Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Gießen vom 6. Juli 2021 abgeändert:
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin ab dem 27. Mai 2021 vorläufig folgende weitere Leistungen nachzuzahlen bzw. zu erbringen:
Für Mai 2021: 5,81 €
Für Juni 2021 bis einschließlich Oktober 2021 monatlich jeweils: 36,00 €.
Im Übrigen werden der Antrag und die Beschwerde zurückgewiesen.
Der Antragsgegner hat der Antragstellerin die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung entstandenen notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antrags- und Beschwerdeverfahrens zu erstatten.
Der Antragstellerin wird Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren unter Beiordnung von Rechtsanwalt B., B-Stadt, bewilligt.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten um die Gewährung höherer Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG).
Die 1992 geborene Antragstellerin ist afghanische Staatsangehörige, die im Juli 2020 in die Bundesrepublik Deutschland einreiste und über eine Aufenthaltsgestattung verfügt. Mit Bescheid vom 2. Dezember 2020 bewilligte der Antragsgegner der Antragstellerin Leistungen nach § 3 AsylbLG (Regelbedarfsstufe 2). Der Bedarf für Unterkunft, Heizung und Hausrat werde gesondert als Sachleistung erbracht. Für die Dauer der Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft werde der Bedarf für Wohnen, Energie und Wohnungsinstandhaltung ebenfalls als Sachleistung erbracht und der entsprechende Geldwert einbehalten. Mit Bescheid vom 18. Januar 2021 erfolgte durch den Antragsgegner auf der Grundlage des Regelbedarfsermittlungsgesetzes (RBEG) 2021 für die Zeit ab dem 1. Januar 2021 eine Änderung der laufenden Leistungen nach dem AsylbLG. Unter dem 28. Januar 2021 stellte der Antragsgegner die Leistungen nach dem AsylbLG an die Antragstellerin mit Wirkung ab dem 1. Februar 2021 ein, da sich die Antragstellerin im Kirchenasyl befinde, wo ihr Unterkunft gewährt werde und der Lebensunterhalt sichergestellt sei. Der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin legte am 6. Februar 2021 Widerspruch gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 18. Januar 2021 ein und beantragte, bereits bestandskräftige Leistungsbescheide für die Bewilligungszeiträume seit dem 24. November 2020, insbesondere den Bescheid vom 2. Dezember 2020, nach Maßgabe des § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) zu überprüfen. Inhaltlich werde die Zuordnung der Antragstellerin zur Regelbedarfsstufe 2 angegriffen, die evident verfassungswidrig sei, da sie das Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums verletze und gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstoße. Am 9. April 2021 verließ die Antragstellerin das Kirchenasyl und zog in eine Unterkunft des Antragsgegners (Gemeinschaftsunterkunft). Auf den (erneuten) Antrag der Antragstellerin vom 9. April 2021 bewilligte der Antragsgegner mit Bescheid vom 16. April 2021, der an die Antragstellerin gerichtet war, erneut ab dem 9. April 2021 Leistungen nach § 3 AsylbLG (Regelbedarfsstufe 2).
Am 27. Mai 2021 hat der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin beim Sozialgericht Gießen einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Ziel der Gewährung von Leistungen an die Antragstellerin unter Berücksichtigung der Regelbedarfsstufe 1 nach § 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 AsylbLG gestellt. Zur Begründung hat er erneut darauf hingewiesen, dass die Leistungen der Regelbedarfsstufe 2b, die derzeit von dem Antragsgegner gewährt und ausgezahlt würden, deutlich niedriger seien als die Grundleistungen der Regelbedarfsstufe 1. Es bestehe die unmittelbare Gefahr einer Verletzung des Rechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum aufgrund der Unterdeckung des Existenzminimums durch die unterschiedliche Leistungshöhe. Der Antragsgegner hat sich im Verfahren auf einstweiligen Rechtsschutz nicht geäußert. Das Sozialgericht hat mit Beschluss vom 6. Juli 2021 den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig, bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren, dem durch den Schriftsatz vom 6. Februar 2021 eingeleiteten Widerspruchs- und Überprüfungsverfahren gegen die Leistungsgewährung seit der Zuweisung der Antragstellerin in den Wetteraukreis am 24. November 2020, bei Zurückweisung des Widerspruchs und anschließender fristgerechter Klageerhebung gegen den insoweit zu erteilenden Widerspruchsbescheid, bzw. Einlegung eines Widerspruchs gegen den insoweit zu erteilenden Ablehnungsbescheids darüber hinaus, längstens jedoch solange die Antragstellerin vom Antragsgegner Leistungen nach dem AsylbLG erhält, Leistungen unter Berücksichtigung der Regelbedarfsstufe 1 nach § 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 AsylbLG zu gewähren. Zur Begründung hat das Sozialgericht in seinem Beschluss vom 6. Juli 2021 ausgeführt:
