L 8 SB 21/19

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 32 SB 90/18
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 8 SB 21/19
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 9 SB 43/22 B
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Sind Erkrankungen in Teil B der AnlVersMedV nicht erfasst, ist die Bildung von Analogien durch den medizinischen Sachverständigen grundsätzlich zulässig.

Dies unterliegen jedoch der gerichtlichen Überprüfung.

Bemerkung

Sind Erkrankungen in Teil B der AnlVersMedV nicht erfasst, ist die Bildung von Analogien durch den medizinischen Sachverständigen grundsätzlich zulässig.

   
   
 

 

      1. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Chemnitz vom 17. Januar 2019 wird zurückgewiesen.
      2. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
      3. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

Tatbestand

 

Die Beteiligten streiten über die Höhe des bei der Klägerin festzustellenden Grades der Behinderung (GdB) und über das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G.

 

Die 2006 geborene Klägerin leidet an einer Enchondromatose (= Morbus Ollier). Dabei handelt es sich um eine seltene Erkrankung des Skeletts, die durch das Auftreten multipler, gutartiger Tumore (Enchondrome) in den Röhrenknochen gekennzeichnet ist. Das Wachstum der Tumore korreliert mit den Wachstumsphasen des kindlichen Skeletts und sistiert zumeist mit dem Abschluss des Längenwachstums. Klinisch äußern sie sich in einer Behinderung des Wachstums mit Deformierung und pathologischen Frakturen der betroffenen Knochen. Bei der Klägerin wurden bereits Enchondrome an den Fingern beider Hände abgetragen. Aufgrund fehlendem Knochenwachstum wurde 2013 der linke Oberschenkel operativ versorgt. Wegen zunehmender Deformierung erfolgte im Februar 2017 nochmals die Ausräumung eines Enchondroms und die Korrektur der deformierten Knochen des linken Beines. Es wurde ein Fixateur extern angebracht, um ein Längenwachstum des Knochens zu erreichen. Im Mai 2017 war der Knochen vollständig durchbaut und der Fixateur konnte entfernt werden. Die Klägerin bewegte sich zeitweise an zwei UA-Stützen und mittels Rollstuhl fort. Sie erhielt von Februar 2017 an Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung nach dem Pflegegrad 2 für zunächst sechs Monate. Die Nachbegutachtung im Dezember 2017 ließen die Eltern nicht durchführen, da sich nach dem Anschreiben des Vaters der Klägerin an die Pflegekasse vom 28. Februar 2017 "der Gesundheitszustand von zwischenzeitlich derart verbessert hat, dass eine Aufrechterhaltung des Pflegegrades nicht zu erwarten ist".

 

Die Klägerin beantragte am 24. Januar 2017 bei dem Beklagten die Feststellung von Funktionseinschränkungen, eines GdB und die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für Merkzeichen.

 

Nach Beiziehung medizinischer Unterlagen und der anschließenden sozialmedizinischen Auswertung lehnte der Beklagte den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 6. März 2017 ab, da weder Behinderungen im Sinne des SGB IX noch die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G und der übrigen Merkzeichen vorlägen.

 

In ihrem Widerspruch führte die Klägerin aus, dass der Beklagte zum Krankheitsbild nicht genügend recherchiert habe und deshalb die von der Klägerin mitgeteilten Funktionseinschränkungen nicht ausreichend berücksichtigt worden seien. Daraufhin holte der Beklagte weitere medizinische Unterlagen ein und half dem Widerspruch teilweise ab (Teilabhilfebescheid vom 10. Januar 2018), in dem er nunmehr einen GdB von 20 zugrunde legte und als Funktionseinschränkungen eine Knochenerkrankung mit Funktionseinschränkung des Beines links feststellte.

