L 1 KR 438/20 KL ZVW

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1.
1. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 KR 438/20 KL ZVW
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 3 KR 22/22 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Eine obligatorische Nutzenbewertung nach § 35 a Abs. 1 SGB V ist durchzuführen, wenn ein neu zugelassenes Arzneimittel auf einer neuen Wirkung eines bekannten Wirkstoffes beruht. 

Die Klage wird abgewiesen.

 

Die Klägerin trägt die Kosten des gesamten Verfahrens.

 

Die Revision wird zugelassen.

 

 

Tatbestand

 

Streitig ist der Beschluss des Beklagten vom 27. November 2015 „über eine Änderung der Arzneimittel-Richtlinie (AM-RL) durch Ergänzung der Anlage XII - Beschlüsse über die Nutzenbewertung von Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen nach § 35a SGB V Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (§ 35a SGB V) -“ um den Wirkstoff Ivermectin.

 

Dieser Wirkstoff ist in der WHO-Liste der unentbehrlichen Medikamente enthalten als antiparasitäres Arzneimittel mit einem breiten Wirkungsspektrum, u.a. seit 1987 zur Bekämpfung der Onchozerkose (Flussblindheit), und seit 2011 der lymphatischen Filariose (Elephantiasis) (vgl. https://list.essentialmeds.org/medicines/58). Der Medizinnobelpreis 2015 ist unter anderem für die Entdeckung bzw. Entwicklung des Wirkstoffes vergeben worden. Ivermectin wird bei Menschen und Tieren seit Jahrzehnten erfolgreich zur Behandlung von Parasiten wie Darmwürmern und Krätzmilben verwendet. In jüngerer Zeit ist er als vermeintlich wirksames Mittel gegen COVID 19 allgemein bekannt geworden.

 

In einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union, in Frankreich, wurde erstmals 1999 ein Arzneimittel mit Ivermectin unter dem Namen Stromectol® zur Behandlung der Anguillulosis (Infektion durch den Spulwurm), der lymphatischen Filariose und der Krätze als Humanarzneimittel zugelassen, seit 2003 auch in den Niederlanden. Dieses Arzneimittel ist in der Vergangenheit im Wege des Einzelimports nach Deutschland eingeführt worden. In Deutschland war Ivermectin nur als Tierarzneimittel zur Behandlung gegen gastrointestinale Nematoden und Dassellarven bei Pferden zugelassen. Seit Mai 2016 ist in Deutschland das Arzneimittel Scabioral® zur Behandlung von Anguillulosis, der durch Würmer verursachten lymphatischen Filariose und der Krätze zugelassen. Auf die Fachinformation wird ergänzend verwiesen

Die Klägerin ist die deutsche Tochtergesellschaft eines weltweit tätigen pharmazeutischen Unternehmens und vertreibt seit dem Juni 2015 das verschreibungspflichtige Fertigarzneimittel Soolantra® Creme mit ebenfalls diesem Wirkstoff. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) hat es am 29. April 2015 im Rahmen eines dezentralen Zulassungsverfahrens als Humanarzneimittel zur topischen Behandlung von entzündlichen Läsionen der (papulopustulösen) Rosazea zugelassen. Auf die Fachinformationen wird ergänzend verwiesen. Die Klägerin besaß und besitzt für dieses Arzneimittel in Deutschland Unterlagenschutz.

 

Am 27. November 2015 ergänzte der beklagte Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) die Anlage XII der Arzneimittelrichtlinie (AM-RL) - "Beschlüsse über die Nutzenbewertung von Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen nach § 35a SGB V" - um den als "neu" anzusehenden Wirkstoff Ivermectin; ein Zusatznutzen gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie gelte nach dessen Abs. 1 Satz 5 als nicht belegt (Beschluss vom 27. November 2015, BAnz AT 22.12.2015 B2, zuletzt i.d.F. vom 21.1.2016, BAnz AT 19.04.2016 B3). Zum Ablauf des Verfahrens wird auf die "Tragende Gründe" zu diesem Beschluss (S. 6) verwiesen.

 

Die Klägerin hat am 17. Dezember 2015 beim hiesigen Gericht einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung eingereicht mit dem Ziel, bis zur Vorlage einer Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren vorläufig festzustellen, dass der Beschluss vom 27. November 2015 unwirksam sei. Mit Beschluss vom 23. Dezember 2015 hat der Senat den Erlass einer Zwischenverfügung abgelehnt (Az. L 1 KR 550/15 KL ER). Nachfolgend haben die Beteiligten das Eilverfahren für erledigt erklärt.

 

Am 10. Mai 2016 schlossen die Klägerin und der Spitzenverband Bund der Krankenkassen (GKV-SpV) eine Vereinbarung nach § 130b Abs. 1 SGB V über den Erstattungsbetrag für das Fertigarzneimittel Soolantra® mit Wirkung ab 1. Juni 2016. In der Vorbemerkung zu der Vereinbarung heißt es u.a., dass die Frage, ob es sich dabei um ein Arzneimittel mit einem neuen Wirkstoff handelt, von den Parteien unterschiedlich beurteilt wird, und dass die Parteien die Vereinbarung "ungeachtet dessen" treffen.

 

Bereits zuvor hat die Klägerin am 22. Dezember 2015 die hier streitgegenständliche Feststellungsklage erhoben.

 

Der Senat hat die hiesige Hauptsachenklage zunächst mit Urteil vom 19. Oktober 2018 (Az. L 1 KR 558/15 KL) als unzulässig abgewiesen, weil sie nach § 35a Abs. 8 S. 1 SGB V ausgeschlossen sei. Auf die Revision der Klägerin hat das Bundessozialgericht (BSG) mit Urteil vom 10. September 2020 (B 3 KR 11/19 R) diese Entscheidung aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen. Zur Begründung hat es u.a. ausgeführt, nach § 35a Abs. 8 SGB V sei nur eine "gesonderte" Klage gegen den Nutzenbewertungsbeschluss des Beklagten neben der gegen den nach dem Regelungskonzept des § 35a SGB V nachfolgenden Schiedsspruch unzulässig. Hingegen sei ein Feststellungsantrag gegen den Nutzenbewertungsbeschluss des Beklagten nach § 35a Abs. 3 SGB V nicht ausgeschlossen, wenn es – wie hier - keinen Schiedsspruch gebe (BSG, Urteil vom 10. September 2020 – B 3 KR 11/19 R – juris Rn. 38 mit Bezugnahme auf das Urteil vom 28. März 2019 - B 3 KR 2/18 R - BSGE 127, 288 Rn. 36 f).