„Eine abschließende Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache ist nicht möglich, weil das Gericht nicht abschließend einschätzen kann, ob die Voraussetzungen des § 3a Abs. 1 und 2 AsylbLG vorliegen. Beide Beteiligten – somit auch den Antragsgegner – trifft im sozialgerichtlichen Verfahren eine Mitwirkungslast (§ 103 SGG). Vor diesem Hintergrund hatte das erkennende Gericht zu berücksichtigen, dass der Antragsgegner dieser Mitwirkungsverpflichtung nicht nachgekommen ist. Nach Antragseingang am 27.05.2021 erfolgte keinerlei Reaktion. Das erkennende Gericht hat in diesem Zusammenhang bereits mehrfach entschieden (vgl. nur Gerichtsbescheid vom 28.09.2011, S 22 AS 491/11), dass es als Tatsacheninstanz gehalten ist, dem Vorbringen der Antragsteller nachzugehen. Demgegenüber geht § 119 SGG von einer prinzipiellen Vorlagepflicht der Behörden hinsichtlich ihrer Verwaltungsakten aus; durch die Vorlagepflicht wird den Anforderungen des Artikel 19 Abs. 4 GG Rechnung getragen. Mit der Vorlagepflicht der Behörde korrespondiert das Recht der Beteiligten aus § 120 SGG, Einsicht in die Verwaltungsakten zu nehmen, welches ebenfalls das Gebot effizienten Rechtsschutzes in Artikel 19 Abs. 4 GG gewährleistet und eine wesentliche Grundlage für die Wahrnehmung des Anspruchs auf rechtliches Gehör aus Artikel 103 Abs. 1 darstellt. Die genannten verfassungsmäßigen Rechte der Antragstellerin verbieten es, vorliegend eine dem Antragsgegner günstige Entscheidung zu treffen und belastende Verwaltungsakte zu bestätigen, obwohl weder die Verwaltungsakte vorgelegt wurde noch eine Äußerung zur Sache erfolgt ist. Das Gericht übersieht zwar nicht, das § 138 Abs. 3 ZPO im vorliegenden Verfahren nicht über § 202 SGG anzuwenden ist (BSG vom 08.04.2020, B 13 R 260/18). Gleichwohl vertritt das Gericht die Auffassung, dass der Rechtsgedanke der Vorschrift des § 138 Abs. 3 ZPO im vorliegenden Fall sinngemäß zur Anwendung kommen muss. Nach dieser Vorschrift wird Nichtbestreiten vorbehaltlich der Schlüssigkeit des nicht bestrittenen Vorbringens als Zugeständnis fingiert, d. h. es entfällt die Beweisbedürftigkeit, soweit es sich nicht um von Amts wegen zu prüfende Voraussetzungen handelt. Hier hat der Antragsgegner den Vortrag der Antragstellerin aus dem Schriftsatz vom 27.05.2021 nicht infrage gestellt, so dass dem Antrag stattzugeben war. Der Anordnungsgrund folgt aus dem Umstand, dass es sich im vorliegenden Fall um existenzsichernde Leistungen handelt.“
Mit Widerspruchsbescheid vom 13. Juli 2021 hat der Antragsgegner den Widerspruch der Antragstellerin vom 6. Februar 2021 gegen den Bescheid vom 18. Januar 2021 zurückgewiesen. Die hier in Rede stehende inhaltliche Frage, ob § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG als verfassungsgemäß zu betrachten sei, könne von Seiten der Verwaltung nicht beantwortet werden. Die Verfassungswidrigkeit einer Bundesnorm könne ausschließlich durch das Bundesverfassungsgericht festgestellt werden. Vorliegend sei besonders hervorzuheben, dass die Antragstellerin mit nahen Verwandten (ihrer Schwester und deren Kind) zusammen in der Gemeinschaftsunterkunft lebe, weshalb die Ansicht, dass ein Wirtschaften mit mehreren Personen als gegeben zu betrachten sei, das zu Synergieeffekten führe, vorliegend noch stärker im Raum stehe.
Gegen den dem Antragsgegner am 8. Juli 2021 zugestellten Beschluss des Sozialgerichts vom 6. Juli 2021 hat dieser am 21. Juli 2021 Beschwerde zum Hessischen Landessozialgericht bei dem Sozialgericht Gießen erhoben und beantragt, die Aussetzung des Vollzugs der angefochtenen Entscheidung bis zur Entscheidung über die Beschwerde anzuordnen. Zur Begründung weist der Antragsgegner darauf hin, dass die im Beschluss benannten streitigen Rechtsverhältnisse zwischen den Beteiligten bei Antragstellung einen Zeitraum bis zum 30. Januar 2021 beträfen. Gründe für die ausnahmsweise rückwirkende Bewilligung der vorläufigen Leistung durch das Sozialgericht seien hier weder vorgetragen noch ersichtlich, sodass eine Verpflichtung zur Leistungsgewährung frühestens ab dem 27. Mai 2021, Eingang des Antrages beim Sozialgericht, bestehe. Bezüglich des Bescheides vom 16. April 2021 liege zudem ein streitiges Rechtsverhältnis im Sinne des § 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nicht vor, da der Bescheid nicht Gegenstand des Verwaltungsverfahrens geworden und nicht angefochten worden sei. Nach der Zuweisung in den Wetteraukreis als auch seit der Bewilligung der Leistungen ab dem 9. April 2021 habe die Antragstellerin gemeinsam mit ihrer Schwester und deren Tochter (Parallelverfahren L 4 AY 27/21 B ER) auf eigenen Wunsch jeweils abgetrennte Wohneinheiten innerhalb der Gemeinschaftsunterkunft bewohnt bzw. bewohne diese. In der derzeitigen Unterkunft in A-Stadt würden die drei Personen seit April 2021 zwei verbundene Zimmer, ein Wohnzimmer mit Kochzeile und ein Schlafzimmer bewohnen. Die Wohnverhältnisse orientierten sich an den Wünschen der Frauen, d.h. es handele sich nicht um eine Zweckgemeinschaft unbekannter Menschen. Vor diesem Hintergrund und unter Berücksichtigung des Nähe-Verhältnisses und der familiären Bindungen zwischen den Frauen sei davon auszugehen, dass auch der Haushalt gemeinsam geführt werde (z.B. gemeinsame Einkäufe von Lebensmitteln, gemeinsame Essenszubereitung). Es sei zudem auf § 84 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch – Sozialhilfe – (SGB XII) hinzuweisen, wonach freiwillige Zuwendungen bei der Berechnung der Höhe der Sozialhilfe nur dann unberücksichtigt blieben, wenn die Berücksichtigung eine besondere Härte bedeute. Dem SGB XII sei damit auch unter Berücksichtigung der vom Senat vertretenen unionsrechtlichen Auslegung der streitentscheidenden Normen des AsylbLG (vgl. Beschluss des Senats vom 13. April 2021, L 4 AY 3/21 B ER) die Anrechnung von „Einsparungen“ nicht fremd.