 

Im Übrigen wies der Kommunale Sozialverband Sachsen (KSV) den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 5. Februar 2018 zurück. Bei der Klägerin liege eine Systemerkrankung am Skelett und Knorpel vor. Im Oktober 2017 sei noch ein hinkender Gang und eine potentielle Frakturgefährdung attestiert worden. Weitere gutartige Tumore seien im körpernahen Anteil des Oberschenkels links noch vorhanden. Die derzeitige Beurteilung basiere auf einem zu erwartenden Dauerschaden bei günstigem Heilungsverlauf analog zu einer prothesengerechten Situation bei einem Kunstgelenk des Knies. Zukünftige negative Entwicklungen könnten nicht als Beurteilungsgrundlage herangezogen werden, weshalb der GdB von 20 korrekt sei. Die Feststellung von Merkzeichen komme nicht in Betracht.

 

Hiergegen hat sich die am 5. März 2018 vor dem Sozialgericht Chemnitz erhobene Klage gerichtet, mit der sie ihr Begehren eines höheren GdB und der Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen G, B und H weiterverfolgt hat. Die Erkrankung äußere sich in einer Behinderung des Wachstums mit Deformierungen sowie pathologischen Frakturen der betroffenen Knochen. Neben diesen Frakturen und Fehlstellungen drohe eine maligne Entartung der knöchernen Läsionen. Die Knochentextur sei bei der Klägerin aufgrund der Erkrankung verändert, was zu einer erheblichen Instabilität und Erhöhung der Bruchgefahr führe. Deshalb könne sie auch nicht am Schulsport teilnehmen. Aktivitäten wie Wanderungen seien ihr unmöglich. Die beschriebenen Funktionseinschränkungen seien denen der Glasknochenkrankheit vergleichbar, weshalb ein höherer GdB sowie die erwähnten Merkzeichen anzunehmen seien.

 

Das Sozialgericht hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 17. Januar 2019). Der Beklagte hatte zutreffend einen GdB von 20 festgestellt und die Voraussetzungen der begehrten Merkzeichen als nicht erfüllt angesehen. Das Sozialgericht ist dabei dem Fachgutachten von Dr. P.... gefolgt. Demnach sei mit Blick auf die Grunderkrankung der Klägerin, einer Enchondromatose (Morbus Ollier), eine Analogiebetrachtung vorzunehmen, da diese seltene Erkrankung in der Versorgungsmedizinverordnung nicht aufgeführt sei. Der Sachverständige habe überzeugend ausgeführt, dass bei der Klägerin gegenwärtig keine funktionellen Einschränkungen vorlägen. Sie habe zwar eine geringgradige Beinlängendifferenz von 1,0 cm zu Gunsten links und muskulär eine gewisse Differenz, da die Beinmuskulatur links etwas schwächer ausgeprägt sei als rechts, jedoch sei die Klägerin rein funktionell gut gestellt. Unabhängig davon, ob eine Analogie zu VMG Teil B Nr. 18.14, 18.5 oder 18.1 gebildet werde, sei daher vorliegend kein höherer GdB als 10 gerechtfertigt. Auch die Beurteilung der Fußdeformität im Sinne eines Knick-Senk-Spreizfußes mit einem GdB von 10 sei nicht zu bestanden. Die Zuerkennung eines höheren GdB als 20 sei daher nicht möglich, da lediglich zwei Einzel-GdB von 10 vorlägen. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Merkzeichen G, B und H lägen nicht vor. Die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G könnten nicht festgestellt werden, da der GdB auf die unteren Gliedmaßen nicht wenigstens 50 oder in Ausnahmefällen 40 bedinge. Die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen B und H scheiterten, da die Klägerin den Schulweg allein mit dem Schulbus bewältige und auch nicht hilflos sei.

 

Gegen den der Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 21. Januar 2019 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die am 12. Februar 2019 vor dem Sächsischen Landessozialgericht eingelegte Berufung, mit der die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt. Sie bezieht sich auf ihren erstinstanzlichen Vortrag und ergänzt, dass der Sachverständige Dr. P.... kein geeigneter Sachverständiger sei, um ihr Krankheitsbild umfassend und zutreffend zu bewerten. Außerdem habe er den Verlauf der Erkrankung nicht hinreichend berücksichtigt. Die Klägerin befinde sich dauerhaft zwischen Besserung und Neuauftreten der Krankheitssymptome.