 

Die Klägerin trägt zur Begründung der Klage vor, Soolantra® sei kein Arzneimittel mit einem "neuen Wirkstoff" im Sinne des § 35a Abs. 1 S. 1 SGB V i.V.m. § 2 Abs. 1 der Verordnung über die Nutzenbewertung von Arzneimitteln nach § 35a Absatz 1 SGB V für Erstattungsvereinbarungen nach § 130b SGB V (AM-NutzenV). Es fehle an der für eine obligatorische Nutzenbewertung erforderlichen Wirkstoffneuheit von Ivermectin. Die Neuheit eines Wirkstoffes entfalle nach der zeitlichen Obergrenze des § 2 Abs. 1 Satz 2 AM-NutzenV zwingend, wenn der Unterlagenschutz des erstmalig zugelassenen Arzneimittels mit diesem Wirkstoff abgelaufen sei. Ein in Deutschland in Verkehr gebrachtes Arzneimittel, das einen bekannten Wirkstoff enthalte, werde nicht von § 35a Abs. 1 SGB V erfasst, auch dann nicht, wenn dieses Arzneimittel z.B. für ein neues Anwendungsgebiet oder eine neue Darreichungsform zugelassen werde. Für die obligatorische Nutzenbewertung nach § 35a Abs. 1 SGB V sei nicht maßgeblich, ob das jeweilige Arzneimittel "neu" sei, sondern der darin enthaltene Wirkstoff. In § 2 Abs. 1 AM-NutzenV sei legaldefiniert, wann ein Wirkstoff als "neu" anzusehen sei. Die Grundregel des Satzes 1 werde durch die zeitliche Obergrenze in Satz 2 vervollständigt. Eine solche Obergrenze sei regelungstechnisch erforderlich, da andernfalls ein neuer Wirkstoff dauerhaft als "neu" anzusehen wäre. Die zeitliche Obergrenze diene ausweislich der zugrundeliegenden Verordnungsbegründung der Rechtssicherheit. Ihr liege die gesetzgeberische Wertung zugrunde, dass ein Wirkstoff typischerweise in der medizinischen Wissenschaft allgemein bekannt sei, wenn er erstmals in einem Arzneimittel vor zehn Jahren zugelassen worden sei. Diese Zeitspanne entspreche dem europäisch harmonisierten Unterlagenschutz bei Erstzulassung eines Wirkstoffes. Dieser Schutz laufe nach Ablauf von zehn Jahren aus, nachdem ein Arzneimittel in einem beliebigen Mitgliedstaat der Europäischen Union zugelassen worden sei (§ 24b Abs. 1 S. 1 Arzneimittelgesetz - AMG).

 

Eine partielle Ausnahme von diesem Grundsatz sei erstmals durch das Gesetz zur Stärkung der Arzneimittelversorgung in der GKV erfolgt. Erst seit dem 31. Mai 2017 bestehe nach § 35a Abs. 6 S. 1 SGB V die Möglichkeit, für Arzneimittel ohne neue Wirkstoffe eine optionale Nutzenbewertung durchzuführen. Hierfür sei Voraussetzung, dass für das jeweilige Arzneimittel eine neue Zulassung mit neuem Unterlagenschutz erteilt worden sei. Die beiden genannten Einleitungstatbestände eines Nutzenbewertungsverfahrens in § 35a Abs. 1, Abs. 6 SGB V seien nicht nur in ihren tatbestandlichen Voraussetzungen, sondern auch in ihren Rechtsfolgen voneinander zu unterscheiden: Handele es sich um eine obligatorische Nutzenbewertung eines Arzneimittels mit neuen Wirkstoffen nach § 35a Abs. I SGB V, so führe die Zulassung eines neuen Anwendungsgebietes für diesen Wirkstoff automatisch zu einer Folgebewertung gemäß § 35a Abs. 1 S. 2 SGB V i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 2 AM-NutzenV. Dabei spiele es keine Rolle, welcher pharmazeutischer Unternehmer das betreffende Arzneimittel mit dem neuen Anwendungsgebiet in den Verkehr gebracht habe. Ein neuer Wirkstoff bleibe unabhängig davon "neu", in welchem Arzneimittel und von welchem pharmazeutischen Unternehmer er verwendet werde. Anders sei dies bei der optionalen Nutzenbewertung nach § 35a Abs. 6 SGB V. Da sich in diesem Fall die "Neuheit" nicht auf einen Wirkstoff, sondern auf ein spezifisches Arzneimittel beziehe, für das eine neue Zulassung mit neuem Unterlagenschutz existiere, könne es nur dann zu einer Folgebewertung kommen, wenn für konkret dieses Arzneimittel ein neues Anwendungsgebiet zugelassen werde. So sei für Scabioral® bis zum heutigen Tage kein Nutzenbewertungsverfahren für das Anwendungsgebiet Scabies (Krätze) von Ivermectin eingeleitet worden.

 

§ 2 Abs. 1 S. 2 AM-NutzenV stelle auch nicht darauf ab, ob das Arzneimittel, dessen Wirkstoffneuheit zu bewerten sei, eine generische Zulassung unter Bezugnahme auf dieses erstmalig zugelassene Arzneimittel mit dem Wirkstoff erhalten habe. Die Einschränkung auf generische Zulassungen werde nicht durch die zugrundeliegende Verordnungsbegründung gestützt. Auch stelle sich die Frage, welchen Anwendungsbereich § 35a Abs. 6 SGB V noch habe, wenn eben diese Arzneimittel, die unter den Anwendungsbereich dieser Vorschrift fielen, ohnehin schon als Arzneimittel mit neuem Wirkstoff im Sinne des § 2 Abs. 1 AM-NutzenV zu qualifizieren seien.

Soweit der Beklagte darüber hinaus fordere, dass das erstmalig zugelassene Arzneimittel mit dem jeweiligen Wirkstoff auch in Deutschland zugelassen gewesen sein müsse, überzeuge dies ebenfalls nicht. In § 2 Abs. 1 S. 2 AM-NutzenV werde allein darauf abgestellt, dass das erstmalig zugelassene Arzneimittel mit dem Wirkstoff noch Unterlagenschutz genieße. § 2 Abs. 1 AM-NutzenV bilde einen einheitlichen Gesamttatbestand, bei dem es nicht möglich sei, die zeitliche Obergrenze des § 2 Abs. 1 S. 2 AM-NutzenV auszublenden, um dann anschließend eine zeitlich praktisch unbegrenzte Wirkstoffneuheit mit § 2 Abs. 1 S. 1 AM-NutzenV herleiten zu wollen. Gerade weil die Frage, ob ein Wirkstoff im Zeitpunkt seiner erstmaligen Zulassung in der medizinischen Wissenschaft allgemein bekannt sei, wertungsoffen und ausfüllungsbedürftig sei, sei mit § 2 Abs. 1 S. 2 AM-NutzenV aus Gründen der Rechtssicherheit eine formale Regelung geschaffen worden. Überdies sehe der Wortlaut des § 2 Abs. 1 S. 1 AM-NutzenV nicht vor, dass die fehlende allgemeine Bekanntheit des Wirkstoffes im Zeitpunkt der Zulassung des ggf. AMNOG-pflichtigen Arzneimittel vorliegen müsse. Vielmehr gehe es hier wie auch schon bei § 2 Abs. 1 S. 2 AM-NutzenV um die erstmalige Zulassung des Wirkstoffes in (irgend-)einem Arzneimittel. Insofern müsse sehr wohl auf die Zulassung des Wirkstoffes Ivermectin in dem Arzneimittel Stromectol® abgestellt werden. Dies sei auch die Sicht des BfArM. Dieses habe dargelegt, dass Ivermectin aufgrund der Zulassung von Stromectol® mittlerweile als grundsätzlich bekannt einzustufen sei, da die Zulassung dieses Präparates vor über 10 Jahren erteilt worden sei. In gleicher Weise könne es keine Rolle spielen, ob für Soolantra® wie hier der Klägerin Unterlagenschutz erteilt worden sei, eben weil sie einen bekannten Wirkstoff weiterentwickelt und für diesen eine eigene Zulassung auf Basis eigener klinischer Studien für ein neues Anwendungsgebiet erwirkt habe.

 

Die Klägerin beantragt,

 

festzustellen, dass die mit Beschluss vom 27. November 2015 des Beklagten vorgenommen Änderung der Anlage XII der Arzneimittel-Richtlinie zur Nutzenbewertung des Wirkstoffes Ivermectin (Soolantra®) unwirksam ist.

