Ein Betroffener, der einen auf eine höhere Leistung gerichteten Überprüfungsantrag stellt, strebt regelmäßig außer dem Maximalziel, die begehrte Leistung rückwirkend zu erhalten, auch das weniger weitreichende Ziel an, die Leistung wenigstens vom Zeitpunkt seines Neuprüfungsantrages an zu beziehen (Bezug auf BSG, Urteil vom 5. November 1997 - 9 RV 4/96).
Ob die Maßnahme einer Behörde die Merkmale eines Verwaltungsakts erfüllt, ist nicht nach dem Willen der Behörde, sondern nach ihrem objektiven Erklärungswert zu beurteilen. Maßgebend ist, wie der Empfänger sie unter Berücksichtigung der ihm erkennbaren Umstände bei objektiver Würdigung verstehen muss; Unklarheiten gehen zu Lasten der Verwaltung (Bezug auf BVerwG, Urteil vom 17. August 1995 - 1 C 15/94).
Nach § 9 Abs. 4 Satz 1 AsylbLG in Verbindung mit § 44 Abs. 1 SGB X ist der Leistungsträger - abweichend von § 51 VwVfG - dazu verpflichtet, auch bei wiederholten Anträgen über die Rücknahme entgegenstehender Verwaltungsakte und die Gewährung der beanspruchten Sozialleistung zu entscheiden (Bezug auf BSG, Urteil vom 11. November 2003 - B 2 U 32/02 R).
Die Ausländerbehörde darf nicht ohne weitere Aufklärung des Sachverhalts davon ausgehen, dass die Betroffenen flüchtig seien, weil sie zur unangekündigten Überstellung nach Polen in der Gemeinschaftsunterkunft nicht angetroffen worden sind. Die Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet wird von einem Betroffenen nicht aufgrund bloßer Zuschreibung eines Sachbearbeiters rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst.
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- Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 11. Oktober 2021 wird zurückgewiesen.
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- Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Kläger auch für das Berufungsverfahren.
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- Die Revision wird nicht zugelassen.
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Tatbestand
Die Kläger begehren Leistungen nach § 2 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) für die Zeit vom 1. Januar 2019 bis zum 30. November 2019.
Die Kläger sind russische Staatsangehörige tschetschenischer Nationalität. Die Kläger zu 1 bis 4 (in der angegebenen Reihenfolge geboren 1988, 1990,
2011 und 2014) reisten am 19. Juli 2016 in das Bundesgebiet ein und wurden zur Durchführung des Asylverfahrens dem beklagten Landkreis zugewiesen. Ihre am 27. Juli 2016 gestellten Asylanträge lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) mit (bestandskräftigem) Bescheid vom 8. November 2016 als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung der Kläger nach Polen an, da dieser Mitgliedstaat nach der Dublin III-Verordnung für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sei.
Die Klägerin zu 5 wurde 2017 im Bundesgebiet geboren. Nachdem die Überstellungsfrist nach der Dublin III-Verordnung verstrichen war, hob das BAMF den Bescheid vom 8. November 2016 auf und übernahm das Asylverfahren der Kläger in das nationale Verfahren. Die Asylfolgeanträge sämtlicher Kläger lehnte das BAMF sodann mit Bescheiden vom 8. November 2018, 9. November 2018 und vom 13. November 2018 ab. Die dagegen erhobenen Klagen der Kläger zu 1 und 2 wies das Verwaltungsgericht Dresden ab mit Urteilen vom 13. Mai 2019 (Az.: 1 K 2545/18.A sowie 1 K 2589/18.A). Die Anträge der Kläger zu 1 und 2 auf Zulassung der Berufung lehnte Sächsische Oberverwaltungsgericht ab (Beschlüsse vom 17. März 2020 – 2 A 763/19.A und 2 A 765/19.A). Während des streitgegenständlichen Zeitraums verfügten die Kläger über Aufenthaltsgestattungen. Im Anschluss an die Entscheidungen des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts stellte der Beklagte den Klägern Duldungen aus.
Der Beklagte gewährte den Klägern mit Bescheid vom 14. September 2016 an Grundleistungen nach § 3 AsylbLG in Höhe von zunächst 988 Euro monatlich (anteilig für September 2016: 559,88 Euro). Die Kosten für Unterkunft und Heizung übernahm der Beklagte als Sachleistung durch Unterbringung der Kläger in einer Gewährswohnung in der Straße "G…." in H.... . Über Einkommen und Vermögen verfügen die Kläger nach den in den Akten befindlichen Unterlagen seit ihrer Einreise in das Bundesgebiet nicht. Ausweislich des Befundberichts des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie V... vom 31. Mai 2017 leidet der Kläger zu 1 an einer posttraumatischen Belastungsstörung infolge Folter (Stromschläge) und Haft. Zudem besteht eine dialysepflichtige Niereninsuffizienz. Der Kläger zu 1 ist für eine Nierentransplantation vorgesehen. Die schwere psychische Erkrankung des Klägers zu 1 bestätigte die Amtsärztin I.... in ihrer Stellungnahme vom 16. März 2018; demnach sei die ambulante psychiatrische Behandlung zwingend erforderlich.