 

Die Klägerin beantragt,

 

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Chemnitz vom 17. Januar 2019 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 6. März 2017 in der Gestalt des Teilabhilfebescheides vom 10. Januar 2018 sowie des Widerspruchsbescheides vom 5. Februar 2018 zu verurteilen, einen GdB von mindestens 50 sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G festzustellen.

 

 

Der Beklagte beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Er nimmt Bezug auf die seiner Ansicht nach zutreffende erstinstanzliche Entscheidung.

 

Der Senat hat einen Befundbericht der Dipl.-Med. F...., Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin, vom 4. April 2020 eingeholt, die eine erhöhte Frakturgefährdung bestätigt, jedoch spontane Knochenbrüche mindestens zweimal jährlich oder mehr verneint. Ferner hat der Senat einen Befundbericht des Dr. E...., leitender Arzt der Kinderorthopädie der Orthopädischen Klinik K...., vom 12. Mai 2020 eingeholt. Dieser beschreibt eine progrediente Skelettsystemerkrankung mit zunehmender Achsfehlstellung und Längendifferenz. Spontane Frakturen träten nicht auf, sondern progrediente Deformität.

 

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens von Dr. G...., Facharzt für Orthopädie, Unfallchirurgie und Kinderorthopädie. In seinem am 13. September 2021 nach ambulanter Untersuchung der Klägerin erstatteten Gutachten hat der Sachverständige als Funktionseinschränkungen eine Verschmächtigung der Muskulatur des linken Beines sowie eine Fehlstatik durch Tiefstand des linken Beckens von 1,5 cm ausgewiesen und einen GdB von 20 vorgeschlagen. Zwar seien Funktionseinschränkungen der Gelenke der Extremitäten und der Wirbelsäule nicht feststellbar gewesen, jedoch bestünde aufgrund der erheblichen Muskelverschmächtigung des linken Beines eine verminderte Belastbarkeit. Der GdB belaufe sich auf 20 ab Januar 2017 analog den Bewertungsmaßstäben für Muskelerkrankungen nach Teil B Nr. 18.6 AnlVersMedV. Krankhafte Folgen des hohen, altersuntypischen, aber notwendigen Schmerzmittelbedarfs bestünden derzeit noch nicht.

 

Auf den Antrag der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat der Senat ein medizinisches Sachverständigengutachten von Prof. Dr. D...., Chefarzt der Klinik für Kinderorthopädie, Deformitätenrekonstruktion und Fußchirurgie L...., eingeholt. In dem am 18. März 2022 nach ambulanter Untersuchung der Klägerin vorgelegten Gutachten weist der Sachverständige als Funktionseinschränkungen eine Beinverkürzung linksseitig von 1,5 cm, eine deutliche Muskelmasseminderung des linken Beines im Vergleich zu rechts von 4 cm und eine fixierte Fehlhaltung mit Rumpfüberhang nach links von 3 cm ohne strukturelle Veränderung der Wirbelsäule im Sinne einer Skoliose aus. Für die deutliche Muskelminderung und die funktionelle Behinderung der linken unteren Extremität schlägt er einen Einzel-GdB von 20 analog einer unvollständig kompensierbaren Gangunsicherheit vor und für die Fehlhaltung im Bereich der Wirbelsäule einen Einzel-GdB von 10. Beide Funktionseinschränkungen beträfen die Leistung beim Stehen und Gehen, so dass Überschneidungen zu verzeichnen seien. Da die Lotverschiebung der Wirbelsäule erstmals im Rahmen seiner Untersuchung festgestellt worden sei, sei ab März 2022 von einem Gesamt-GdB von 25 auszugehen. Die Voraussetzungen für das Merkzeichen G lägen nicht vor, da kein GdB von 50 oder in Ausnahmefällen von 40 für die unteren Extremitäten anzunehmen sei. Auch sei die Gehfähigkeit nicht entsprechend Teil D 1. b. AnlVersMedV eingeschränkt. Es bestehe zwar ein hinkendes Gangbild, das Gehen sei jedoch hinsichtlich Geschwindigkeit und Leistungsfähigkeit im Bereich von 2 km langen Gehstrecken in 30 Minuten nur geringfügig eingeschränkt.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf die Gerichtsakte aus beiden Rechtszügen und auf die Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

