Die Entziehung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach Versagen von Leistungen eines anderen Trägers bedarf einer Ermessensentscheidung, bei der das Recht über Leistungsminderungen zu berücksichtigen ist.
- Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Dresden vom 11. November 2022 wird unter folgender Abänderung der Beschlussformel zurückgewiesen:
1. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 05. November 2022 gegen den Bescheid vom 21. September 2022 wird angeordnet.
2. Die Vollziehung des Bescheids vom 21. September 2022 wird aufgehoben und der Antragsgegner einstweilig verpflichtet, dem Antragsteller für Oktober 2022 bis Januar 2023 monatlich 681,- € zu zahlen.
- Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
G r ü n d e :
I.
Im Streit ist die Entziehung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ab Oktober 2022.
Der 2001 geborene Antragsteller ist syrischer Staatsangehöriger, dessen Aufenthaltstitel als fortbestehend gilt (Landeshauptstadt A...., bis 31.03.2023 gültige Fiktionsbescheinigung v. 05.05.2022).
2017 zog der Antragsteller in die Wohnung seines 1993 geborenen Bruders (Y....) in A..... Seit März 2022 ist er Mieter einer Wohnung in A.... (Mietvertrag v. 07.03.2022).
Der Antragsteller besuchte zuletzt Abendoberschulen, zunächst in X.... (Schulbescheinigung v. 30.09.2020) und dann in A.... (Schulbescheinigung v. 06.09.2022).
Der Antragsgegner erbringt dem Antragsteller seit April 2017 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Leistungen). Für Oktober 2022 bis Januar 2023 bewilligter er ihm 681,- € monatlich (Bescheid v. 16.08.2022).
Nach Aufforderung des Antragsgegners (Bescheid v. 23.02.2021, s. weiterhin Bescheid v. 21.07.2021) stellte der Antragsteller bei der Landeshauptstadt A...., Amt für Ausbildungsförderung (AfA), im März 2021 einen BAföG-Antrag und reichte im Juni 2021 Unterlagen hierzu ein (AfA, Schreiben v. 14.09.2021). Am 10.09.2021 stellte der Antragsgegner für den Antragsteller einen BAföG-Antrag (AfA, Schreiben v. 14.09.2021). Mit Schreiben vom 11.08.2022 teilte das AfA dem Antragsgegner mit, einem im September 2021 geltend gemachten Erstattungsanspruch werde nicht entsprochen, da ein Versagungsbescheid aufgrund fehlender Mitwirkung erteilt worden sei. Mit Schreiben vom 05.10.2022 teilte der Antragsteller dem AfA mit, er habe die benötigten Unterlagen bereits wiederholt versendet. Das AfA sandte dem Antragsteller "alle Unterlagen" zurück, da für das aktuelle Schuljahr kein Antrag von ihm vorliege (Schreiben v. 23.11.2022). Am 16.12.2022 (Schreiben seines Bevollmächtigten v. 14.12.2022) erhob der Antragsteller Widerspruch gegen die Bescheide des AfA vom 11.08.2022 und 23.11.2022 (AfA, Eingangsbestätigung v. 20.12.2022). Darüber ist noch nicht entschieden.
Nach einem "Hinweis auf Rechtsfolgen" (Schreiben v. 22.08.2022) entzog der Antragsgegner dem Antragsteller ab Oktober 2022 die Leistungen ganz (Bescheid v. 21.09.2022), da er seinen Mitwirkungspflichten beim AfA nicht nachgekommen sei und ihm vom AfA mit bestandskräftigem Bescheid vom 11.08.2022 Leistungen versagt worden seien. Dagegen erhob der Antragsteller Widerspruch (Schreiben v. 05.10.2022). Darüber ist noch nicht entschieden.
Am 10.10.2022 (weiteres Schreiben v. 05.10.2022) hat der Antragsteller beim Sozialgericht Dresden (SG) einstweiligen Rechtsschutz beantragt. Das SG hat den Antragsgegner verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig Leistungen für Oktober 2022 bis Januar 2023 zu bewilligen (Beschluss v. 11.11.2022). Ein Anordnungsanspruch sei glaubhaft gemacht worden. Eine besondere Eilbedürftigkeit liege vor.
Gegen den - ihm am 14.11.2022 zugestellten - Beschluss hat der Antragsgegner am 15.11.2022 (Schreiben v. selben Tag) beim erkennenden Gericht Beschwerde eingelegt und die Aussetzung der Vollstreckung beantragt. Das SG habe weder den Sachverhalt korrekt erfasst noch sich mit dem geltenden Recht und Gesetz auseinandergesetzt. Bis zur Beschwerdeentscheidung habe die Vollstreckung aus dem rechtswidrigen Beschluss zu unterbleiben. Auf gerichtliche Nachfrage (Schreiben v. 28.12.2022) hat der Antragsgegner mitgeteilt, die Beschwerde aufrechtzuerhalten (Schreiben v. 02.01.2023), da das AfA bislang an der Entscheidung vom 11.08.2022 festgehalten und über die Widersprüche des Antragstellers noch nicht entschieden habe. Zunächst sei über den Aussetzungsantrag zu entscheiden und im Beschwerdeverfahren die Sache weiter aufzuklären (Schreiben v. 05.01.2023).