Vom 1. September 2017 bis zum Ablauf der Überstellungsfrist nach Polen am 3. Juni 2018 gewährte der Beklagte den Klägern zu 1 und 2 nur einschränkte Leistungen nach § 1a Abs. 2 AsylbLG (a.F.), da die Familie am 31. Mai 2017 und am 22. August 2017 ihre – zuvor vom Beklagten nicht angekündigte - Überstellung nach Polen dadurch verhindert habe, dass sie in ihrer Gewährswohnung nicht vollzählig anzutreffen gewesen sei (Bescheid vom 24. August 2017). Ab dem 4. Juni 2018 zahlte der Beklagte wieder Grundleistungen nach § 3 AsylbLG (Bescheid vom 29. Juni 2018). Aufgrund des richterlichen Hinweises während der mündlichen Verhandlung am 11. Oktober 2021 vor dem Sozialgericht Dresden, wonach der Beklagte die Kläger zu 1 und 2 vor Erlass des Bescheides vom 24. August 2017 nicht ordnungsgemäß angehört habe, nahm dieser die Entscheidung über die Bewilligung nur eingeschränkter Leistungen für die Zeit vom 1. September 2017 bis zum 3. Juni 2018 zurück und zahlte die Differenzbeträge zu den zustehenden Grundleistungen nach § 3 AsylbLG nach.
Den Antrag der Kläger vom 16. Juli 2018, ihnen Analogleistungen nach § 2 AsylbLG zu gewähren, lehnte der Beklagte ab (Bescheid vom 24. September 2018). Die Kläger hätten zunächst einen Asylantrag in Polen gestellt, seien dann aber nach Deutschland weitergewandert. Die gescheiterte Abschiebung nach Polen am 31. Mai 2017 hätten sie selbst zu verantworten, da die Eltern ihre Kinder versteckt hätten. Zudem habe der Kläger zu 1 das Bundesgebiet am 10. Juli 2017 verlassen. Der Bescheid ist bestandskräftig geworden. In den Verwaltungsakten befindet sich eine Mitteilung der Bundespolizeiinspektion J.... vom 7. Juli 2017. Demnach wurde der Kläger zu 1 am Grenzübergang von Polen kommend wegen der Einschleusung einer tschetschenischen Familie angezeigt. Bei ihm wurden die russischen Reisepässe der Kläger zu 3 und 4 aufgefunden, die er nach eigenem Bekunden von der Ausländerbehörde in Warschau abgeholt habe. Im Bescheid vom
12. März 2020 führt der Beklagte ohne nähere Erläuterung aus, dass der Kläger zu 1 eine Grenzübertrittsbescheinigung besessen habe (offensichtlich mit dem Ziel, ihm die freiwillige Ausreise zu ermöglichen), die bis zum 21. September 2017 gültig gewesen sei.
Mit Schreiben vom 3. Januar 2019 beantragten die Kläger erneut die Gewährung von Leistungen nach § 2 AsylbLG. Der Beklagte führte daraufhin in seinem an die Kläger adressierten Schreiben vom 15. Januar 2019 aus, dass er die Gewährung von Analogleistungen nach § 2 AsylbLG bereits mit Bescheid vom 24. September 2018 abgelehnt habe, der inzwischen bestandskräftig geworden sei, und sich nach aktueller Sachlage keine Änderungen zu dieser Entscheidung ergeben würden. Gegen das Schreiben des Beklagten vom
15. Januar 2019 wandten sich die Kläger mit ihrem Widerspruch vom 19. Juni 2019 an den Beklagten. Ihnen stünden Analogleistungen nach § 2 AsylbLG zu, da sie sich bereits seit mehr als 15 Monaten im Bundesgebiet aufhielten, ohne die Dauer ihres Aufenthalts rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst zu haben. Da der Beklagte sein Schreiben vom 15. Januar 2019 nicht mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen habe, sei der Widerspruch rechtzeitig eingelegt worden innerhalb der Jahresfrist. Der sodann beauftragte Prozessbevollmächtigte der Kläger ergänzte die Ausführungen im Schreiben vom 5. Juli 2019 dahin, dass es sich beim Schreiben vom 3. Januar 2019 in rechtlicher Hinsicht um einen Überprüfungsantrag nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) gehandelt habe, der vom Beklagten abschlägig verbeschieden worden sei mit Schreiben vom 15. Januar 2019.
Die Landesdirektion Sachsen – Zentrale Ausländerbehörde – verwarf den Widerspruch der Kläger als unzulässig (Widerspruchsbescheid vom 31. Januar 2020). Bei dem Schreiben des Beklagten vom 15. Januar 2019 handele es sich um keinen Verwaltungsakt, sondern um einen bloßen Hinweis darauf, dass der Bescheid über die Ablehnung von Analogleistungen nach § 2 AsylbLG vom 24. September 2018 bereits bestandskräftig geworden sei. Entsprechend der Ausführungen des Prozessbevollmächtigten der Kläger im Schreiben vom 5. Juli 2019, wonach es sich bei deren Schreiben vom 3. Januar 2019 um einen Überprüfungsantrag handele, sei der Beklagte dazu gehalten gewesen zu entscheiden, ob er mit Blick auf die Bestandskraft des genannten Bescheides in eine Sachprüfung einzutreten habe. Da sich die Sach- und Rechtslage nicht geändert habe und weder neue Beweismittel vorgelegt noch Wiederaufnahmegründe vorgetragen worden seien, habe der Beklagte die erneute Sachprüfung verweigern und das Verfahren unter Hinweis auf den bestandskräftigen Bescheid vom 24. September 2019 in Form einer wiederholenden Verfügung abschließen dürfen (Bezug auf Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 3. April 2001 – B 4 RA 22/00 R – juris Rn. 28).