 

Entscheidungsgründe

 

Die frist- und formgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 151, 153 SGG), hat jedoch in der Sache keinen Erfolg. Zutreffend hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Der Bescheid des Beklagten vom 6. März 2017 in der Gestalt des Teilabhilfebescheides vom 10. Januar 2018 sowie des Widerspruchsbescheides vom 5. Februar 2018 erweist sich auch nach Überprüfung durch das Berufungsgericht als rechtsfehlerfrei. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Feststellung eines GdB von mindestens 50. Darüber hinaus liegen die Voraussetzungen für das Merkzeichen G nicht vor.

 

Rechtliche Grundlage für den von der Klägerin am 24. Januar 2017 bei dem Beklagten gestellten Antrag auf Feststellung von Behinderungen und eines GdB ist § 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX i. d. F. ab 1. Januar 2018 (bis 31. Dezember 2017: § 69 Abs. 1 Satz 1). Hiernach stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung fest. Diese Vorschrift knüpft materiell-rechtlich an den in § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX bestimmten Begriff der Behinderung an. Danach sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Nach § 152 Abs. 1 Satz 5 SGB IX (§ 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX a.F.) werden die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft als Grad der Behinderung nach Zehnergraden abgestuft dargestellt. Bei dem Vorliegen mehrerer Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft wird gemäß § 152 Abs. 3 Satz 1 SGB IX (§ 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX a.F.) der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt.

 

Die Bemessung des GdB ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts in drei Schritten vorzunehmen, wobei die Schritte zwei und drei grundsätzlich Aufgabe der Verwaltung bzw. tatrichterliche Aufgabe (BSG, Beschluss vom 9. November 2010 - B 9 SB 35/10 B – juris Rn. 5) ist. In einem ersten Schritt werden ausschließlich mit medizinischem Fachwissen die einzelnen und nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen festgestellt. Da es für die Bemessung des Gesamt-GdB nach § 152 SGB IX maßgebend auf die Auswirkungen der Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ankommt, hat in einem zweiten und dritten Schritt die Verwaltung bzw. das Tatsachengericht über die medizinisch zu beurteilenden Maßstäbe hinaus weitere Umstände auf gesamtgesellschaftlichem Gebiet zu berücksichtigen. Da für die Feststellung der Auswirkungen der Behinderung gemäß § 152 Abs. 1 Satz 4 SGB IX (§ 69 Abs. 1 Satz 4 SGB IX a.F.) die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) heranzuziehen sind, ist aufgrund von § 30 Abs. 16 BVG erlassene Rechtsverordnung entsprechend anzuwenden. Die Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) regelt unter anderem versorgungsmedizinische Grundsätze für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen. Maßgeblich für die Feststellung des GdB ist die auf der Grundlage des aktuellen Stands der medizinischen Wissenschaft erstellte Anlage zu § 2 VersMedV "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VmG). Diese versorgungsmedizinischen Grundsätze sind sowohl im Verwaltungs- als auch im Gerichtsverfahren zu beachten (BSG, Beschluss vom 9. Dezember 2010 - B 9 SB 35/10 – juris Rn. 5). Hiernach stellen die Verwaltung als auch das Tatsachengericht zunächst die Einzel-GdB-Werte fest. Sodann ist nach Maßgabe von Teil A 2 e) AnlVersMedV ein Teil-GdB für das bestimmte Funktionssystem zu bilden, dem die Einzel-GdB-Werte zuzuordnen sind. Die AnlVerMedV unterscheidet in Teil A 3 1. AnlVersMedV die Funktionssysteme Gehirn/Psyche, Augen, Ohren, Atmung, Herz/Kreislauf, Verdauung, Harnorgane, Geschlechtsapparat, Haut, Blut einschl. blutbildendes Gewebe und Immunsystem, innere Sekretion/Stoffwechsel, Arme, Beine und Rumpf.