 

Der Beklagte beantragt,

 

die Klage abzuweisen.

 

Er führt im Wesentlichen aus, er habe Soolantra® mit dem Wirkstoff Ivermectin zu Recht in die Nutzenbewertung nach § 35a Abs. 1 SGB V einbezogen. Zum Zeitpunkt der erstmaligen Zulassung in Deutschland habe ein Arzneimittel mit einem neuen Wirkstoff vorgelegen, dessen Wirkung gem. § 2 Abs.1 S. 1 AM-NutzenV bzw. 5. Kapitel § 2 Abs.1 S. 1 seiner Verfahrensordnung (in der Fassung vom 18. Dezember 2008, veröffentlicht im Bundesanzeiger Nr. 84a (Beilage) vom 10. Juni 2009, in Kraft getreten am 1. April 2009, hier in der Fassung der Änderung vom am 18. Dezember 2014, veröffentlicht im Bundesanzeiger BAnz AT 15.04.2015 B2, in Kraft getreten am 16. April 2015 = VerfO) in der medizinischen Wissenschaft noch nicht allgemein bekannt gewesen sei. Von der reinen Wortlautauslegung her sei der Regelung bereits zu entnehmen, dass es für die Frage des Vorliegens eines Arzneimittels mit neuen Wirkstoffen darauf ankomme, ob die Wirkung des Wirkstoffes bei der erstmaligen Zulassung des Arzneimittels in der medizinischen Wissenschaft nicht allgemein bekannt sei. Auch nach dem Sinn und Zweck der Norm, der durch die Verordnungsbegründung verdeutlicht werde, komme es für die Eröffnung des Anwendungsbereichs der Nutzenbewertung nach § 35a SGB V darauf an, dass ein Arzneimittel mit dem Wirkstoff erstmals durch die zuständige Bundesoberbehörde zugelassen oder durch die Europäische Kommission genehmigt werde sowie dass die Wirkungen des Wirkstoffs in der medizinischen Wissenschaft nicht allgemein bekannt seien und das Arzneimittel daher der Verschreibungspflicht unterliege (§ 48 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AMG sowie VO EG 726/2004). Aus dem Wortlaut der Verordnung und der Begründung des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) vom 6. Dezember 2010 zum Entwurf der AM-NutzenV ergebe sich, dass zwischen den Regelungen in Satz 1 und 2 des § 2 Abs. 1 AM-NutzenV dahingehend zu unterscheiden sei, dass Satz 1 die Neuheit eines Wirkstoffs im Sinne einer originären Bestimmung anhand des konkret in Rede stehenden Arzneimittels vornehme. Aufgrund des Verweises in der Verordnungsbegründung auf die Verschreibungspflicht in § 48 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AMG sowie die VO EG 726/2004 könne die Entscheidung für die Verschreibungspflicht nach § 48 Abs. 1 Nr. 3 AMG als Hinweis auf die Neuheit des Wirkstoffs interpretiert werden. Hinzukomme, wie der Verordnungsbegründung ebenfalls zu entnehmen sei, dass Arzneimittel mit Wirkstoffen, die selbst noch dem Unterlagenschutz unterfielen, bei der Entscheidung über die Eröffnung des Geltungsbereiches des § 35a SGB V gesondert zu berücksichtigen seien.

 

Soolantra® sei im Rahmen der zulassungsrechtlichen Prüfung nach § 48 Abs.1 Nr. 3 AMG der Verschreibungspflicht unterworfen worden, weil die Wirkung von Ivermectin (zur topischen Behandlung von entzündlichen Läsionen der [papulopustulösen] Rosazea) in der medizinischen Wissenschaft noch nicht allgemein bekannt gewesen sei. Aus der Darstellung des BfArM werde deutlich, dass für das Präparat Soolantra® nicht ein neues Anwendungsgebiet für einen bereits (nach Definition der Klägerin) „bekannten" Wirkstoff zugelassen, sondern einem komplett neuen Fertigarzneimittel die erste Zulassung in der EU für ein Ivermectin-haltiges Arzneimittel zur topischen Anwendung in der Indikation Rosazea erteilt worden und der Wirkstoff in diesem Kontext in der medizinischen Wissenschaft noch nicht allgemein bekannt gewesen sei. Für die erteilte Zulassung von Soolantra® 10 mg/g Creme sei ferner Unterlagenschutz zu berücksichtigen. Dies habe das BfArM dem Beklagten mit Schreiben vom 28. Juli 2021 bestätigt.

 

Die Regelung in Satz 2 des § 2 Abs. 1 AM-NutzenV gehe hingegen aufgrund der Bezugnahme auf § 24b AMG von einer Konstellation eines Referenzarzneimittels und eines zweiten Arzneimittels aus und verweise hinsichtlich der Neuheit des Wirkstoffs auf das Bestehen von Unterlagenschutz für das Referenzarzneimittel. Die Konstellation sei in Abgrenzung von der Konstellation in Satz 1 beispielsweise dann einschlägig, wenn das zweite zugelassene Arzneimittel über keinen eigenen originären Unterlagenschutz verfüge. Für dieses solle die Frage, ob es sich um ein Arzneimittel mit einem neuen Wirkstoff handele, dann anhand des bestehenden Unterlagenschutzes des Referenzarzneimittels nach § 24b AMG beurteilt werden. Da das BMG beim Erlass der AM-NutzenV hinsichtlich der Frage, ob ein Wirkstoff bei der erstmaligen Zulassung der medizinischen Wissenschaft nicht allgemein bekannt sei, hierauf ausdrücklich abstelle, sei der Rückschluss von einer positiven Feststellung der Verschreibungspflicht von Ivermectin auf die Neuheit eines Wirkstoffs im Sinne des § 2 Abs. 1 S. 1 AM-NutzenV zulässig.

 