Aufgrund des Bescheides vom 3. Januar 2020 erhalten die Kläger vom Beklagten Leistungen nach § 2 AsylbLG ab dem 1. Dezember 2019, da sich diese nach Ablauf der Überstellungsfrist am 3. Juni 2018 über 18 Monate im Bundesgebiet aufgehalten hätten, ohne seither die Dauer ihres Aufenthalts rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst zu haben.
Gegen das Schreiben des Beklagten vom 15. Januar 2019 in der Fassung des Bescheides vom 3. Januar 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Januar 2020 hat sich die am 28. Februar 2020 vor dem Sozialgericht Dresden erhobene Klage gerichtet. Der Beklagte habe verkannt, dass er auf das Schreiben der Kläger vom 3. Januar 2019 unter Beachtung des Meistbegünstigungsgrundsatzes dazu verpflichtet gewesen sei, den Ablehnungsbescheid vom 24. September 2018 nach § 44 SGB X zu überprüfen. Dabei habe er das Recht unrichtig angewandt. Die Kläger hätten sich seinerzeit länger als 15 Monate im Bundesgebiet aufgehalten, wobei ein kurzer Auslandsaufenthalt dieser Wertung nicht zuwiderlaufe. Im Gegensatz zur Ansicht des Beklagten hätten die Kläger auch vor Ablauf der Überstellungsfrist die Dauer ihres Aufenthalts nicht selbst rechtsmissbräuchlich beeinflusst, da ihnen der Termin der Abschiebung nicht mitgeteilt worden sei. Darüber hinaus sei in diesem Zusammenhang die seinerzeitige Schwangerschaft der Klägerin zu 2 zu berücksichtigen sowie im Falle des Klägers zu 1 die schwere psychische Erkrankung. Der Beklagte habe es vor der in Aussicht genommenen Abschiebung versäumt, bei den polnischen Behörden zu erfragen, ob die Kläger angemessen untergebracht werden könnten. Der Verzicht darauf führe zur Verfassungswidrigkeit der Abschiebung (Bezug auf Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss vom 10. Oktober 2019 – 2 BvR 1380/19).
Das Sozialgericht hat während der mündlichen Verhandlung vom 11. Oktober 2021 darauf hingewiesen, dass der Beklagte am 29. Juni 2018 einen Bescheid über die Gewährung von Grundleistungen nach § 3 AsylbLG erlassen habe, der eine Regelung dahin enthalte, dass die Leistungen in der im Bescheid angegebenen Höhe aufgrund "stillschweigender monatlicher Neubewilligung" weitergezahlt würden, sollten die tatsächlichen Verhältnisse unverändert fortdauern. Deshalb sei nach der Ansicht des Sozialgerichts davon auszugehen, dass den monatlichen Auszahlungen konkludente Leistungsbewilligungen zugrunde gelegen hätten, die rechtlich als Verwaltungsakte ohne Rechtsbehelfsbelehrungen anzusehen seien. Diese seien daher innerhalb der Jahresfrist anfechtbar gewesen, weshalb den Klägern auf den Antrag vom 3. Januar 2019 keine Bestandskraft entgegengehalten werden könne. Daraufhin hat der Prozessbevollmächtigte der Kläger seinen Antrag umgestellt auf ein Anfechtungs- und Leistungsbegehren. Das Sozialgericht hat den Beklagten sodann verurteilt, den Klägern für die Zeit vom 1. Januar 2019 bis zum 30. November 2019 Leistungen nach § 2 AsylbLG zu gewähren und den "Bescheid" vom 15. Januar 2019 sowie den Bescheid vom 3. Januar 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Januar 2020 aufgehoben, soweit sie dem entgegenstünden (Urteil vom 11. Oktober 2021). Zur Begründung hat es darüber hinausgehend ausgeführt, dass es dahinstehen könne, ob sich die Kläger vor Juli 2018 rechtsmissbräuchlich verhalten hätten. Denn selbst wenn dies so gewesen sein sollte, so sei deren Verhalten jedenfalls für die Dauer des Aufenthalts ab Juli 2018 nicht mehr als monokausal anzusehen. Der Ausschluss sogenannter Analogleistungen auf Dauer sei verfassungsrechtlich problematisch (Bezug auf SächsLSG, Beschluss vom 11. Januar 2021 – L 8 AY 10/20 B ER).
