 13. Aufl., § 201 Rn. 2a; Wündrich, SGb 2009, 267 ff). Die Bezeichnung der Leistungen als vorläufig wäre nicht erforderlich gewesen, da ein Beschluss im einstweiligen Rechtsschutz naturgemäß nur eine einstweilige Regelung trifft (LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 04.02.2020 – L 7 SF 28/20 ER), beschwert die Antragstellerin des Vollstreckungsschutzverfahrens aber nicht. Gleiches gilt für die Verpflichtung, die Leistung „ darlehensweise“ zu erbringen.

 

Das Beschwerdevorbringen rechtfertigt eine Aussetzung der Vollstreckung nicht. Der Anspruch auf Leistungen nach § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII setzt nicht immer voraus, dass ein Ausreisewille feststellbar ist. Es ist nicht anzunehmen, dass der Gesetzgeber Unionsbürger gerade dann leistungslos lassen wollte, wenn die den Leistungsausschluss begründende Rückkehroption in das Herkunftsland sich gerade nicht verwirklichen lässt und die Verweigerung von Leistungen sich als unzumutbare besondere Härte darstellt (Beschluss des Senats vom 07.04.2022 – L 9 SO 295/20; LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 28.03.2018 - L 7 AS 115/18 B ER; LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 20.06.2017 – L 15 SO 104/17 B ER). Da es schon aus verfassungsrechtlichen Gründen zwingend ist, einem sich erlaubt im Bundesgebiet aufhaltenden Ausländer für die Dauer seines tatsächlichen Aufenthalts existenzsichernde Leistungen zu gewähren, ist § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII zudem verfassungskonform dahin auszulegen, dass auch bei nicht befristeten besonderen Bedarfslagen und damit für die tatsächliche Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet existenzsichernde Sozialleistungen tatsächlich zu gewähren und die bestehenden Bedarfe zu decken sind (Siefert in JurisPK SGB XII § 23 Rn. 108).

 

Der von der Antragstellerin in Bezug genommenen Entscheidung des 12. Senats des LSG Nordrhein-Westfalen vom 06.10.2021 – L 12 AS 1004/20 folgt der erkennende Senat nicht. Der unbestimmte Rechtsbegriff der „besonderen Härte“ iSd § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII ist verfassungskonform auszulegen. Die Auffangvorschrift des § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII dient gerade dazu, einen mit dem Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum nicht zu vereinbarenden vollständige Ausschluss von Hilfeleistungen (dazu Deckers in Grube/Wahrendorf/Flint, SGB XII, 7. Aufl. § 23 Rn. 76; Siefert in JurisPK SGB XII § 23 Rn. 108) zu vermeiden. Wenn die Verweigerung von Leistungen damit zu einem nicht verfassungsgemäßen Ergebnis führen würde, können weitere ungeschriebene Tatbestandsvoraussetzungen für einen Anspruch nicht gefordert werden (so auch LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 28.03.2018 – L 7 AS 115/18 B ER).

 

Nach Aktenlage stellt die Verweigerung existenzsichernder Leistungen vorliegend eine besondere Härte dar. Eine besondere Härte zeichnet sich dadurch aus, dass sie nicht für alle vom Leistungsausschluss betroffenen Personen typisch ist, also über die mit dem reduzierten Leistungsumfang typischerweise verbundenen Härten in der Person des Leistungsberechtigten individuelle Besonderheiten hinzutreten (Siefert in JurisPK SGB XII § 23 Rn. 106 mwN). Die nach unwidersprochener Aktenlage bei der Antragsgegnerin bestehende schwere Demenz mit intensiver Pflegebedürftigkeit und daraus folgender Notwendigkeit einer Betreuung und Unterstützung durch den in Deutschland lebenden Sohn sowie Transportunfähigkeit bedingen derzeit eine besondere Härte. Es ist der Antragsgegnerin offensichtlich weder möglich noch zumutbar, ohne familiäre Betreuung nach Kroatien zurückzukehren. Die Antragstellerin hat mit ihrer Beschwerde auch keine Wege aufgezeigt, wie das zu bewerkstelligen sein sollte.

 

Schließlich nimmt die angefochtene Entscheidung die Hauptsache nicht unzulässig vorweg. Eine Vorwegnahme der Hauptsache liegt nur vor, wenn die angeordnete Maßnahme nicht mehr nachträglich für die Vergangenheit korrigierbar ist (BSG Urteil vom 13.12.2016 - B 1 KR 1/16 R). Bei der Verpflichtung zur Zahlung von Geldleistungen liegt eine Vorwegnahme der Hauptsache daher nur vor, wenn eine spätere Rückforderung im Fall des Obsiegens des Leistungsträgers aus rechtlichen Gründen ausgeschlossen ist. Evtl. wirtschaftliche Schwierigkeiten des Schuldners bei der Rückerstattung der Leistungen begründen keine Unmöglichkeit der Rückabwicklung und Vorwegnahme der Hauptsache (LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 04.02.2020 – L 7 SF 28/20 ER; Keller in: Meyer-Ladewig, SGG, 13. Aufl., § 86b Rn. 31).

 

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

 

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).

 

 

Rechtskraft
Aus
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