Die Klägerin könne sich für ihre These, dass im Rahmen des Anwendungsbereichs der frühen Nutzenbewertung von Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen nach § 35a SGB V ausschließlich ein wirkstoffbezogenes Neuheitserfordernis gelte, nicht auf den Unterlagenschutz als Instrument des europäisch harmonisierten Arzneimittelrechts berufen. Die rein wirkstoffbezogene Betrachtungsweise gehe zurück auf eine EuGH-Rechtsprechung (Bezugnahme auf EuGH, Urteil vom 3. Dezember 1998, C-368/96 -Generics, Rn. 43), deren Grundsätze mittlerweile in § 24b AMG niedergelegt seien. Grundvoraussetzung für die Anwendung der Norm sei allerdings, dass es sich um ein Generikum im Sinne des Absatz 2 handele. Nach der vom Gesetzgeber umgesetzten Rechtsprechung des EuGH seien somit für die Gleichheit zwischen einem Generikum und dem Referenzarzneimittel ausschließlich die stofflichen bzw. pharmazeutischen Eigenschaften des Arzneimittels ausschlaggebend, während die konkreten Anwendungsgebiete irrelevant seien. Das wirkstoffbezogene Neuheitserfordernis beruhe allerdings auf dem Prinzip der Globalzulassung. Das Prinzip der Globalzulassung im europäischen Arzneimittelrecht bedeute, dass alle Zulassungen, die ein pharmazeutischer Unternehmer für ein und denselben Wirkstoff erhalte, zu Zwecken des Unterlagenschutzes wie eine Zulassung zu behandeln seien. Das Prinzip der Globalzulassung sei zuerst durch Art. 1 Nr. 5 lit. a) der Änderungsrichtlinie 2004/27/EG in Art. 6 der RL 2001/83/EG eingefügt worden. Gemäß Abs.1 UA 2 der Norm seien in dem Fall, dass für ein Arzneimittel eine aquiskonforme Zulassung erteilt worden sei, auch alle weiteren Stärken, Darreichungsformen, Verabreichungswege und Verabreichungsformen zulassungsfähig. Alle diese Zulassungen würden, insbesondere für den Zweck der Anwendung des Art. 10 Abs. 1 RL 2001/83/EG (generische Zulassung) als Bestandteil derselben umfassenden Genehmigung angesehen. Diese Neuregelung ziele darauf ab, den Marktzugang von Generika zu erleichtern. Den Inhabern der Erstzulassung solle verwehrt werden, durch spätere Änderungen des Referenzarzneimittels neue Schutzfristen auszulösen. Erstzulassung und spätere Änderungen bildeten daher (gedanklich) eine gemeinsame Zulassung, die für Unterlagenschutz und Marktexklusivität maßgeblich seien. Das Prinzip der Globalzulassung komme aber nicht in Konstellationen zur Anwendung, in denen – wie hier - ein auf einer rechtlich selbständigen Zulassung basierendes Arzneimittel vorliege. Hinzu komme, dass Stromectol® auch deshalb als Referenzarzneimittel habe ausscheiden müssen, weil es nicht zum Verkehr in Deutschland zugelassen gewesen sei und damit auch nicht erstmals die Verkehrsfähigkeit eines Arzneimittels mit dem Wirkstoff Ivermectin für den nach § 35a SGB V maßgeblichen Geltungsbereich begründet habe.

 

Auf die von den Beteiligten eingereichten Schriftsätze und Unterlagen wird ergänzend Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

 

I. Die Klage ist zulässig.

 

Für Klagen gegen Richtlinien des Beklagten ist die Zuständigkeit des hiesigen Gerichtes in § 29 Abs. 4 Nr. 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ausdrücklich vorgesehen. Im Streit steht hier eine Änderung der Arzneimittelrichtlinie.

 

Die Klage ist als (Normen-)Feststellungsklage nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG auch statthaft. Die Rechtsschutzgarantie des Art 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) gebietet es, die Feststellungsklage gegen untergesetzliche Rechtsnormen als statthaft zuzulassen, wenn die Normbetroffenen ansonsten keinen effektiven Rechtsschutz erreichen könnten (vgl. BSG, Urteil vom 10. September 2020 – B 3 KR 11/19 R – juris Rn. 16f).

 

Der Nutzenbewertungsbeschluss gilt nach § 35a Abs. 3 Satz 6 SGB V ausdrücklich als Teil der Richtlinie nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V und stellt nach ständiger Rechtsprechung des BSG eine untergesetzliche Rechtsnorm dar (vgl. Hannes in: Hauck/Noftz, SGB, 08/16, § 92 SGB V, Rdnr. 3 mit Nachweisen). Die in Bezug auf die Nutzenbewertung von Ivermectin geänderte AM-RL gilt grundsätzlich für alle Akteure im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung und hat als untergesetzlicher Rechtsetzungsakt ganz erhebliche Auswirkungen für alle von dem Regelwerk betroffenen Krankenkassen, Versicherten und vor allem für Vertragsärzte und sonstige Leistungserbringer. Die normative Anordnung, dass für Ivermectin ein Zusatznutzen als nicht belegt gilt, bedarf keines weiteren Vollzugsaktes und wirkt abstrakt-generell auch unabhängig von dem vereinbarten Erstattungsbetrag fort (BSG, a.a.O. Rn. 35).

 

Die Klägerin ist klagebefugt für die begehrte gerichtliche Feststellung, dass die um die frühe Nutzenbewertung ihres Fertigarzneimittels Soolantra® mit dem Wirkstoff Ivermectin ergänzte Anlage XII der AM-RL unwirksam sei (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 54 Abs. 1 S.  2 SGG; BSG, a.a.O. Rn. 19). Sie erhebt keine Popularklage, sondern macht geltend, ihr Arzneimittel sei zu Unrecht in das frühe Nutzenbewertungsverfahren nach § 35a SGB V einbezogen. Der Wirkstoff Ivermectin sei nicht neu im Sinne der § 35a Abs. 1 SGB V i. V. m. § 2 Abs. 1 S. 2 AM-NutzenV. Sie kann geltend machen, insoweit in ihrer unternehmerischen Berufungsfreiheit aus Art. 19 Abs. 3, Art 12 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG und in ihrem in § 35a Abs. 1 S. 1 und 2, Abs. 3 SGB V i. V. m. §§ 2 Abs. 1 und 2, 3 AM-NutzenV verankerten Recht auf willkürfreie Einordnung bzw. Nutzenbewertung ihres Fertigarzneimittels im Vergleich zu konkurrierenden Arzneimitteln bzw. Therapien verletzt zu sein (vgl. näher BSG, a.a.O. Rn. 20 ff., 32).

 

Die Klägerin hat auch ein berechtigtes Interesse an baldiger Feststellung nach § 55 Abs. 1 Hs. 2 SGG (vgl. BSG, a.a.O. Rn. 35). § 35a Abs. 8 S. 1 SGB V steht der Klage nicht entgegen (BSG, a.a.O., Rn. 36 ff.).

 

II. Die Klage ist jedoch unbegründet. Der Beklagte hat das Fertigarzneimittel Soolantra® zu Recht einer frühen Nutzenbewertung unterzogen.

 

Aufgrund des durch das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG, Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes in der GKV vom 22.12.2010, BGBl I 2262) für erstattungsfähige Arzneimittel "mit neuen Wirkstoffen" zum 1. Januar 2011 eingeführten Nutzungsbewertungsverfahrens hat der Beklagte auf der ersten Stufe nach § 35a Abs. 1 S. 1 SGB V den Nutzen von in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) erstattungsfähigen Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen zu bewerten. Hierzu gehört insbesondere die Bewertung des Zusatznutzens gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie, des Ausmaßes des Zusatznutzens und seiner therapeutischen Bedeutung (Satz 2). Auf der zweiten Stufe erfolgt die wirtschaftliche Preisregulierung des Arzneimittels in der GKV: Für Arzneimittel, die nach dem Nutzenbewertungsbeschluss nach § 35a Abs. 3 SGB V keiner Festbetragsgruppe zugeordnet wurden, vereinbart der GKV-Spitzenverband mit pharmazeutischen Unternehmern - im Benehmen mit dem Verband der privaten Krankenversicherung - auf der Grundlage des Beschlusses des Beklagten mit Wirkung für alle Krankenkassen Erstattungsbeträge für diese Arzneimittel (§ 130b Abs. 1 S. 1 SGB V). Der Erstattungsbetrag für verschreibungspflichtige Fertigarzneimittel, der ab dem 13. Monat nach dem erstmaligen Inverkehrbringen des Arzneimittels gilt (§ 130b Abs. 3a S. 2 SGB V), bildet dann den einheitlichen Abgabepreis für pharmazeutische Unternehmer (§ 78 Abs. 3 S. 1 Halbsatz 1 AMG; vgl. BSG, Urteil vom 12. August 2021 – B 3 KR 3/20 R –, BSGE 133, 1 Rn. 26)

 