Gegen das ihm am 10. November 2021 zugestellte Urteil wendet sich der Beklagte mit der am 8. Dezember 2021 beim Sächsischen Landessozialgericht eingelegten Berufung. Die Kläger seien gemäß § 50 Abs. 4 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) dazu verpflichtet gewesen, Abwesenheiten von mehr als drei Tagen bei der Ausländerbehörde anzuzeigen. Abschiebungshindernisse für die in Aussicht genommene Abschiebung nach Polen hätten nicht bestanden. Die behandlungsbedürftige psychische Erkrankung des Klägers zu 1 sei erst im Laufe des Verfahrens eingetreten. Zu keiner Zeit sei dieser reiseunfähig gewesen. Die Schwangerschaft der Klägerin zu 2 habe diesbezüglich ebenfalls zu keinerlei Einschränkungen geführt. Das Schreiben vom 15. Januar 2019 sei nicht als Verwaltungsakt anzusehen. Vielmehr handele es sich um den Hinweis darauf, dass der Bescheid vom 24. September 2018 bestandskräftig geworden sei. Das Sozialgericht habe den Meistbegünstigungsgrundsatz überdehnt. Denn schließlich habe der Prozessbevollmächtigte der Kläger seine Rechtsbehelfe zunächst gegen das Schreiben vom 15. Januar 2019 gerichtet, ohne sich gegen die – aus der Sicht des Beklagten – "konkludenten" Bescheide über die Bewilligung von Grundleistungen nach § 3 AsylbLG zu wenden. Bezogen auf den erhobenen Anspruch der Kläger auf Analogleistungen nach § 2 AsylbLG habe das Sozialgericht übersehen, dass diese die Dauer ihres Aufenthalts rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst hätten und sie deshalb dauerhaft von solchen Leistungen ausgeschlossen seien, indem sie von Polen – einem Mitgliedstaat der Europäischen Union – nach Deutschland weitergereist seien. Ein rechtsmissbräuchliches Verhalten der Kläger zu 1 und 2 sei auch darin zu erkennen, dass sie sich dem Zugriff staatlicher Behörden durch unangezeigte Abwesenheit entzogen hätten, um auf diese Weise die Überstellung nach Polen zu verhindern. Zu berücksichtigen sei schließlich, dass der Beklagte im Falle der Kläger keinen dauerhaften Ausschluss festgestellt habe. Vielmehr habe er eine teleologische Reduktion dahin vorgenommen, dass die Wartefrist nach § 2 AsylbLG nach Ablauf der Überstellungsfrist erneut zu laufen begonnen habe. Da während dieser Zeit kein rechtsmissbräuchliches Verhalten der Kläger festzustellen gewesen sei, habe der Beklagte ihnen Leistungen nach § 2 AsylbLG ab Dezember 2019 bewilligt.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 11. Oktober 2021 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kläger beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.
Das angefochtene Urteil sei nicht zu beanstanden. Insbesondere hätten sich die Kläger nicht rechtsmissbräuchlich verhalten. Ein Ausländer entziehe sich einer zwangsweisen Überstellung regelmäßig nicht allein durch ein passives – wenn auch möglicherweise pflichtwidriges - Verhalten. Die durch die Abschiebungsanordnung begründete gesetzliche Ausreisepflicht beinhalte keine Verpflichtung zur aktiven Mitwirkung an der eigenen Überstellung. Verweigere er seine Mitwirkung, bedürfe es einer begleiteten Überstellung, die der Ausländer passiv zu dulden habe. Allein der Umstand, dass sich wegen der fehlenden Mitwirkung des Ausländers der für die zwangsweise Überstellung erforderliche Aufwand für die Vollzugsbehörde erhöhe und sein Verhalten womöglich zu einer Verzögerung führe, weil die Behörde keine Vorsorge für eine begleitete Überstellung getroffen habe, stelle objektiv kein "Sichentziehen" dar. Ist der Aufenthalt des Betroffenen der Behörde bekannt, sei es möglich, eine Überstellung jederzeit unter Anwendung unmittelbaren Zwangs durchzuführen. Damit fehle es objektiv am einem "Sichentziehen". Dass der Betroffene subjektiv in der Absicht handele, eine Überstellung zu vereiteln, genüge nicht (Bezug auf BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2021 – 1 C 42.20). Der Freistaat Sachsen habe zwischenzeitlich sein Vorgehen darauf ausgerichtet und kündige Abschiebungen nunmehr zuvor gegenüber den Betroffenen an, die zugleich aufgefordert würden, solche Maßnahmen zu dulden. Nach Mitteilung ihres Prozessbevollmächtigten sind die Kläger inzwischen nach Russland umgezogen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf die beigezogenen Verwaltungsakten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Beklagten (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz [SGG] erweist sich als unbegründet, denn den Klägern stehen Analogleistungen nach § 2 AsylbLG während des streitgegenständlichen Zeitraums vom 1. Januar 2019 bis zum 30. November 2019 zu.
Streitgegenstand ist der Bescheid vom 15. Januar 2019 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 31. Januar 2020, mit welchem der Beklagte die Überprüfung des bestandskräftigen Bescheides vom 24. September 2018 abgelehnt hat (§ 95 SGG). Dagegen haben sich die Kläger zunächst mit ihrer Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (vgl. dazu Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 12. Oktober 2016 – B 4 AS 37/15 R – juris Rn. 11) an das Sozialgericht gewandt. Mit der Anfechtungsklage begehren die Kläger die Aufhebung des die Überprüfung ablehnenden Bescheides vom 15. Januar 2019 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 31. Januar 2020.
Die Verpflichtungsklage ist auf die Erteilung eines Bescheids durch den Beklagten gerichtet, mit dem dieser die begehrte Änderung des Ablehnungsbescheides vom 24. September 2018 bewirken soll. Mit der Leistungsklage beantragen die Kläger höhere Leistungen (=Analogleistungen nach § 2 AsylbLG) im streitigen Zeitraum. Dabei hatte ihr Prozessbevollmächtigter § 9 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 AsylbLG in Verbindung mit § 44 SGB X in den Blick genommen mit dem Ziel, die Bestandskraft des Bescheides vom 24. September 2018 zu durchbrechen. Ausgehend von § 9 Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 AsylbLG hätte sich das Klageziel auf Leistungen nach § 2 AsylbLG ab dem 3. Januar 2018 erstrecken können. Zu berücksichtigen ist insoweit allerdings die Dispositionsmaxime der Kläger, so dass es bei dem streitgegenständlichen Zeitraum verbleibt. Die Kläger haben keine Anschlussberufung eingelegt.