 

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze sind die Gesundheitsstörungen der Klägerin zur Überzeugung des Senats und in Übereinstimmung mit dem Sozialgericht mit einem Gesamt-GdB von 20 zu bewerten.

 

Die bei der Klägerin vorliegende Erkrankung „Enchondromatose“ und deren Funktionseinschränkungen sind in Teil B der AnlVersMedV nicht erfasst. Zutreffend haben auch die medizinischen Sachverständigen für die Bewertung der Funktionseinschränkungen Analogien gebildet. Der Senat schließt sich der von Dr. G… vorgeschlagenen Analogie an, die Funktionseinschränkungen des linken Beines entsprechend der in Teil B Nr. 18.6 AnlVersMedV geregelten Maßstäben für Muskelkrankheiten zu bewerten. Als Funktionseinschränkungen der bei der Klägerin vorliegenden Erkrankung zeigen sich gleichermaßen – wie bei den Muskelkrankheiten – vorrangig Muskelschwäche, Ermüdungserscheinungen und Unsicherheiten. Demnach werden die vorliegenden Funktionseinschränkungen des linken Beines von den unter Teil B Nr. 18.6 AnlVersMedV geregelten Bewertungsmaßstäben vollumfänglich erfasst. Die Funktionseinschränkungen resultieren vorliegend lediglich nicht aus einer direkten Erkrankung der Muskulatur, sondern aus einer gutartigen Tumorerkrankung der Knochen. Eine adäquate Analogie für die Funktionseinschränkung des linken Beines stellt auch der Sachverständige Prof. Dr. D.... her. Er benennt zwar Teil B Nr. 18.6 AnlVersMedV als Grundlage nicht ausdrücklich, bezieht sich jedoch im Rahmen seines Bewertungsvorschlages auf die Muskelschwäche des linken Beines. Die Sachverständigen Dr. G.... und Prof. Dr. D.... haben eine Muskelmasseminderung des linken Beines im Vergleich zu rechts von 4 cm sowie eine Beinverkürzung von links 1,5 cm mit Fehlstatik des linken Beckens festgestellt; auch der Sachverständige Dr. P... hat eine Muskelmasseminderung und eine Beinlängendifferenz beschrieben. Dr. G.... und Prof. Dr. D.... haben nachvollziehbar die vorzeitige Ermüdung der Muskulatur und (Lauf-) Unsicherheiten beschrieben. Diese sind nach der Aussage der Gutachter auf die Minderung der Muskelmasse zurückzuführen Dadurch kommt es insbesondere bei Belastung, aber auch zeitweise in Ruhe zu erheblichen Schmerzen, die einen altersuntypisch gesteigerten Schmerzmedikamentenbedarf erfordern. Die Belastbarkeit des linken Beines ist dadurch eingeschränkt. Dem Vorschlag des Sachverständigen Dr. G...., diese Funktionseinschränkungen nach Teil B Nr. 18.6 AnlVersMedV mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten, schließt sich der Senat an. Nach diesen Bewertungsmaßstäben ist für eine Muskelschwäche mit geringen Auswirkungen ein GdB von 20 bis 40 vorgesehen. Mittelgradige Auswirkungen, die u. a. zunehmende Gelenkdeformitäten sowie die Unmöglichkeit des Treppensteigens voraussetzen, bedingen einen GdB von 50 bis 80. Entsprechend des oben dargestellten objektiven Befundes kommt lediglich eine Einordnung in die Gruppe eines GdB von 20 bis 40 in Betracht. Angesichts dessen, dass die Klägerin ausweislich aller drei Sachverständigengutachten das linke Bein normal bewegen kann und eine Ermüdung der Muskulatur sowie Unsicherheiten vorrangig bei Belastung auftreten, hält der Senat den übereinstimmenden Vorschlag der Sachverständigen Dr. G.... sowie Prof. Dr. D...., den Einzel-GdB an der unteren Grenze des Rahmens mit 20 anzusetzen, für sachgerecht. So wird der Kniestand als freihändig ausführbar beschrieben, der Einbeinstand links geringfügig unsicher; der tiefe Hocksitz konnte ausgeführt werden, jedoch nicht bis zur tiefen Hocke.