Die auf der Grundlage von § 35a Abs. 1 S. 6 und 7 SGB V i.d.F. vom 28. Dezember 2010, BGBl I 2324 (nachfolgend „alte Fassung“ = a. F.; heute Satz 7 und 8) ergangene AM-NutzenV definiert in § 2 Abs. 1 AM-NutzenV Arzneimittel mit "neuen Wirkstoffen" als „Arzneimittel, die Wirkstoffe enthalten, deren Wirkungen bei der erstmaligen Zulassung in der medizinischen Wissenschaft nicht allgemein bekannt sind" (Satz 1). Ein Arzneimittel mit einem neuen Wirkstoff gilt solange als ein Arzneimittel mit einem neuen Wirkstoff, wie für das erstmalig zugelassene Arzneimittel mit dem Wirkstoff Unterlagenschutz besteht (Satz 2). Erfasst sind (nur) solche Arzneimittel, die ab dem 1. Januar 2011 erstmals in den Verkehr gebracht werden, sofern erstmals ein Arzneimittel mit diesem Wirkstoff in den Verkehr gebracht wird (§ 3 Nr. 1 AM-NutzenV) oder die ab diesem Zeitpunkt erstmals in den Verkehr gebracht worden sind und die nach dem 1. Januar 2011 ein neues Anwendungsgebiet nach § 2 Abs. 2 AM-NutzenV erhalten (§ 3 Nr. 2 AM-NutzenV).

 

Durch das Gesetz zur Stärkung der Arzneimittelversorgung in der GKV (GKV-Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetz – AMVSG) vom 4. Mai 2017 (BGBl I 1050) ist mittlerweile in § 35a SGB 5 als neuem Absatz 6 mit Wirkung ab 13. Mai 2017 folgende Regelung eingeführt:

 

„Für ein Arzneimittel mit einem Wirkstoff, der kein neuer Wirkstoff im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 ist, kann der Gemeinsame Bundesausschuss eine Nutzenbewertung nach Absatz 1 veranlassen, wenn für das Arzneimittel eine neue Zulassung mit neuem Unterlagenschutz erteilt wird. Satz 1 gilt auch für Arzneimittel mit einem neuen Wirkstoff im Sinne des Absatzes 1 Satz 1, wenn für das Arzneimittel eine neue Zulassung mit neuem Unterlagenschutz erteilt wird. ³Das Nähere regelt der Gemeinsame Bundesausschuss in seiner Verfahrensordnung.“

 

Der Beklagte hat zu Recht die Notwendigkeit eines frühen Nutzenbewertungsverfahrens nach § 35a SGB V i.V.m. § 2 Abs. 1 AM-NutzenV, 5. Kapitel § 1 Absatz 2 Nr. 1 VerfO angenommen.

1. Obwohl Ivermectin seit Jahrzehnten für Humanarzneimittel verwendet wird, war Soolantra® das erste (Fertig)Arzneimittel mit Ivermectin, das in Deutschland seit 2015 vertrieben und damit in den Verkehr im Sinne der §§ 35a Abs. 1 SGB V, § 3 Nr. 1 AM-NutzenV gebracht worden ist. Die 1999 in Frankreich erteilte Arzneimittelzulassung für Stromectol® entfaltete nicht zugleich auch entsprechende Rechtwirkungen für Deutschland (vgl. BSG, Urteil vom 18. Mai 2004 – B 1 KR 21/02 R – juris Rn. 16 zu Immucothel®). Ebenso wenig führte die im Einzelfall mögliche rechtmäßige Beschaffung dieses Arzneimittels aus dem Ausland (§ 73 Abs. 3 Satz 1 AMG) zu einer zulassungsähnlichen Wirkung (BSG, a.a.O. Rn. 17).

 

2. Die Klägerin hält hier § 2 Abs. 1 S. 2 AM-NutzenV für einschlägig, der nicht nur eine Fiktion für das Ende der Neuheit eines nach § 2 Abs. 1 S. 1 AM-NutzenV definierten neuen Wirkstoffes bestimme, sondern einen Wirkstoff allgemein als neu fingiere, so lange für das erstmalig zugelassene Arzneimittel mit diesem Unterlagenschutz bestehe (ebenso: Fuhrmann/Klein/Fleischfresser, Arzneimittelrecht, § 45 Rn. 29 mit Bezugnahme auf Schickert, Schmitz, PharmR 2011, 217, 219).

 

Ob der Unterlagenschutz noch besteht, richtet sich nach den „8+2+1“-Regelungen des Art. 14 Abs. 11 VO (EG) 726/2004 für zentral zugelassene Arzneimittel und des (Art. 10 RL (EG) 2001/83 umsetzenden) § 24 b Abs. 1 AMG für nationale Zulassungen. Diese Regelungen besagen jeweils, dass Anträge auf Zulassung von Generika erst acht Jahre nach erster Zulassung der Original-Arzneimittel gestellt werden dürfen. Nach weiteren zwei Jahren dürfen sie vertrieben werden. Wird innerhalb der ersten acht Jahre die Zulassung für eine neue Indikation von bedeutendem klinischen Nutzen erreicht, wird die Frist um ein weiteres Jahr verlängert (Fuhrmann/Klein/Fleischfresser, a.a.O. § 45 Rn. 29).

Der reine Wortlaut des § 35a Abs. 1 SGB V scheint für die Auffassung der Klägerin zu sprechen. Auch lässt sich dem Wortlaut nach § 2 Abs. 1 S. 2 AM-NutzenV nicht entnehmen, dass es sich – wie der Beklagte meint -, nur um eine Fiktion zur Beendigung der Neuheit eines bereits als neu identifizierten Wirkstoffes handelt.

 

Auch der historische Gesetzgeber ist schließlich ausweislich des Gesetzesentwurf zum AMNOG von einem Gleichlauf mit der AMG-Regelung ausgegangen (vgl. BT-Drucksache 17/2413 S. 20):

„Neue Wirkstoffe im Sinne dieser Vorschrift sind Wirkstoffe, deren Wirkung bei der erstmaligen Zulassung durch die zuständige Bundesoberbehörde oder durch die Europäische Kommission der medizinischen Wissenschaft nicht allgemein bekannt sind und die daher der Verschreibungspflicht unterliegen (§ 48 Absatz 1 Satz 1 Nummer 3 AMG sowie die Verordnung (EG) Nr. 726/2004). Die Neuregelung gilt damit beispielsweise nicht für Generika oder sonstige Arzneimittel mit Wirkstoffen, deren Wirkung der medizinischen Wissenschaft allgemein bekannt ist.“

 

Folgt man der klägerischen Prämisse, dass hier § 2 Abs. 1 S. 1 AM-NutzenV ausscheide und hier nur Satz 2 des § 2 Abs. 1 AM-NutzenV zur Anwendung komme, lässt dies aus Sicht des Senats dennoch nicht den Schluss zu, dass für Soolantra® kein obligatorisches Nutzenbewertungsverfahren durchgeführt werden durfte.