Das Rechtschutzbedürfnis der Kläger ist nicht dadurch entfallen, dass sie inzwischen nach Russland umgezogen sind. Denn mit der bloßen Ausreise aus dem Bundesgebiet – bei fortbestehender Erreichbarkeit für die Gerichte – entfällt das Rechtschutzbedürfnis nicht. Der von Art. 19 Abs. 4 GG auch Ausländern gewährleistete substantielle Anspruch auf eine möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle in allen von der jeweiligen Prozessordnung zur Verfügung gestellten Instanzen garantiert nicht nur das formelle Recht und die theoretische Möglichkeit, die Gerichte anzurufen, sondern auch die Effektivität des Rechtschutzes; die Einlegung von Rechtsmitteln darf nicht von außerprozessualen Bedingungen abhängig gemacht werden. Ein fortbestehender Aufenthalt im Bundesgebiet während einer nicht absehbaren gerichtlichen Verfahrensdauer wäre eine solche unzulässige außerprozessuale Bedingung. Berechtigte Ansprüche auf Leistungen, bezogen auf Leistungszeiträumer vor der Ausreise, erlöschen nicht mit der bloßen Ausreise; rechtswidrig abgelehnte Ansprüche nach dem AsylbLG – bezogen auf die Zeit des Aufenthalts im Bundesgebiet – können deshalb auch nach der Ausreise weiterverfolgt werden (BSG, Urteil vom 24. Juni 2021 – B 7 AY 2/20 R – juris Rn. 12).
Im Ergebnis zutreffend ist das Sozialgericht schließlich davon ausgegangen, dass bezogen auf den streitgegenständlichen Zeitraum zugleich eine Anfechtungs- und Leistungsklage in Betracht zu ziehen ist. Denn regelmäßig strebt ein Betroffener, der einen auf eine höhere Leistung gerichteten Überprüfungsantrag stellt, außer dem Maximalziel, die erstrebte Leistung rückwirkend, d.h. aufgrund des mit dem Altbescheid abgelehnten Antrages zu erhalten, auch das weniger weitreichende Ziel an, die Leistung wenigstens vom Zeitpunkt seines Neuprüfungsantrages an zu beziehen, und sei es auch wegen erst nach Erlass des aufzuhebenden Bescheides eingetretener tatsächlicher und/oder rechtlicher Umstände.
Denn der Betroffene verfolgt nicht nur die Aufhebung des von ihm für fehlerhaft gehaltenen Altbescheides, sondern er möchte die Gewährung der ihm – nach seiner Auffassung – zustehenden Leistung erreichen. Der Leistungsträger darf in diesem Fall zwar den auf § 44 SGB X gestützten Antrag nicht zugleich als Antrag nach § 48 SGB X behandeln, weil der Altbescheid selbst keine Dauerwirkung entfaltet hat. Er muss über ihn aber in aller Regel auch als neuen Leistungsantrag (§ 16 Erstes Buch Sozialgesetzbuch [SGB I]) entscheiden. Lehnt er die beantragte Rücknahme des – vom Antragsteller als rechtswidrig angesehenen – Ablehnungsbescheides nach § 44 Abs. 1 SGB X ab, so bedeutet dies in aller Regel auch, dass er die Voraussetzungen für eine Leistung unter Berücksichtigung inzwischen eingetretener neuer Umstände verneint (Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 5. November 1997 – 9 RV 4/96 – juris Rn. 27). Der Senat hat daher nicht nur darüber zu befinden, ob der Altbescheid vom 24. September 2018 zu Recht ergangen ist, sondern auch, ob der zugleich mit dem Antrag auf seine Überprüfung am 3. Januar 2019 gestellte Leistungsantrag mit Bescheid vom 15. Januar 2019 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 31. Januar 2020 abgelehnt werden durfte. Insoweit liegt lediglich eine kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 4 SGG vor (vgl. dazu BSG, Urteil vom 5. November 1997 – 9 RV 4/96 – juris Rn. 28). Von näheren Ausführungen zu dem von den Beteiligten diskutierten "Meistbegünstigungsgrundsatz" sieht der Senat vor diesem Hintergrund ab. Eine Fallgestaltung, wie sie dem Sachverhalt im Urteil des Senats vom 12. Oktober 2021 (Az.: L 8 AY 1/21) zugrunde gelegen hat, liegt hier ersichtlich nicht vor. Denn der dortige Leistungsträger hatte die Leistungen durchweg ohne schriftlichen Bewilligungsbescheid gewährt und deren Auszahlung lediglich bescheinigt. Die Auszahlung eines Geldbetrages kann demnach nach entsprechender hoheitlicher Entscheidung als Bekanntgabe des auf andere Art und Weise erlassenen und zugrundeliegenden Verwaltungsakts angesehen werden (vgl. BSG, Urteil vom 29. Oktober 1992 – 10 RKg 4/92 – juris Rn. 20; SächsLSG, Urteil vom 12. Oktober 2021 – L 8 AY 1/21 – juris Rn. 29).