Der Antragsgegner beantragt (sinngemäß),
den Beschluss des Sozialgerichts Gießen vom 6. Juli 2021 aufzuheben und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen,
hilfsweise,
den Beschluss des Sozialgerichts Gießen vom 6. Juli 2021 insoweit aufzuheben als der Antragsteller verpflichtet wurde, der Antragstellerin vorläufig seit der Zuweisung der Antragstellerin in den Wetteraukreis am 24. November 2020 Leistungen zu gewähren.
Der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend. Ergänzend weist er darauf hin, dass er von der Existenz des Einstellungsbescheides des Antragsgegners vom 22. Januar 2021 und des Bescheides vom 16. April 2021 erst durch die Beschwerdeschrift des Antragsgegners vom 19. Juli 2021 erfahren habe. Am 5. August 2021 sei gegen den Bescheid vom 16. April 2021 Widerspruch erhoben, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und hilfsweise ein Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X gestellt worden. Ein streitiges Rechtsverhältnis im Sinne des § 86b Abs. 2 SGG liege vor. Die Nichtübermittlung der Bescheide vom 22. Januar 2021 und vom 16. April 2021 an den Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin sei ermessensfehlerhaft. Zudem sei der Bescheid vom 16. April 2021 gemäß § 86 SGG analog Gegenstand des laufenden Widerspruchsverfahrens geworden, welches mit dem Widerspruchsbescheid vom 13. Juli 2021 geendet habe. Gegen den Widerspruchsbescheid sei am 5. August 2021 Klage erhoben worden, die noch anhängig sei. Die Erbringung vorläufiger Leistungen mit der Eilantragstellung bei Sozialgericht Gießen sei zudem ab der Antragstellung bei diesem begehrt worden. Soweit im Tenor der erstinstanzlichen Entscheidung kein eindeutiges Datum für den Beginn der vorläufigen Leistungen benannt sei, sei dieser auszulegen. Inhaltlich sei bezüglich der vorläufigen Leistungsgewährung an die Antragstellerin auf die Beschlüsse des Senats vom 13. April 2021, L 4 AY 3/21 B ER und vom 9. Juni 2021, L 4 AY 5/21 B ER hinzuweisen.
Mit Schreiben vom 10. August 2021 hat der Antragsgegner den Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung zurückgenommen soweit vorläufige Leistungen nach dem 27. Mai 2021 bis zur Entscheidung in der Hauptsache betroffen seien.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes nimmt der Senat auf die Verwaltungsvorgänge des Antragsgegners und auf die Gerichtsakte Bezug, die Gegenstand der Entscheidung waren.
II.
Die zulässige Beschwerde ist lediglich in dem tenorierten Umfang begründet.
Der Antrag der Antragstellerin ist am Maßstab von § 86b Abs. 2 SGG im Wesentlichen begründet. Nach dem o.g. Maßstab besteht insbesondere nach summarischer Prüfung im Verfahren auf einstweiligen Rechtsschutz eine hinreichende Aussicht, dass die Antragstellerin in der Hauptsache mit Erfolg ihren Anspruch durchsetzt; ein Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund sind glaubhaft gemacht.
Ein streitiges Rechtsverhältnis im Sinne des § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG ist vorliegend gegeben. Hierbei kann der Senat offenlassen, ob es sich bei der Bestandskraft eines dem Rechtsverhältnis zugrundeliegenden Bescheides um eine Frage der Zulässigkeit des Antrages nach § 86b Abs. 2 SGG handelt (so: u.a. Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 14. Dezember 2016, L 7 AS 4120/16 ER-B – juris -) oder ob dies im Rahmen der Begründetheit zu überprüfen ist (vgl. insoweit: Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 14. März 2017, L 7 AS 2251/16 B ER – juris -; Burkiczak in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Auflage, Stand: 1. September 2021, § 86b SGG Rdnr. 302ff mit der Darstellung des Meinungsstreites). Vorliegend hat der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin gegen den allein an die Antragstellerin gerichteten Bescheid vom 16. April 2021 unter dem 5. August 2021 Widerspruch erhoben, Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand beantragt bzw. einen Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X gestellt (vgl. zur Frage des Vorliegens eines streitigen Rechtsverhältnisses insbesondere bei der Stellung eines Antrages nach § 44 SGB X Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 19. Mai 2017, L 11 AS 245/17 B ER, Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 8. Oktober 2019, L 20 KR 479/19 B ER – juris -).
Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 und 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist damit, dass der Antragsteller einen materiell-rechtlichen Leistungsanspruch in der Hauptsache hat (Anordnungsanspruch) und es ihm nicht zuzumuten ist, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten (Anordnungsgrund). Nach § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) sind der Anordnungsanspruch und der Anordnungsgrund glaubhaft zu machen.
Diese Anforderungen sind im Lichte der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) zu konkretisieren (zum Folgenden: BVerfG, Beschluss vom 6. August 2014 – 1 BvR 1453/12 –, juris, Rn. 10 m.w.N.). Je gewichtiger die drohende Grundrechtsverletzung und je höher ihre Eintrittswahrscheinlichkeit ist, desto intensiver hat die tatsächliche und rechtliche Durchdringung der Sache bereits im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu erfolgen. Ist eine der drohenden Grundrechtsverletzung entsprechende Klärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich – etwa weil es dafür weiterer, in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nicht zu verwirklichender tatsächlicher Aufklärungsmaßnahmen bedürfte –, ist es von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, wenn die Entscheidung über die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes dann auf der Grundlage einer Folgenabwägung erfolgt. Übernimmt das einstweilige Rechtsschutzverfahren allerdings vollständig die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens und droht eine endgültige Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung der Beteiligten, müssen die Gerichte bei den Anforderungen an die Glaubhaftmachung zur Begründung von Leistungen zur Existenzsicherung in den Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes der Bedeutung des Grundrechts aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG Rechnung tragen. Die Anforderungen an die Glaubhaftmachung haben sich am Rechtsschutzziel zu orientieren, das mit dem jeweiligen Rechtsschutzbegehren verfolgt wird.
Gemessen an diesem Maßstab hat die Antragstellerin für den Zeitraum ab dem 27. Mai 2021 (Eingang des Antrages auf einstweiligen Rechtsschutz beim Sozialgericht Gießen) die Voraussetzungen eines Anordnungsanspruchs aus §§ 3, 3a AsylbLG auf Gewährung der Leistungen glaubhaft gemacht, die alleinstehenden Erwachsenen ohne die Differenzierung nach Wohnung oder Gemeinschaftsunterkunft zustehen.
Vorliegend führt der Anwendungsvorrang von Art. 1 und 20 der Grundrechtecharta der Europäischen Union (GRC) i.V.m. Art. 17 Abs. 2 und Abs. 5 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (Aufnahme-RL) zur Anwendung zur Regelbedarfsstufe 1. Zur Begründung verweist der Senat auf die detaillierten Darlegungen in den Senatsentscheidungen vom 13. April 2021, L 4 AY 3/21 B ER und vom 9. Juni 2021, L 4 AY 5/21 B ER. Insoweit hat der Senat insbesondere ausgeführt:
„bb) § 3a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG, § 3a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG und § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG sind bei wortlautgetreuer Auslegung nach summarischer Prüfung nicht mit Art. 1 GRC, Art. 20 GRC i.V.m. Art. 17 Abs. 2 und Abs. 5 Aufnahme-RL zu vereinbaren (dazu bb)(1), (2)und (3)). Wegen des gleichzeitigen Verstoßes gegen Unionsgrundrechte greift hier nicht lediglich die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung, die den gleichen Restzweifeln unterliegt wie die verfassungskonforme Auslegung. Vielmehr führt der Anwendungsvorrang von Art. 1 und Art. 20 GRC zur Nichtanwendung der unionsrechtswidrigen Ausnahmeregelungen der § 3a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG, § 3a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG und § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG und zur wohnsituationsunabhängigen Anwendung der Regelbedarfsstufen bei Alleinstehenden (dazu bb)(4)). (…)
(2) Nach summarischer Prüfung sind § 3a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG, § 3a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG und § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG nicht mit dem von Art. 1 GRC, Art. 20 GRC i.V.m. Art. 17 Abs. 2 und Abs. 5 Aufnahme-RL geforderten Leistungsniveau in Einklang zu bringen. Die Mitgliedstaaten sorgen nach Art. 17 Abs. 2 Aufnahme-RL dafür, dass die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen einem angemessenen Lebensstandard entsprechen, der den Lebensunterhalt sowie den Schutz der physischen und psychischen Gesundheit von Antragstellern gewährleistet; die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass dieser Lebensstandard gewährleistet ist, wenn es sich um schutzbedürftige Personen im Sinne von Art. 21 Aufnahme-RL und um in Haft befindliche Personen handelt. Wenn die Mitgliedstaaten im Rahmen der Aufnahme materielle Leistungen in Form von Geldleistungen oder Gutscheinen gewähren, bemisst sich deren Umfang nach Art. 17 Abs. 5 Aufnahme-RL auf Grundlage des Leistungsniveaus, das der betreffende Mitgliedstaat nach Maßgabe der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder nach den Gepflogenheiten anwendet, um eigenen Staatsangehörigen einen angemessenen Lebensstandard zu gewährleisten. Die Mitgliedstaaten können Antragstellern in dieser Hinsicht eine weniger günstige Behandlung im Vergleich mit eigenen Staatsangehörigen zuteil werden lassen, insbesondere wenn materielle Unterstützung teilweise in Form von Sachleistungen gewährt wird oder wenn das auf eigene Staatsangehörige anzuwendende Leistungsniveau darauf abzielt, einen Lebensstandard zu gewährleisten, der über dem nach dieser Richtlinie für Antragsteller vorgeschriebenen Lebensstandard liegt (Art. 17 Abs. 5 Satz 2 Aufnahme-RL). Nach Art. 1 GRC ist die Würde des Menschen unantastbar; sie ist zu achten und zu schützen. Gemäß Art. 20 GRC sind alle Personen vor dem Gesetz gleich.