 

Denn es gab im Frühjahr 2015 kein Arzneimittel mit Ivermectin, für das der Unterlagenschutz im Sinne der Vorschrift bereits abgelaufen gewesen ist. Unterlagenschutz im Regelungszusammenhang des § 2 Abs. 1 Satz 2 AM-NutzenV könnten nämlich nur in Deutschland zugelassene Arzneimittel vermitteln. Stromectol® war und ist nicht EU-weit zugelassen, sondern vor 2015 nur in Frankreich und in den Niederlanden:

 

§ 35a Abs. 1 S. 1 SGB V erfasst von vornherein nur „erstattungsfähige“ Arzneimittel, also nach § 31 Abs. 1 S. 1 SGB V solche apothekenpflichtigen Arzneimittel, soweit diese Arzneimittel nicht nach § 34 SGB V oder durch Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 SGB V ausgeschlossen sind. Nicht in Deutschland zugelassene Arzneimittel sind –abgesehen von den sehr seltenen Fällen des Einzelimports nach § 73 Abs. AMG, wenn das Mittel zur Behandlung einer einzigartigen Krankheit in einer außergewöhnlichen medizinischen Situation legal aus dem Ausland beschafft werden kann - vom Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit nicht umfasst (BSG, Urteil vom 3. Juli 2012 – B 1 KR 25/11 R –, BSGE 111, 168-177, Rn. 12 und Rn. 19 zur den Anforderungen an Einzelimporte). Mit dem auf nachfolgende Kostensenkungen durch Festbetragsregelungen oder Vereinbarung von Erstattungsbeträgen nach §§ 35a, 130b SGB V für neue bzw. patentgeschützte Arzneimittel abzielenden AMNOG und dessen System der frühen Nutzenbewertung hat der Gesetzgeber ein Instrumentarium zur Sicherung der Wirtschaftlichkeit der Vergütung für diese Arzneimittel in der GKV geschaffen (so auch Pitz in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl., § 35a SGB V (Stand: 09.08.2021), Rn. 11). Vor diesem Hintergrund wäre es fernliegend und systemwidrig, wenn das den Unterlagenschutz vermittelnde erste Arzneimittel auch ein nicht in Deutschland zugelassenes sein könnte. Dem steht nicht entgegen, dass rein arzneimittelrechtlich nach § 24b Abs. 1 S. 1 2. HS AMG für den Unterlagenschutz auch eine Zulassung in einem anderen Unionsland ausreicht.

 

Das SGB V verzichtet zwar bei Arzneimitteln weitgehend auf eigene Vorschriften und knüpft an das Arzneimittelrecht an. Eine rechtsgebietsübergreifende Bindung in dem Sinne, dass all dasjenige, was arzneimittelrechtlich zulässig ist, zwingend auch zur krankenversicherungsrechtlichen Leistungspflicht der Krankenkassen führen müsste, ist allerdings gesetzlich nicht angeordnet worden (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 27. Januar 2020 – L 9 KR 514/15 KL – juris Rn. 125 mit Bezugnahme auf BSG, Urteil vom 3. Juli 2012 - B 1 KR 22/11 R -).

 

Der Klage muss also bereits unter der Prämisse Erfolg versagt bleiben, hier wäre ausschließlich und abschließend § 2 Abs. 1 S. 2 AM-NutzenV einschlägig gewesen.

 

3. Der Anwendungsbereich der obligatorischen frühen Nutzenbewertung war nicht ausgeschlossen, obwohl der Unterlagenschutz für das Arzneimittel Stromectol® zur Behandlung von durch Parasiten verursachten Krankheiten 2015 bereits abgelaufen war, weil der Wirkstoff bis zur Zulassung von Soolantra® nur (oral eingenommen) zur Bekämpfung von Parasiten, in Europa insbesondere der Krätzmilbe, verwendet wurde.

 

Denn Soolantra® enthält entgegen der Auffassung der Klägerin einen neuen Wirkstoff im Sinne des § 35a Abs. 1 SGB V, da es zum Zeitpunkt der erstmaligen Zulassung des Arzneimittels in Deutschland im Jahr 2015 bei Ivermectin um einen Wirkstoff gehandelt hat, dessen Wirkungen noch nicht im Sinne des § 2 Abs. 1 S. 1 AM-NutzenV in der medizinischen Wissenschaft allgemein bekannt war:

 

3.1 Wirkstoffe sind Stoffe, die dazu bestimmt sind, bei der Herstellung von Arzneimitteln als arzneilich wirksame Bestandteile verwendet zu werden oder bei ihrer Verwendung in der Arzneimittelherstellung zu arzneilich wirksamen Bestandteilen der Arzneimittel zu werden (§ 4 Abs. 19 AMG). Ivermectin ist damit ein Wirkstoff.

 

3.2 Der Wirkstoff war auch neu. § 2 Abs. 1 S. 1 AM-NutzenV knüpft die Neuheit nicht an die bislang nicht allgemein bekannte „Wirkung“ des Wirkstoffes, sondern verwendet den Plural „Wirkungen“. Zeigt sich für einen Wirkstoff also eine weitere Wirkung, die bislang nicht allgemein bekannt ist, ist § 2 Abs. 1 S. 1 AM-NutzenV bereits nach dem Wortlaut einschlägig. Obwohl der Stoff als solcher bereits bekannt ist, handelt es sich in einem solchen Fall um einen neuen Wirkstoff im Sinne des § 35a Abs. 1 S. 1 SGB V.

 

Es zeigt sich insoweit ein Gleichlauf mit dem Arzneimittelrecht. Auch § 48 AMG bereits in der Fassung vom 31. August 2015 (=künftig: „AMG a. F.“) knüpft die generelle Verschreibungspflicht von neuartigen Arzneimitteln nicht an die erstmalig neu bekannt gewordene „Wirkung“ an, sondern verwendet ebenfalls den Plural „Wirkungen“:

„Arzneimittel, die (…)

 

Arzneimittel im Sinne des § 2 Absatz 1 oder Absatz 2 Nummer 1 sind, die Stoffe mit in der medizinischen Wissenschaft nicht allgemein bekannten Wirkungen oder Zubereitungen solcher Stoffe enthalten“,

 

dürfen nur bei Vorlagen einer (….) Verschreibung an Verbraucher abgegeben werden.“

(§ 48 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AMG a. F., nunmehr § 48 Abs. 1 Nr. 2 lit. c AMG).

 

In Satz 2 des § 2 Abs. 1 AM-NutzenV verwendet die Verordnung wieder den Singular „Wirkung“.

Bereits der Wortlaut spricht somit für die Auffassung des Beklagten, dass sich die Fiktion des Endes der Neuheit nach zehn Jahren (nur) auf ein Arzneimittel in der betreffenden Wirkung bezieht, die obligatorische Nutzenbewertung aber nicht für Fälle – wie hier - ausschließt, in denen die neue Wirkung erst nach Auslaufen des Unterlagenschutzes für Arzneimittel auf Grundlage der hergebrachten Wirkung entdeckt bzw. entwickelt wird.

 

Mit der strengen Beachtung des Plurals wird auch nicht - entgegen der Auffassung der Klägerin - der wirkstoffbezogene Neuheitsbegriff in einen indikationsbezogenen umgedeutet. Der Begriff der Wirkung beschreibt umfassend den kausalen Effekt, im konkreten Zusammenhang bezogen auf einen einzelnen Wirkstoff oder die Kombination mehrerer Wirkstoffe. Ein Wirkstoff setzt etwa im Körper bestimmte biochemische Prozesse in Gang, die zu bestimmten empirisch verifizierbaren Resultaten führen. Ein und derselbe Wirkmechanismus kann für verschiedene Krankheitsbilder fruchtbar gemacht werden. Es können jedoch auch andere Wirkungsweisen eines Wirkstoffs „entdeckt“ werden, woraus sich andere Anwendungsgebiete (Indikationen; vgl. zur Begrifflichkeit Indikation/Anwendungsgebiet: BSG, Urteil vom 15. Dezember 2015 – B 1 KR 30/15 R – juris Rn. 15) ergeben können.