Im Falle der Beteiligten hat der Beklagte hingegen Grundleistungen nach § 3 AsylbLG mit schriftlichen Bescheiden bewilligt; zuletzt mit Bescheid vom 29. Juni 2018. Diesen hatte der Beklagte mit dem Hinweis versehen, dass die Leistung fortgezahlt werde, solange sich keine Änderung ergebe. Der Senat geht aufgrund dieser Regelung davon aus, dass der Beklagte einen Dauerverwaltungsakt erlassen hat, auch wenn er selbst meint, es handele sich um eine "stillschweigende monatliche Neubewilligung". Ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung ist nach seinem Sinn und Zweck und dem einschlägigen materiellen Recht in seinen Wirkungen wesensgemäß auf Dauer angelegt. Er ist allgemein dadurch gekennzeichnet, dass er sich nicht in einem einmaligen Ge- oder Verbot oder in einer einmaligen Gestaltung der Rechtslage erschöpft, sondern ein auf Dauer berechnetes oder in seinem Bestand vom Verwaltungsakt abhängiges Rechtsverhältnis begründet oder inhaltlich verändert. Die Behörde hat den Dauerverwaltungsakt auf fortbestehende Rechtsmäßigkeit zu überprüfen; für seine rechtliche Beurteilung ist grundsätzlich die jeweils aktuelle Sach- und Rechtslage maßgeblich (Bundesverwaltungsgericht [BVerwG], Beschluss vom 29. Oktober 2014 – 9 B 32/14 – juris Rn. 3 m.w.N.). Eine derartige – zeitlich begrenzte – Dauerwirkung kam der Bewilligung von Grundleistungen nach § 3 AsylbLG aufgrund des Bescheides vom 29. Juni 2018 zu. Seine Regelung erschöpfte sich der Sache nach – im Gegensatz zur Ansicht des Beklagten - nicht darauf, Leistungen für einen Monat festzusetzen. Vielmehr hat der Beklagte damit ausdrücklich die Gewährung von Grundleistungen nach § 3 AsylbLG bis auf Weiteres verfügt. Sein Hinweis, dass diese Regelung gelten solle, bis sich Änderungen ergäben, deutet auf die selbst erkannte Verpflichtung hin, den genannten Bescheid auf fortbestehende Rechtmäßigkeit zu überprüfen. Die Schreiben der Kläger vom 3. Januar 2019 und der Widerspruch vom 19. Juni 2019 könnten daher nicht als fristgemäß eingelegte Rechtsbehelfe gegen den Bescheid vom 29. Juni 2018 angesehen werden. Denn dieser war mit einer ordnungsgemäßen Rechtsbehelfsbelehrung versehen und somit nach Ablauf eines Monats nach seiner Bekanntgabe zwischen den Beteiligten bindend geworden, da die Kläger sich dagegen nicht innerhalb der Monatsfrist nach § 70 Abs. 1 VwGO an den Beklagten gewandt hatten. Vor diesem Hintergrund ist die Überlegung des Sozialgerichts, dass eine kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage statthaft sei, nur im Ergebnis zutreffend. In materieller Hinsicht ist demgemäß zu prüfen, ob über § 9 Abs. 4 AsylbLG in Verbindung mit § 44 Abs. 1 SGB X die Bestandskraft des Bescheides vom 24. September 2018 zu durchbrechen und in die erneute Sachprüfung einzutreten ist.
Im Gegensatz zur Ansicht des Beklagten handelt es sich bei dem Schreiben vom 15. Januar 2019 um einen Verwaltungsakt. Nach § 1 des Gesetzes zur Regelung des Verwaltungsverfahrens- und Verwaltungszustellungsrechts (SächsVwVfZG) in Verbindung mit § 35 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) ist ein Verwaltungsakt jede Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde zur Regelung des Einzelfalles auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist. Danach muss es sich um eine für den Betroffenen verbindliche, zur Rechtsbeständigkeit führende Regelung handeln. Ob eine Maßnahme einer Behörde diese Merkmale erfüllt, ist nicht nach dem Willen der Behörde, sondern nach ihrem objektiven Erklärungswert zu beurteilen. Maßgebend ist, wie der Empfänger sie unter Berücksichtigung der ihm erkennbaren Umstände bei objektiver Würdigung verstehen muss; Unklarheiten gehen zu Lasten der Verwaltung (BVerwG, Urteil vom
17. August 1995 – 1 C 15/94 – juris Rn. 17). Mit Schreiben vom 15. Januar 2019 hat sich der Beklagte zunächst ausdrücklich auf das Schreiben der Kläger vom 3. Januar 2019 bezogen und dieses zutreffend (auch) als Antrag auf Leistungen nach § 2 AsylbLG gewertet. Sodann hat er den bestandskräftigen Ablehnungsbescheid vom 24. September 2018 erwähnt und mitgeteilt, dass die Sachlage aus seiner Sicht unverändert sei. Auch wenn der Beklagte es nicht ausdrücklich erwähnt hatte, mussten die Kläger die Ausführungen im Schreiben vom 15. Januar 2019 dahin verstehen, dass sich dieser auf die Bestandskraft des erwähnten Bescheides beruft und nicht beabsichtigt, erneut in die Sach- und Rechtsprüfung einzusteigen. Hierin ist die Ablehnung des Überprüfungsbegehrens zu erkennen, die ihrerseits als Verwaltungsakt anzusehen ist.