Den Mitgliedstaaten verbleibt nach Art. 17 Aufnahme-RL ein weiter Gestaltungsspielraum. Obwohl nach Erwägungsgrund Nr. 11 die Regelung auf die Herstellung vergleichbarer Lebensbedingungen von Asylantragstellern in allen Mitgliedstaaten abzielt, schreibt die Norm kein europaweit einheitliches Leistungsniveau vor. Das Leistungsniveau richtet sich vielmehr nach dem, was im jeweiligen nationalen Kontext als angemessen anzusehen ist (Hruschka, ZIAS 2020, 113 <117>). Es kommt auf die individuelle Bedarfsdeckung an (Peek/Tsourdi, in: Hailbronner/Thym, EU Immgration and Asylum Law, 2nd ed. 2016, Art. 17 Rn. 11), was auch der Hinweis auf die besondere Schutzbedürftigkeit in Art. 17 Abs. 2 2. Unterabsatz Aufnahme-RL und die Bedarfsabhängigkeit nach Art. 17 Abs. 3 Aufnahme-RL nahelegen. Dabei hat der „angemessene Lebensstandard“ in Art. 17 Abs. 2 Aufnahme-RL als unionsautonom auszulegender Rechtsbegriff gleichwohl die Funktion, materielle Vorgaben für die Bestimmung des Leistungsniveaus durch die Mitgliedstaaten zu machen, da die Vorschrift einen engen Bezug zum Schutz der Menschenwürde aufweist. Dies zeigen die Erwägungsgründe Nr. 11, 18 und 25 der Aufnahme-RL, die explizit auf den menschenwürdigen Lebensstandard rekurrieren, der zudem über die rein physische Existenzsicherung hinausgeht (Janda, in: Wollenschläger (Hrsg.), Europäischer Freizügigkeitsraum, EnzEuR Bd. 10, 2. Aufl. 2021, § 25 Rn. 57 m.w.N.). In der Literatur herrscht Einigkeit dahingehend, dass damit auch das materielle Minimum für soziale Interaktion und Selbstbestimmung in der Gemeinschaft mitumfasst ist (Peek/Tsourdi, in: Hailbron-ner/Thym, EU Immgration and Asylum Law, 2nd ed. 2016, Art. 17 Rn. 12 m.w.N.; vgl. auch Janda, in: Wollenschläger a.a.O., § 25 Rn. 57). Auch der Gerichtshof der Europäischen Union leitet wesentliche Elemente eines Anspruchs auf Sicherung des angemessenen Lebensstandards aus der Menschenwürdegarantie her (vgl. auch EuGH, Urteil vom 12. November 2019 – Rs. C-233/18 – Haqbin, juris Rn. 46): Aus Nr. 11 der Erwägungsgründe, wonach u.a. Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern festgelegt werden sollen, die diesen im Normalfall ein menschenwürdiges Leben ermöglichen, folgt, dass die Höhe der finanziellen Unterstützung für ein menschenwürdiges Leben ausreichen muss (EuGH, Urteil vom 27. Februar 2014, Rs. C-79/13 – Saciri, juris Rn. 39 f. zur Vorgängervorschrift). Zudem stehen die allgemeine Systematik, der Zweck der Aufnahme-RL und das Gebot nach Art. 1 GRC, die Menschenwürde zu achten und zu schützen, dem entgegen, dass einem Asylbewerber, und sei es auch nur vorübergehend, der mit den in dieser Richtlinie festgelegten Mindestnormen verbundene Schutz entzogen wird (EuGH, Urteil vom 27. Februar 2014, Rs. C-79/13 – Saciri, juris Rn. 35; vgl. Urteil vom 27. September 2012 – Cimade und GISTI –, juris Rn. 56, beide zur Vorläuferrichtlinie). Der Senat sieht in Art. 17 Aufnahme-RL mithin eine Konkretisierung des Anspruchs auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, der nicht nur auf der Basis des Grundgesetzes, sondern auch im Unionsrecht seine Wurzel im grundrechtlichen Menschenwürdeschutz, nämlich in Art. 1 GRC, hat (zur Vergleichbarkeit: Janda, ZESAR 2014, 434 <437>). Aus der Menschenwürdefundierung des Anspruchs und aus dem allgemeinen Gleichheitssatz in Art. 20 GRC folgt bereits primärrechtlich das in Art. 17 Abs. 5 Aufnahme-RL niedergelegte Prinzip, dass die mitgliedstaatliche Festlegung der bedarfsdeckenden Leistungshöhe zur Gewährleistung des „angemessenen Lebensstandards“ nicht ohne sachlichen Grund vom für Inländer gewährten Standard abweichen darf. Die „Gewährleistung“ des angemessenen Lebensstandards enthält die Garantie, dass die Mitgliedstaaten einen solchen Lebensstandard dauerhaft und ohne Unterbrechung sicherstellen müssen (EuGH, Urteil vom 12. November 2019 – Rs. C-233/18 – Haqbin, juris Rn. 50 zu Art. 20 Abs. 5 Aufnahme-RL), d.h. im Falle der Bedürftigkeit „müssen“ lückenlos die Art. 17 Abs. 5 Aufnahme-RL genügenden Leistungen gewährt werden (vgl. EuGH, Urteil vom 14. Mai 2020 – Rs. C-924/19 PPU und C-925/19 PPU – FMS u.a., juris Rn. 253 f.; Hruschka, in: Wollenschläger (Hrsg.), Europäischer Freizügigkeitsraum, EnzEuR Bd. 10, 2. Aufl. 2021, § 25 Rn. 167).