 

3.3 In systematischer Hinsicht spricht gegen eine strenge Wortlautauslegung einer reinen wirkstoffbezogenen Anwendung bereits die seit 2011 existierende Regelung des § 35a Abs. 1 S. 3 SGB V zur Einbeziehung eines Arzneimittels mit einem Wirkstoff, für den andere Anwendungsgebiete bereits bekannt sind. Dort wird als Zeitpunkt zur Einreichung der Nachweise vier Wochen „nach Zulassung neuer Anwendungsgebiete“ bestimmt. Eine Zulassung neuer Anwendungsgebiete des Arzneimittels liegt vor, wenn für ein Anwendungsgebiet nach § 29 Abs. 3 Nr. 3 AMG eine neue Zulassung erteilt wird oder dieses als größere Änderung des Typs 2 nach Anhang 2 Nr. 2 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 1234/2008 der Kommission vom 24. 11. 2008 über die Prüfung von Änderungen der Zulassungen von Human- und Tierarzneimitteln eingestuft wird (so die Begriffsbestimmung in § 2 Abs. 2 AM-NutzenV).

 

Auch bei der Regelung des Erstattungsbetrags bringt das Gesetz zum Ausdruck, den Begriff „neuer Wirkstoff“ nicht streng am Wortlaut zu verstehen. § 130b Abs. 3a SGB V (eingef. durch Art. 1 Nr. 3 Buchst. b des Gesetzes vom 27. März 2014, BGBl. I S. 261 mit Wirkung ab 1. April 2014 und damit hier bereits einschlägig) differenziert für den Beginn der Geltung des Erstattungsbetrages nämlich entsprechend zwischen den Fällen des erstmaligen Inverkehrbringens eines Arzneimittels mit dem Wirkstoff (S. 2) und der Nutzenbewertung nach Zulassung eines neuen Anwendungsgebiets (S. 3).

 

Für ihre gegenteilige Auffassung kann die Klägerin auch nicht mit Erfolg die Neueinführung des § 35a Abs. 6 SGB V erst im Jahr 2017 anführen. Der mit dem AMVSG v. 4.5.2017 wieder eingefügte Abs. 6 regelt die Bewertung von Arzneimitteln im sogenannten Bestandsmarkt, die mit dem 14. SGB V-ÄndG aufgehoben worden war (BeckOK SozR/von Dewitz SGB V § 35a Rn. 47). In dem Entwurf des Bundesregierung bzgl. Gesetzes zur Stärkung der Arzneimittelversorgung in der GKV (GKV-Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetz – AMVSG) vom 7. November 2016 hieß es (BT-Drucksache 18/10208, S. 20):

„Mit dem 14. SGB V-Änderungsgesetz vom 27. März 2014 (BGBl. I S. 261) wurde die Möglichkeit zur Bewertung von Arzneimitteln, die bereits vor dem 1. Januar 2011 in Verkehr gebracht wurden, aufgehoben. Gleichwohl kann es in einigen Fällen sinnvoll und erforderlich sein, den Zusatznutzen solcher Arzneimittel zu bewerten. Der Gemeinsame Bundesausschuss erhält die Möglichkeit, in eng begrenzten Ausnahmefällen die Bewertung von Arzneimitteln zu veranlassen, die schon vor dem 1. Januar 2011 in Verkehr gebracht wurden.“

 

Ausweislich der weiteren Gesetzesmaterialien wollte der Gesetzgeber schließlich nicht erstmalig bei einem bereits bekannten Wirkstoff überhaupt eine Nutzenbewertung ermöglichen, sondern eine solche bei jedem neuen Anwendungsgebiet unabhängig davon, ob von einem neuen Wirkstoff auszugehen ist oder nicht (vgl. BT-Drucksache 18/11449 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit [14. Ausschuss] zu dem [….] Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Arzneimittelversorgung in der GKV […] S. 35):

„Der Gemeinsame Bundesausschuss kann eine Nutzenbewertung veranlassen, wenn eine neue Zulassung mit einem neuen Unterlagenschutz erteilt wird. Dies soll unabhängig davon gelten, ob der in dem Arzneimittel enthaltene Wirkstoff ein neuer Wirkstoff im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 ist oder nicht.“

 

So erstreckt sich der Anwendungsbereich der frühen Nutzenbewertung auf Arzneimittel, die nach dem 01. Januar 2011 in Verkehr gebracht wurden und seither zusätzlich für ein neues Anwendungsgebiet zugelassen worden sind, § 3 Abs. 1 Nr. 2 AM-NutzenV, § 35a Abs. 1 Satz 3 Alt. 2 SGB V (Pitz in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl., § 35a SGB V [Stand: 09.08.2021], Rdnr. 19).

 

Der Einwand der Klägerin, die fakultative Nutzenbewertung nach § 35a Abs. 6 SGB V habe keinen Anwendungsbereich, wenn bei einer neuen Wirkung und dem damit verbundenen neuen Anwendungsbereich bereits die obligatorische Bewertung nach § 35a Abs. 1 SGB V durchzuführen ist, ist nicht stichhaltig. Nicht jedes neue Anwendungsgebiet muss auf einer bislang nicht bekannten Wirkung beruhen. So würde die Zulassung eines Arzneimittels mit Ivermectin zur Bekämpfung einer durch einen anderen Parasiten verursachten Krankheit auf der altbekannten Wirkweise beruhen.

 

3.4 Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Wirkungen eines Stoffes ist auch sachgerecht. Anknüpfungspunkt für die Neuheit eines Arzneimittels ist nicht die Bekanntheit der diesem enthaltenen Wirkstoffe, sondern der neue therapeutische Effekt, die Kausalität zwischen der Verabreichung und dem gewünschten positiven Einfluss. Es erschließt sich dem Senat auch nicht, dass das Gesetz die auch nach Klägervorbringen nicht außergewöhnliche Situation, dass ein Pharmaunternehmen neue Wirkungen eines bekannten Wirkstoffes erforscht und daraus ein Arzneimittel entwickelt, zur Gänze von der obligatorischen Nutzenbewertung ausnehmen wolle.

 

Auch der Sinn und Zweck des § 35a SGB V sprechen vielmehr für die Auffassung des Beklagten. Denn für die Bewertung eines Zusatznutzens sollen Kriterien maßgeblich sein, die weit über die isolierte Betrachtung des Wirkstoffs hinausgehen. Relevant sind unter anderem zugelassene Anwendungsgebiete, medizinischer Nutzen, Anzahl der Patienten (§ 35a Abs. 1 S. 2 und 3 Nr. 1 bis 6 SGB V), worauf das BSG bereits hingewiesen hat (BSG, Urteil vom 10. September 2020 – a. a. O. Rdnr. 26). Auch der bereits dargestellte generelle Zweck des AMNOG, die freie Preisfestsetzung durch den pharmazeutischen Unternehmer auf das erste Jahr des Inverkehrbringens eines neuen Arzneimittels zu begrenzen und für die Zeit ab dem 13. Monat diesen freien Preis durch den nach den Vorgaben des § 130b SGB V vereinbart vereinbarten bzw. festgesetzt gesetzten Preis zu ersetzen, spricht gegen die Herausnahme von Arzneimitteln alleine weil der Wirkstoff als solcher bereits bekannt ist. Nach den Gesetzesmaterialien zum AMNOG sollen die Nutzenbewertung und die Vereinbarung der Erstattungsbeträge die Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit des Arzneimittels nach § 12 Abs. 1 SGB V konkretisieren (vgl. BT-Drucks 17/2413, S 20).