Dabei ist ein Bescheid über die Rücknahme des beanstandeten Verwaltungsakts und die Gewährung der beanspruchten Sozialleistung auch dann zu erteilen, wenn keine neuen Tatsachen vorgetragen werden, wenn eine Neufeststellung schon wiederholt abgelehnt und dies durch rechtskräftiges Urteil als rechtmäßig bestätigt worden ist. Anders als das allgemeine Verwaltungsverfahrensrecht folgt das SGB X bei Ansprüchen auf Sozialleistungen dem Grundsatz, dass der materiellen Gerechtigkeit auch für die Vergangenheit Vorrang vor der Rechtsbeständigkeit behördlicher und gerichtlicher Entscheidungen und damit vor der Rechtssicherheit gebührt. Es kennt daher keine dem § 51 VwVfG vergleichbare Regelung, die es der Behörde erlaubt, ein Wiederaufgreifen des abgeschlossenen Verwaltungsverfahrens unter Berufung auf die Bindungswirkung früherer Bescheide abzulehnen, wenn sich die Sach- und Rechtslage nicht geändert hat und der Antragsteller keine neuen Beweismittel vorlegen kann. Nach § 44 Abs. 1 SGB X ist der Leistungsträger vielmehr verpflichtet, auch bei wiederholten Anträgen über die Rücknahme der entgegenstehenden Verwaltungsakte und die Gewährung der beanspruchten Sozialleistung zu entscheiden (st. Rspr.; vgl. BSG, Urteil vom 11. November 2003 – B 2 U 32/02 R – juris Rn. 19). Nachdem der so verstandene Bescheid vom 15. Januar 2019 mit keiner Rechtsbehelfsbelehrung versehen gewesen ist, konnten die Kläger diesen – abweichend von der sonst maßgeblichen Monatsfrist des § 70 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) binnen Jahresfrist mittels Widerspruchs anfechten (§ 58 Abs. 2 VwGO). Der mit Schreiben des Prozessbevollmächtigten der Kläger vom 19. Juni 2019 eingelegte Widerspruch ist daher fristgemäß erfolgt. Die Widerspruchsbehörde wäre nach alldem dazu verpflichtet gewesen, über diesen Rechtsbehelf in der Sache zu entscheiden. Anders als der Beklagte in der mündlichen Verhandlung angenommen hat, handelt es sich bei dem Bescheid vom 24. September 2018 um keinen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung. Der Inhalt eines Bescheides wird durch seine Verfügungssätze bestimmt. Ein Bescheid mit versagenden Verfügungssätzen ist kein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung im oben - bezogen auf den Bescheid vom 29. Juni 2018 - dargestellten Sinne (vgl. dazu BSG, Urteil vom 16. März 2016 – B 9 SB 1/15 R – juris Rn. 10; Urteil vom 22. Oktober 1986 – B 9a RVs 55/85 – juris Rn. 10).
Nach den aufgezeigten Grundsätzen ist der Bescheid vom 24. September 2018 nach Maßgabe der §§ 9 Abs. 4 AsylbLG, 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X zu überprüfen. Danach ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind.
Der Beklagte ist ersichtlich bei Erlass des Bescheides vom 24. September 2018 von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen, indem er angenommen hat, dass sich die Kläger den für Mai 2017 und August 2017 vorgesehenen Überstellungen nach Polen entzogen hätten. Dabei ist anzumerken, dass der Beklagte die Kläger selbst nicht dazu befragt hat, weshalb sie nicht als gesamte Familie anzutreffen gewesen sind, als die Überstellung nach Polen erfolgen sollte. Dass Kinder gelegentlich bei Verwandten oder Bekannten übernachten, ist weder gesetzlich verboten noch unüblich. Aus dem Hinweis des Beklagten auf § 50 Abs. 4 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) folgt ersichtlich nichts anderes. Danach hat ein ausreisepflichtiger Ausländer, der seine Wohnung wechseln oder den Bezirk der Ausländerbehörde für mehr als drei Tage verlassen will, dies der Ausländerbehörde zuvor anzuzeigen. Der Beklagte hat bereits nicht geprüft, wie lange sich der Kläger zu 4 im August 2017 in Hamburg aufgehalten haben könnte. Soweit der Beklagte meint, die Kläger hätten sich am 31. Mai 2017 nicht in ihrer Gewährswohnung aufgehalten, folgt aus diesem Umstand nicht sogleich ein Verstoß gegen die Verpflichtung aus § 50 Abs. 4 AufenthG. Denn die genannte Vorschrift lässt es ohne Weiteres zu, dass sich der Ausländer außerhalb der ihm zugewiesenen Gewährswohnung, aber innerhalb des Bezirks der Ausländerbehörde aufhält. Da dem Beklagten ausweislich seiner Verwaltungsakte nicht bekannt ist und er auch keine weiteren Nachforschungen darüber angestellt hat, wo sich die Kläger im fraglichen Zeitraum aufgehalten haben könnten, ist seine Annahme, die Kläger zu 1 und 2 hätten ihre Kinder versteckt, tatsächlich nicht belegt. Bezogen auf die Fahrt des Klägers zu 1 im Juli 2017 zur Ausländerbehörde nach Warschau übersieht der Beklagte, dass der Kläger zu 1 die Reisepässe der Kläger zu 3 und 4 abgeholt hatte. Es mag sein, dass er hier gegen seine Pflicht aus § 50 Abs. 4 AufenthG verstoßen haben könnte. Allerdings hat der Beklagte weder vorgetragen noch ist sonst ersichtlich, dass für jenen Zeitraum die Überstellung der Kläger nach Polen vorgesehen gewesen sein könnte. Zudem ist offen geblieben, wie lange die Reise des Klägers zu 1 nach Polen gedauert hatte. Schließlich hat der Kläger zu 1 mit seiner Fahrt nach Warschau dafür gesorgt, dass die Kläger zu 3 und 4 seither der Passpflicht nach § 13 AufenthG genügt haben.