Ähnlich wie nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Urteil vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16 –) ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union die Ausnahme von diesen Grundsätzen, nämlich eine partielle Unterdeckung des angemessenen Lebensstandards, nur unter strengen Voraussetzungen mit Art. 1 GRC vereinbar, nämlich nur soweit eine Unterdeckung sekundärrechtlich vorgesehen ist (z.B. die Sanktionen nach Art. 20 Aufnahme-RL) und das Verhältnismäßigkeitsprinzip gewahrt wird (EuGH, Urteil vom 12. November 2019 – Rs. C-233/18 – Haqbin). Im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsprüfung markiert Art. 1 GRC nach der Rechtsprechung des EuGH eine absolute Untergrenze: Auch bei der Verhängung einer Sanktion ist es mit Art. 1 GRC unvereinbar, wenn der Betroffene in eine Situation extremer materieller Not gerät, die es ihm nicht erlaubt, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie etwa eine Unterkunft zu finden, sich zu ernähren, zu kleiden und zu waschen, und die seine physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder ihn in einen Zustand der Verendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre und zugleich einen Verstoß gegen Art. 4 GRC darstellte (vgl. EuGH, Urteil vom 12. November 2019 – Rs. C-233/18 – Haqbin, juris Rn. 46). Zu unterscheiden ist also – im Unterschied zu Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG – der Menschenwürdeschutz als materielle Leitlinie zur Bestimmung des angemessenen Lebensstandards einerseits und der gleichsam abwägungsfeste „Menschenwürdekern“, der auch durch eine Sanktion nicht betroffen werden darf (die Stufung diskutierend: Peek/Tsourdi, in: Hailbronner/Thym, EU Immgration and Asylum Law, 2nd ed. 2016, Art. 17 Rn. 13 ff.). Daraus darf aber nicht der Fehlschluss gezogen werden, dass der Bereich, der oberhalb dieser absoluten Untergrenze liegt, zur Disposition des nationalen Gesetzgebers stünde, solange die Minderleistung nur verhältnismäßig sei. In Verbindung mit der „Gewährleistung“ nach Art. 17 Abs. 2 Aufnahme-RL folgt aus dieser Dogmatik für den Senat vielmehr, dass zwischen einer bedarfsbezogenen Differenzierung, die insbesondere nach Art. 17 Abs. 5 Aufnahme-RL sachlich gerechtfertigt sein muss, und einer Sanktion als echte Unterdeckung, die am Maßstab von Art. 20 Aufnahme-RL einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung und der o.g. Untergrenze unterliegt, zu unterscheiden ist.
Da es vorliegend nicht um eine Sanktion geht, kann sich eine Rechtfertigung für die niedrigere Leistungshöhe allein aus den Anforderungen aus Art. 17 Abs. 2 und Abs. 5 Aufnahme-RL i.V.m. Art. 1 und 20 GRC an eine generell-abstrakte Leistungsdifferenzierung ergeben. Ausdrücklich genannte Rechtfertigungsgründe aus Art. 17 Abs. 5 Aufnahme-RL für einen gegenüber dem Leistungssystem für Inländer niedrigeren Leistungssatz sind die Sachleistungserbringung sowie eine im mitgliedstaatlichen Grundsicherungssystem angelegten Überschreitung des menschenwürdigen Existenzminimums. Die in Art. 17 Abs. 5 Aufnahme-RL genannten Gründe für Abweichungen sind aber nicht abschließend („insbesondere“). Wegen des auch im Unionsrecht angelegten Bedarfsdeckungsgrundsatzes hält der Senat auch solche Differenzierungen für gerechtfertigt, die gerade die abweichende Bedarfssituation von Schutzsuchenden betreffen, vergleichbar dem o.g., vom Bundesverfassungsgericht in BVerfGE 132, 134 konkretisierten Maßstab. In Zusammenschau mit dem Erfordernis einer lückenlosen und bedarfsdeckenden „Gewährleistung“ des angemessenen Lebensunterhalts sind aber auch nur solche Differenzierungen „nach unten“ gegenüber dem Leistungsniveau für Inländer zu rechtfertigen, die in der individuellen Bedarfssituation der Antragstellerinnen und Antragsteller als um internationalen Schutz nachsuchende Personen begründet sind.