 

Eine andere Analogie für die Funktionseinschränkungen des linken Beines der Klägerin mit den Bewertungsmaßstäben in Teil B AnlVersMedV ergibt sich für den Senat nicht. Eine chronische Osteomyelitis nach Teil B Nr. 18.5 AnlVersMedV, auf die sich der Sachverständige Dr. P... bezogen hat, kommt nicht in Betracht, da die Funktionseinschränkungen dabei hauptsächlich in entzündlichen Prozessen (Fistelungen) münden, die bei der Klägerin nicht vorliegen. Auch die von der Prozessbevollmächtigten angeführte Analogie zur Bewertung der Glasknochenkrankheit nach Teil B Nr. 18.7 Anmerkung 3 AnlVersMedV, kommt nicht in Betracht, da der GdB für eine solche Erkrankung abhängig ist von der Häufigkeit der vorliegenden Spontanfrakturen. Spontanfrakturen hat die Klägerin jedoch bisher nicht erlitten. Vielmehr sind Deformierungen zu verzeichnen, wie der behandelnde Arzt der Klägerin, Dr. E...., nachvollziehbar ausgeführt hat. Aufgrund dessen scheitert auch eine Analogie zu den Bewertungsmaßstäben der Osteoporose nach Teil B Nr. 18.1 Anmerkung 2. AnlVersMedV.

 

Im Gegensatz zur Ansicht der Klägerin kann keine Analogie ihres Krankheitsbildes mit Krankheitsbildern hergestellt werden, für die eine Heilungsbewährung festzustellen ist. Denn weil die Enchondromatose durch einen Verlauf von Aktivität, Behandlung und Inaktivität geprägt ist, darf nicht allein auf diese zuletzt genannte regelmäßige Phase abgestellt werden. Aktivität und Behandlung charakterisieren den beschriebenen regelmäßigen Verlauf der Erkrankung der Klägerin ebenfalls; diese beiden Phasen sind hingegen nicht dazu geeignet, Heilungsbewährung anzunehmen. Auch isoliert betrachtet führen die Phasen der Inaktivität nicht zur Heilungsbewährung. Denn die Inaktivität führt nicht zur Heilung, sondern steht begrifflich vor dem wiederkehrenden Zeitraum aufflammender Inaktivität.

 