Der Beklagte hat auch das Recht nicht unrichtig angewandt. Nachdem die Kläger bis Anfang des Jahres 2020 über Aufenthaltsgestattungen verfügten, beruht ihre Leistungsberechtigung auf § 1 Abs. 1 Nr. 1 AsylbLG. Nach § 2 AsylbLG in der seit dem 1. März 2015 gültigen Fassung ist abweichend von den §§ 3 und 4 sowie 6 bis 7 AsylbLG das Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die sich seit 15 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. Die Kläger sind am 19. Juni 2016 in das Bundesgebiet eingereist. Sie halten sich seither im Bundesgebiet auf. Die Frist von 15 Monaten ist am 18. September 2017 abgelaufen. Eine wesentliche Unterbrechung ist auch nicht in der erwähnten Fahrt des Klägers zu 1 zu erkennen. Es ist nicht ersichtlich, dass die Reise zur Ausländerbehörde in Warschau mehr als zwei Wochen beansprucht haben könnte.
Die Kläger haben die Dauer ihres Aufenthalts auch nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst. Das Sozialgericht hat zutreffend darauf hingewiesen, dass ein Verhalten rechtsmissbräuchlich ist, wenn es unredlich ist und von der Rechtsordnung missbilligt wird. Der Regelung des § 2 Abs. 1 AsylbLG liegt der Gedanke von Treu und Glauben (§ 242 Bürgerliches Gesetzbuch) zugrunde, wonach sich niemand auf eine Rechtsposition berufen darf, die er selbst treuwidrig herbeigeführt hat (BSG, Urteil vom 17. Juni 2008 – B 8/9b AY 1/07 R – juris Rn. 32). Die Vernichtung des Passes oder die Angabe einer falschen Identität sind nach der Vorstellung des Gesetzgebers als sozialwidriges Verhalten zu werten (BT-Drucks. 15/420, S. 121), wobei sich ein solches Verhalten nicht auf diese beiden Fallgestaltungen beschränkt (vgl. dazu SächsLSG, Beschluss vom 9. Mai 2018 – L 8 AY 29/17 B ER). Den Klägern ist allerdings kein sozialwidriges Verhalten vorzuwerfen. Zwar mutet die Rechtsordnung dem Ausländer zu, seiner Ausreisepflicht von sich aus nachzukommen. Die gesetzliche Ausreisepflicht schließt die Obliegenheit für den Ausländer ein, sich auf die Ausreise einzustellen, zur Ausreise bereit zu sein und einen dahingehenden Willen zu bilden (BVerwG, Urteil vom 10. November 2009 – 1 C 19/08 – juris Rn. 14, 16; SächsOVG, Urteil vom 3. Juli 2014 – 3 A 28/13 – juris Rn. 21).
Dazu ist es jedoch erforderlich, dass ihm bekannt ist, dass und ungefähr wann entsprechende Maßnahmen erfolgen sollen. Denn schließlich kann ihm tatsächlich nicht abverlangt werden, sich auf nicht absehbare Zeit über 24 Stunden täglich ausschließlich zur ihm nicht vorhersehbaren Ausreise bereit zu halten. Der Beklagte hat die Kläger zuvor nicht über den Termin der vorgesehenen Überstellungen informiert. Deshalb musste er damit rechnen, dass die Familie – immerhin fünf Personen – zu den in Aussicht genommenen Zeitpunkten nicht vollzählig in der Gewährswohnung anzutreffen sein könnte. § 50 Abs. 4 AufenthG verpflichtet den Ausländer nicht zur ständigen Anwesenheit in seiner Unterkunft. Die gescheiterten Überstellungsversuche im Mai 2017 und August 2017 sind daher nicht allein (monokausal) auf das Verhalten der Kläger zurückzuführen, sondern zumindest auch auf die Art und Weise des Vorgehens des Beklagten bei den Überstellungsversuchen.
Denn der erforderliche ursächliche Zusammenhang besteht nur, wenn allein die unterbliebene Mitwirkung des Ausländers dazu geführt hat, dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht erfolgen konnten. Ist die Ausweisung oder Abschiebung aus anderen als in der Person des Ausländers liegenden Gründen nicht möglich, z. B. wegen Reiseunfähigkeit oder weil sich Botschaften weigern, politisch unliebsamen Antragstellern Reisedokumente auszustellen oder die Behörde aus sonstigen Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzieht, ist kein rechtsmissbräuchliches Verhalten anzunehmen (vgl. dazu BSG, Urteil vom 27. Februar 2019 – B 7 AY 1/17 R – juris Rn. 27; Siefert, AsylbLG, 2. Aufl. 2020, § 1a Rn. 40). Zu berücksichtigen ist somit schließlich vor diesem Hintergrund, dass der Beklagte nach August 2017 keine weiteren Überstellungsversuche unternommen hat, obwohl die maßgebliche Überstellungsfrist erst Anfang Juni 2018 abgelaufen ist. Nachdem den Klägern nicht vorzuwerfen ist, dass sie die Dauer ihres Aufenthalts rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben könnten, wäre der Beklagte der Sache nach dazu verpflichtet gewesen, ihnen ab September 2017 Analogleistungen nach § 2 AsylbLG zu zahlen.
Die Berufung des Beklagten ist deshalb nicht erfolgreich.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
Die Nichtzulassung der Revision folgt aus § 160 Abs. 2 SGG.