(3) Gemessen an diesem Maßstab sind die Leistungshöhen der § 3a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG, § 3a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG und § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG nach summarischer Prüfung unionsrechtswidrig. Wie oben gezeigt, beruht die geringere Regelleistungshöhe von 90 Prozent gegenüber in einer Wohnung lebenden Alleinstehenden nicht auf dem Unterschied zwischen Sach- und Geldleistungsgewährung i.S.d. Art. 17 Abs. 5 Aufnahme-RL. Sie betrifft ausnahmslos die Geldleistungsgewährung. Sie entstehen auch unabhängig von der Sachleistungsgewährung in Gestalt der Unterbringung in der Gemeinschaftsunterkunft (zu den bereits herausgerechneten weiteren Bedarfen siehe unten cc). Wie ebenfalls bereits im Rahmen der verfassungsrechtlichen Würdigung geprüft, beruht die zehnprozentige Absenkung weder auf der Kürzung einer über dem Existenzminimum liegenden Zielsetzung des Leistungssystems, denn das RBEG, das der Leistungshöhe zugrunde liegt, dient gerade der Bemessung des menschenwürdigen Existenzminimums, noch ist sie durch die besondere Bedarfssituation der Asylbewerberinnen und Asylbewerber gerechtfertigt. Selbst wenn man davon ausginge, dass insoweit jeder sachliche Grund mit Bedarfsbezug ausreichte, so fehlte es an einem solchen, da der Gesetzgeber ohne empirische Grundlage sein eigenes Bemessungssystem zur Bestimmung der Regelbedarfsstufen durchbrochen hat. Denn der Gesetzgeber fordert im Vergleich zu anderen Anwendungsfällen der Regelbedarfsstufe 2 bzw. der Parallelregelungen in § 3a AsylbLG nicht das tatsächliche gemeinsame Wirtschaften als Voraussetzung. Zudem fehlt am Maßstab von Art. 20 GRC, der auch Gleichheit gegenüber dem Gesetzgeber garantiert, der sachliche Grund für eine Rechtfertigung der Ungleichbehandlung mit anderen alleinstehenden Antragstellerinnen und Antragstellern, denn es ist nicht nachvollziehbar, warum in einer Gemeinschaftsunterkunft lebende alleinstehende, um internationalen Schutz suchende Personen niedrigere Leistungen erhalten als in einer Wohngemeinschaft lebende, alleinstehende Personen in der gleichen Situation.
(4) In der Rechtsfolge ist der Senat verpflichtet, die Normen, die gegenüber Regelbedarfsstufe 1 (bzw. deren Äquivalent in § 3a AsylbLG) zu einer Absenkung führen, unangewendet zu lassen.
Zwar handelt es sich bei Art. 17 Aufnahme-RL bei isolierter Betrachtung um einen von den mitgliedstaatlichen Gerichten nicht unmittelbar anwendbaren Gesetzgebungsauftrag. Diese isolierte Betrachtung hätte zur Folge, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte nach vorherrschender Ansicht spätestens nach Ablauf der Umsetzungsfrist nur die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung hätten. Wäre eine solche nach dem mitgliedstaatlichen Methodenstandard nicht möglich, so käme eine Nichtanwendung einer nationalen Rechtsvorschrift im Wege des Anwendungsvorrangs nicht in Betracht, vielmehr wäre die betreffende Person auf Schadensersatz wegen Nichtumsetzung der Richtlinie zu verweisen (vgl. zum Ganzen und zum Meinungsstand: Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 288 AEUV Rn. 108; Calliess/Kahl/Puttler, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 4 EUV Rn. 96-100, eine Verwerfungsbefugnis des mitgliedstaatlichen Gerichts unabhängig von der unmittelbaren Anwendbarkeit befürwortend).
Indes wurde oben gezeigt, dass Art. 17 Aufnahme-RL im Wesentlichen nur Art. 1 GRC und Art. 20 GRC konkretisiert. Die Chartagrundrechte aus Art. 1 und Art. 20 GRC sind unmittelbar einklagbare subjektive Rechte (zu Art. 1 Jarass, GRC, 4. Aufl. 2021, Art. 1 Rn. 2 und Art. 20 Rn. 2, jeweils m.w.N.). Sie sind vorliegend für den Senat als mitgliedstaatliches Gericht bindend anzuwenden, da es sich bei der Frage, ob § 3a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG, § 3a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG und § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG dem Gesetzgebungsauftrag aus Art. 17 Aufnahme-RL genügen, um eine Frage der „Durchführung des Rechts der Union“ im Sinne des Art. 51 Abs. 1 Satz 1 letzter Hs. GRC handelt. Die aus den Chartagrundrechten hergeleiteten subjektivrechtlichen Rechtssätze sind mit Anwendungsvorrang bei der Rechtsanwendung durch die mitgliedstaatlichen Gerichte ausgestattet; es besteht die Rechtspflicht zur Beachtung des Anwendungsvorrangs durch die mitgliedstaatlichen Gerichte (vgl. Art. 4 Abs. 3 des Vertrages über die Europäische Union – EUV). Dies gilt auch dann, wenn die Anwendung der Grundrechte der GRC nach Art. 51 GRC gerade durch eine nicht unmittelbar anwendbare Richtlinienvorschrift begründet wird (so zum Parallelproblem fehlender unmittelbaren Anwendbarkeit der Richtlinie im horizontalen Verhältnis und Art. 21 GRC: EuGH, Urteil vom 19. Januar 2010, Rs. C-555/07 – Kücükdevici, Slg.2010, I-365, zitiert nach juris Rn. 21 ff., 53; vgl. bereits Urteil vom 22. November 2005, Rs. C-144/04 – Mangoldt, Slg. 2005, I-9981, zit. nach juris Rn. 76-77). Entsprechendes gilt für den Fall der methodisch nicht möglichen richtlinienkonformen Auslegung, nämlich der Anwendungsvorrang des den entsprechenden Rechtssatz enthaltenden Unionsgrundrechts (vgl. ausf. EuGH, Urteil vom 17. April 2018, Rs. C-414/16 – Egenberger, juris, Rn. 75 bis 81).