Wie eingangs ausgeführt, stellen nach § 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX i. d. F. ab 1. Januar 2018 (bis 31. Dezember 2017: § 69 Abs. 1 Satz 1) die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung fest. Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit mehr als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Hier und auch an keiner anderen Stelle verlangt das Gesetz eine Prognose über einen Zeitraum von mehr als sechs Monaten. Grundsätzlich ist die gegenwärtige Situation, der augenblickliche Zustand der Behinderung zu bewerten. Gesundheitsstörungen bzw. Verschlechterungen und auch Besserungen mit denen erst in Zukunft zu rechnen ist, sind nicht zu berücksichtigen. Den veränderten Gegebenheiten kann nach dem Sozialprozessrecht jederzeit Rechnung getragen werden; jede Verschlechterung wird mit einem erhöhten GdB bewertet, jede Besserung kann zu einer Herabsetzung des GdB führen. Eine Ausnahme bilden Leiden, die nach ihrer Entfernung zu Rezidiven neigen und bei denen deshalb nach ihrer Behandlung über längere Zeit, d.h. mindestens mehr als sechs Monate bis zu mehreren Jahren, ungewiss bleibt, ob der Behandlungserfolg auch anhalten wird. Für die Beurteilung solcher Leiden mit einem GdB wurde der Begriff "Heilungsbewährung" eingeführt (vgl. Rösner, "MdE und Heilungsbewährung", MEDSACH 1994, 39). Während die Begrifflichkeit einst im Rahmen der Bewertung der Lungentuberkulose entstanden ist (vgl. BSG, Urteil vom 22. Mai 1962 - 9 RV 590/59 - BSGE 17, 63-65) sind heute nach Teil B 1. c. AnlVersMedV die wichtigsten Anwendungsbereiche das Entfernen maligner Tumore sowie Organtransplantationen für das Abwarten einer Heilungsbewährung. Bei diesen Erkrankungen wird im Rahmen der Bewertung mit einem GdB nicht ausschließlich auf das Ausmaß der Funktionsbeeinträchtigungen abgestellt. Vielmehr wird eine Höherbewertung des Gesundheitszustandes unter den Gesichtspunkten der Ungewissheit des Krankheitsverlaufes, dem Gebot der Schonung und dem erforderlichen Umgang mit der Lebensbedrohlichkeit der Erkrankung vorgenommen (BSG, Urteil vom 22. Juni 2004 - B 2 U 14/03 R - juris Rn. 17). Derartige Voraussetzungen sind – ohne die Schwere des Krankheitsbildes der Klägerin zu verkennen – vorliegend für die Enchondomatrose nicht ersichtlich. Zwar besteht auch hier eine – zumindest bis zum Abschluss des Wachstums der Klägerin – Ungewissheit über den Krankheitsverlauf, insbesondere über die Anzahl der auftretenden Aktivitäten der Erkrankung. Allerdings ist das Kriterium der Lebensbedrohlichkeit nicht gegeben. Dass allein die Ungewissheit über den Verlauf der Erkrankung nicht genügt, um eine Heilungsbewährung festzustellen, ergibt sich bereits daraus, dass in der AnlVersMedV jegliche Krankheitsbilder gutartiger Tumore keine Heilungsbewährung bedingen. So ist in Teil B Nr. 3.3 AnlVersMedV explizit geregelt, dass sich der GdB nach Entfernung gutartiger Hirntumore allein nach dem verbleibenden Schaden richtet. Auch hier kann, wie bei der Klägerin, noch von einer Ungewissheit des Krankheitsverlaufes ausgegangen werden, da Rezidive jeder Zeit möglich sind. Teil B 1. d. AnlVersMedV regelt ausdrücklich, dass ein Carcinoma in situ kein Abwarten einer Heilungsbewährung rechtfertigt. Auch hier ist ein Rezidiv mit sogar maligner Entartung möglich.

 

Ferner tragen die Bewertungsmaßstäbe der AnlVersMedV auch Erkrankungen Rechnung, die bei längerem Leidensverlauf starken Schwankungen unterliegen. In Teil A 2 f. AnlVersMedV sind hier u. a. die chronische Bronchitis bzw. Anfallsleiden aufgeführt. Danach ist bei solchen Erkrankungen vom durchschnittlichen Ausmaß auszugehen. Bei Schäden an den Haltungs- und Bewegungsorganen fließt der Gesichtspunkt der – auch in Zeiten der Inaktivität anhaltenden – Minderbelastung ohnehin in die Bewertung ein; Teil B Nr. 18.1 AnlVersMedV. Unter Letzteres fallen auch die bei der Klägerin festgestellten Funktionseinschränkungen, woraus sich ergibt, dass dem Ansinnen der Klägerin bereits mit der erfolgten Feststellung des GdB Rechnung getragen wurde.