 

Mit dem Unterlagenschutz nach § 2 S. 2 AM-NutzenV als Kriterium nimmt die Verordnung damit (nur) Bezug auf die Zulassungsfähigkeit eines Generikums nach § 24b AMG bzw. auf die VO (EG) Nr. 726/2004 (vgl. Luthe in: Hauck/Noftz SGB V, § 35a Rdnr. 68, Hess in Kass. Komm., § 35a Rz 15). § 2 Abs. 1 S. 2 AM-NutzenV beschränkt nach seinem Sinn die Pflicht des Beklagten zur Durchführung der frühen Nutzenbewertung auf neue Wirkstoffe nach § 35a Abs. 1 SGB V, § 2 Abs. 1 S. 1 AM-NutzenV auf den Zeitraum, in dem ein Zulassungsantrag für ein Generikum noch nicht unter bloßer Bezugnahme auf das Referenzarzneimittel möglich ist.

 

3.5 Auch die Praxis scheint, soweit sie in der Literatur dargestellt wird, von einer obligatorischen Nutzenbewertung mit (zwingender) Dossierpflicht des pharmazeutischen Unternehmers auszugehen, der ein unterschiedliches Arzneimittel bei gleichem Wirkstoff auf den Markt bringt (vgl. Lietz, KrV 2015, 177, 178 für die Arzneimittel mit dem Wirkstoff Aflibercept Eylea® zur Behandlung der neovaskulären altersabhängigen Makuladegeneration zugelassen seit Dezember 2012 einerseits und Zaltrap® zur Behandlung des metastasierten kolorektalen Karzinoms seit März 2013 andererseits). Eine vom Gesetz bislang nicht geregelte Frage sollte vor der Novellierung durch das AM-VSG nur die Frage gewesen sein, ob der Abgabepreis der ersten 12 Monate des ersten Arzneimittels auch für das weitere verbindlich sein soll (vgl. Lietz, a. a. O.).

 

4. Die positive Wirkung einer Creme mit Ivermectin zur Behandlung der Rosazea und die Wirkung von Ivermectin zur Bekämpfung von Parasiten sind nicht dieselbe. Der positive Effekt bei Rosazea beruht auf einer noch nicht bekannten Wirkung:

 

Herkömmlich geht es um die toxische Wirkung des Stoffes auf wirbellose Tiere (Würmer oder Milben) bei oraler Einnahme. Hierfür ist der Nobelpreis für Medizin 2015 zur Hälfte an die Forscher Campbell und Omura vergeben worden. Neu ist hingegen die positive Wirkung auf die Hautentzündungen bei Rosazea. In den Fachinformationen für Soolantra® heißt es zum Wirkmechanismus:

„Ivermectin ist ein Mitglied der Avermectin-Klasse. Avermectin entfaltet antientzündliche Wirkungen durch Hemmung der Lipopolysaccharid-induzierten Produktion entzündlicher Zytokine. In Tiermodellen der Hautentzündung wurden antientzündliche Eigenschaften von kutanem Ivermectin beobachtet. Ivermectin tötet auch Parasiten, hauptsächlich durch selektive und hochaffine Bindung an Glutamat-aktivierte Chloridkanäle, die sich in Nerven und Muskelzellen Wirbelloser befinden. Der Wirkmechanismus von Soolantra bei der Behandlung entzündlicher Läsionen der Rosazea ist nicht bekannt, kann aber sowohl mit den antientzündlichen Wirkungen von Ivermectin als auch mit der Abtötung von 5 Demodex-Milben in Zusammenhang stehen, von denen berichtet wird, dass sie bei der Entzündung der Haut eine Rolle spielen.“

 

Auch nach dem Vortrag der Klägerin ist der Grund für die positive Wirkung unklar. Es ist weder von ihr vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass bereits in medizinischen Kreisen bekannt sein könnte, dass es sich bei Rosazea um eine Krankheit handelt, welche durch einen Parasiten (mit-)verursacht wird (vgl. auch III.3. der S2k-Leitlinie „Rosazea“ [AWMF-Reg.nr. 013-065] 2022). Möglicherweise ist die Wirkung einer Art Off-label-Use geschuldet, weil eine durch Demodex-Milben (Haarbalg-Milben) (mit)verursachte Erkrankung gelindert wird. Auch ist weder vorgetragen oder ersichtlich, dass in den medizinischen Kreisen Ivermectin allgemein eine antientzündliche Wirkung zugeschrieben wird.

 

In den Fachinformationen heißt es sogar ausdrücklich (unter Verkaufsabgrenzung):

 

„Verschreibungspflichtig

 

Dieses Arzneimittel enthält den Wirkstoff Ivermectin, dessen Wirkung [bei erwachsenen Patienten zur topischen Behandlung von entzündlichen Läsionen der (papulopustulösen) Rosazea] in der medizinischen Wissenschaft noch nicht allgemein bekannt ist.“

 

Auch die Fachinformationen für Scabioral® zeigen bis heute für die Bekämpfung der Krätze keinen Hinweis auf einen Zusammenhang zwischen einer antientzündlichen Wirkung von Ivermectin als solcher neben der antiparasitären auf. Dort heißt es unter 5.1.:

„Pharmakodynamische Eigenschaften

Pharmakotherapeutische Gruppe: Anthelmintika, ATC-Code: P02CF01Ivermectin wird von Avermectinen abgeleitet, die aus dem Fermentationsmedium von Streptomyces avermitilis isoliert werden. Es bindet mit hoher Affinität an Glutamatgesteuerte Chloridkanäle, die in den Nerven- und Muskelzellen von Invertebraten vorkommen. Dies führt zu einer Erhöhung der Membranpermeabilität für Chloridionen und in der Folge zur Hyperpolarisation der Nerven- oder Muskelzelle. Dadurch kommt es zur neuromuskulären Paralyse und zum Absterben bestimmter Parasiten. Ivermectin kann auch mit anderen Ligandgesteuerten Chloridkanälen (z.B. über den Neurotransmitter Gamma-Aminobuttersäure [GABA]) interagieren.

Säugetiere besitzen keine Glutamat-gesteuerten Chloridkanäle. Avermectine zeigen nur eine geringe Affinität für andere Ligandgesteuerte Chloridkanäle und passieren die Blut-Hirnschranke nur in geringem Maße. (…)“

 

5. Weitere rechtliche Defizite des streitgegenständlichen Beschlusses – sei es in formeller, sei es in materiell-rechtlicher Hinsicht - sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Die sozialgerichtliche Kontrolle der Prüfung der Rechtmäßigkeit eines Nutzenbewertungsbeschlusses hat sich darauf zu beschränken, ob die Zuständigkeits- und Verfahrensbestimmungen (§ 35a SGB V i.V.m. den Vorschriften der AM-NutzenV sowie der VerfO des Beklagten) eingehalten und die die gesetzlichen Vorgaben nachvollziehbar und widerspruchsfrei im Rahmen der Ausfüllung des normgeberischen Gestaltungsspielraums Beachtung gefunden haben (vgl. BSG, Urteile vom 6. März 2012 – B 1 KR 24/10 R – juris Rn. 25 [Linola u.a.] und vom 1. März 2011 – B 1 KR 10/10 R – juris Rn. 38 [Atorvastatin]). Dies ist hier der Fall.

III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a SGG in Verbindung mit § 154 Abs. 1 VwGO.

 

IV. Die Revision ist wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen, § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG.

Rechtskraft
Aus
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