Rechtsfolge des Anwendungsvorrangs ist die Nichtanwendung des die Unionsrechtswidrigkeit begründenden Tatbestandsmerkmals oder der Teilnorm. Da es sich nach der Systematik des AsylbLG – wie insbesondere die Binnensystematik des § 2 AsylbLG und das grundsicherungsrechtliche System der Regelbedarfsbemessung zeigen – bei § 3a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG, § 3a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG und § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG um Ausnahmevorschriften handelt, ist der Antragsteller so zu stellen, dass auf ihn die Vorschriften über Alleinstehende Anwendung finden, die nicht in Gemeinschaftsunterkünften wohnen.“
Die Antragstellerin unterfällt nach Art. 3 Abs. 1 Aufnahme-RL dem persönlichen Anwendungsbereich der Richtlinie. Die afghanische Staatsangehörige hat im Juli 2020 einen Asylantrag gestellt; mithin ist sie eine Drittstaatsangehöriger, die im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats internationalen Schutz beantragt hat (zum Antrag auf internationalen Schutz i.S.d. Art. 3 Abs. 1 Aufnahme-RL siehe § 13 Abs. 2 AsylG); sie ist Inhaberin einer Aufenthaltsgestattung, mithin darf sie als Antragstellerin im Hoheitsgebiet i.S.d. Art. 3 Abs. 1 letzter Hs. Aufnahme-RL verbleiben.
Soweit der Antragsgegner im Verfahren auf einstweiligen Rechtsschutz darauf abstellt, dass ein „gemeinsames Wirtschaften“ der Antragstellerin und ihrer Schwester gerade aufgrund der von den Schwestern gewollten Unterkunftsgestaltung vorliege, die zu Synergieeffekten im Sinne von Einsparungen führe und insoweit auf den Grundgedanken des § 84 Abs. 2 SGB XII hinweist, kann dies von dem Senat unter Hinweis auf die obigen Ausführungen nicht nachvollzogen werden. Bei SGB XII- bzw. SGB II- Leistungsempfängern existiert zunächst gerade eine Einstandspflicht zwischen Schwestern nicht (Vorliegen einer Ungleichbehandlung mit anderen alleinstehenden Antragstellerinnen und Antragstellern: Es ist nicht nachvollziehbar, warum in einer Gemeinschaftsunterkunft lebende alleinstehende, um internationalen Schutz suchende Personen niedrigere Leistungen erhalten als in einer Wohngemeinschaft lebende, alleinstehende Personen in der gleichen Situation). Zudem hat zwar der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin einem „gemeinsamen Wirtschaften“ der Antragstellerin mit ihrer Schwester nicht widersprochen. In welchem Umfang dieses vorliegt und ob und in welcher Höhe insoweit tatsächlich Einsparungen (wirtschaftliche Vorteile) erlangt werden, ist vorliegend für den Senat bereits im tatsächlichen Umfang nicht ersichtlich. Ein entsprechender, konkreter Vortrag des Antragsgegners hierzu fehlt. Der Senat sah sich im Verfahren auf einstweiligen Rechtsschutz zudem nicht gedrängt, diesbezüglich Ermittlungen anzustellen.
Da wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts die Antragstellerin so gestellt werden muss wie Alleinstehende, die nicht in Gemeinschaftsunterkünften wohnen, bemisst sich die Leistungshöhe nach § 3a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AsylbLG, § 3a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylbLG. Dies ergibt einen monatlichen Leistungsanspruch in Höhe von 364,00 € (162,00 € + 202,00 €). Für den Zeitraum vom 27. Mai 2021 bis zum 31. Mai 2021 steht dem Anspruch 58,71 € (364,00 € geteilt durch 31 x 5) eine Bewilligung von 52,90 € (328,00 € geteilt durch 31 x 5) gegenüber. Mithin kann die Antragstellerin die Zahlung von weiteren 5,81 € beanspruchen. Für den Zeitraum ab Juni 2021 ist der monatliche Anspruch um jeweils 36,00 € höher als die bewilligten Leistungen (364,00 € abzüglich 328,00 €).
Angesichts der Differenz der gewährten Leistungen zu den glaubhaft gemachten Anordnungsansprüchen kann der Anordnungsgrund nicht verneint werden. Zur Begründung verweist der Senat erneut auf die detaillierten Darlegungen in dem Rechtsstreit L 4 AY 3/21 B ER – juris -.
Da keine besonderen Umstände ersichtlich sind und der Antragsgegner nach wie vor monatsweise Leistungen bewilligt, befristet der Senat die einstweilige Anordnung auf den Ablauf des 31. Oktober 2021, dem Ende des auf die Entscheidung folgenden Monats. Der Senat geht davon aus, dass bei unveränderter Sachlage der Antragsgegner die hier tenorierten Leistungen auch darüber hinaus weiter gewährt. Ebenso wie der Senat ist auch der Antragsgegner nach allgemeinen Grundsätzen (Art. 4 Abs. 3 EUV) verpflichtet, den Anwendungsvorrang des Unionsrechts zu beachten.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren beruht auf §§ 73a SGG i.V.m. 114 Zivilprozessordnung (ZPO).
Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.