 

Die erstmals von Prof. Dr. D.... festgestellte Fehlhaltung im Bereich der Wirbelsäule wird von ihm zutreffend mit den Maßstäben nach Teil B Nr. 18.9 AnlVersMedV bewertet. Es besteht keine echte Deformierung bzw. strukturelle Formveränderung i. S. einer Skoliose, sondern ein Rumpfüberhang von 3 cm nach links; die Funktionswerte der Wirbelsäule stellen sich nach dem objektiven Befund im Normbereich dar. Damit handelt es sich um eine Funktionseinschränkung in einem Wirbelsäulenabschnitt leichter Art, die mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten ist. Der Senat folgt damit dem Vorschlag des Sachverständigen.

 

Der altersuntypische und dauerhafte Schmerzmittelgebrauch hat noch keine Folgeschäden verursacht, so dass ein Einzel-GdB hierfür nicht festzustellen ist. Hierauf weist der Sachverständige Dr. G.... zutreffend hin. Die Schmerzen sind bereits bei den Einzel-GdB-Werten mitberücksichtigt; Teil A 2 j. AnlVersMedV.

 

Im Hinblick auf die Bildung des Gesamt-GdB sind nach § 152 Abs. 3 Satz 1 SGB IX (§ 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX a.F.) die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander zu beurteilen. Der Gesamt-GdB gibt damit das Maß der Behinderungen nach den Gesamtauswirkungen sämtlicher Funktionsbeeinträchtigung an (BSG, Urteil vom 10. September 1997 - 9 RVs 15/96 – juris Rn. 15). Nach der gefestigten Rechtsprechung des BSG kommt bei der Feststellung des Gesamt-GdB eine wie auch immer geartete Bindungswirkung der Einzel- bzw. Teil-GdB-Werte nicht in Betracht, insbesondere sind eine Addition oder andere rechnerische Modelle unzulässig (vgl. u. a. BSG, Beschluss vom 17. April 2013 - B 9 SB 69/12 B - juris Rn. 10 m. w. N). In der Regel ist bei der Bildung des Gesamt-GdB von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel- bzw. Teil-GdB bedingt. Dieser Wert ist sodann unter Berücksichtigung der Auswirkungen der übrigen Gesundheitsstörungen entsprechend zu erhöhen (Teil A Nr. 3c AnlVersMedV), sodass der GdB insgesamt zu erhöhen ist. Allerdings kann bei einem Einzel- bzw. Teil-GdB von 10 – von Ausnahmefällen abgesehen – grundsätzlich nicht von einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung ausgegangen werden, auch dann nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen; Teil A Nr. 3d [ee] AnlVersMedV.

 

Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben ist der Gesamt-GdB, in den vorliegend ein Teil-GdB von 20 für das Funktionssystem „Beine“ sowie ein Teil-GdB von 10 für das Funktionssystem „Rumpf“ einfließen, mit 20 festzustellen. Der Teil-GdB von 10 erhöht nach den o. g. Maßstäben den Gesamt-GdB nicht. Insofern kann auch dem Vorschlag des Sachverständigen Prof. Dr. D.... nicht beigetreten werden, den Gesamt-GdB mit 25 festzustellen, unabhängig davon, dass der GdB – wie eingangs ausgeführt – ohnehin in Zehnerschritten erfolgt.

 

Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Feststellung des Merkzeichens G nach § 228 Abs.1 Satz 1 SGB IX. Hiernach kommt die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G nur für schwerbehinderte Menschen in Betracht. Nach § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB IX sind Menschen schwerbehindert, bei denen mindestens ein GdB von 50 vorliegt. Das ist bei der Klägerin nicht der Fall. Anders als vom Sozialgericht ausgeführt, kommt es vorliegend hinsichtlich der Feststellung des Merkzeichens G gerade nicht darauf an, ob der GdB für die unteren Extremitäten 50 oder im Ausnahmefall 40 beträgt und ob die Klägerin 2000 Meter in ca. 30 Minuten zurückzulegen vermag.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.

Rechtskraft
Aus
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