Der Antragsgegner beantragt,
1. den Beschluss des Sozialgerichts Dresden vom 11.11.2022 aufzuheben und den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz abzulehnen sowie
2. die Vollstreckung des Beschlusses vom 11.11.2022 auszusetzen.
Der Antragsteller beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Der Bevollmächtigte des Antragstellers hat sich am 29.11.2022 angezeigt (Schreiben v. selben Tag) und nach Akteneinsicht auf die Beschwerde erwidert (auf den 29.11.2022 datiertes Schreiben, dem Gericht am 23.12.2022 übermittelt).
Der Antragsgegner hat am 17.11.2022 und 02.12.2022 elektronische Akten vorgelegt.
Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter als Einzelrichter erklärt (Schreiben v. 18.11.2022 und 29.11.2022, eingegangen am 23.12.2022).
II.
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des SG vom 11.11.2022 ist unbegründet, ohne dass es in diesem Rechtsstreit der weiteren Erforschung des Sachverhalts von Amts wegen bedarf. Darüber konnte der Berichterstatter als Einzelrichter entscheiden (§ 153 Abs. 3 f. SGG). Mit der unverzüglichen Entscheidung über die Beschwerde nach Vorlage und Durchsicht der Leistungsakten sowie Beschwerdeerwiderung nach der zu gewährenden Akteneinsicht bedarf es - auch nach Vorberatung mit dem insoweit zuständigen Senatsvorsitzenden - keiner Entscheidung mehr über den Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung (§ 199 Abs. 2 Satz 1 SGG).
Gegenstand des Verfahrens ist neben der vorinstanzlichen Entscheidung allein der Bescheid des Antragsgegners vom 21.09.2022, mit dem er dem Antragsteller die Leistungen ab Oktober 2022 ganz entzogen hat. Streitgegenstand sind einstweilige Maßnahmen (§ 86b SGG) gegen die Entziehung der dem Antragsteller für Oktober 2022 bis Januar 2023 bewilligten 681,- € monatlich. Eventuelle Verwaltungsakte des AfA sind nicht Gegenstand dieses Verfahrens.
Die Beschwerde ist statthaft (§ 172 Abs. 1 SGG). Sie ist insbesondere nicht nach § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG ausgeschlossen, da in der Hauptsache der Wert des Beschwerdegegenstands 750,- € übersteigt und deswegen die Berufung keiner Zulassung bedürfte (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG).
Die auch im Übrigen zulässige, insbesondere form- und fristgerechte eingelegte (§ 173 Satz 2 SGG), Beschwerde ist unbegründet.
Statthaft ist ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs vom 05.10.2022 gegen den Bescheid vom 21.09.2022 (§ 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG), da der Widerspruch keine aufschiebende Wirkung hat (§ 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG i.V.m. § 39 Nr. 1 SGB II i.d.F. des Gesetzes v. 26.07.2016, BGBl. I S. 1824), in Kombination mit einem Antrag auf Aufhebung der Vollziehung des Bescheids (§ 86b Abs. 1 Satz 2 SGG), da nach dem sinngemäßen Vorbringen der Beteiligten dem Antragsteller von Oktober 2022 bis Januar 2023 keine Leistungen erbracht worden sind (vgl. ausf. zur Statthaftigkeit dieses Antrags, zur Auslegung entsprechender Antragsbegehren und zum - hier mangels vorgetragener oder erkennbarer entgegenstehender Tatsachen vorliegenden - Rechtsschutzbedürfnis hierfür z.B. Senatsbeschluss v. 11.09.2019 - L 7 AS 857/19 B ER - juris Rn. 26 ff.; zum einstweiligen Rechtsschutz bei einer Versagung von Leistungen vgl. indes z.B. Senatsbeschluss v. 29.10.2020 - L 7 AS 1170/19 B ER - juris Rn. 37).
Die Anträge nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 SGG sind begründet. Nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise und nach § 86b Abs. 1 Satz 2 SGG kann die Aufhebung der Vollziehung angeordnet werden. Nach übereinstimmender Auffassung ist die aufschiebende Wirkung anzuordnen, wenn das Interesse des Antragstellers an der Aussetzung der Vollziehung des gegenständlichen Verwaltungsakts (Aussetzungsinteresse) dem gegenläufigen Interesse des Antragsgegners (Vollzugsinteresse) überwiegt, wobei zu den Entscheidungskriterien, deren Gewichtung sowie zum Umfang der Aufklärung der Sach- und Rechtslage unterschiedliche Auffassungen vertreten werden (vgl. z.B. Burkiczak in: jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 86b Rn. 188 ff. und Keller in: Meyer-Ladewig u.a., SGG, 13. Aufl., § 86b Rn. 12 ff.). Einigkeit besteht indes an der Orientierung an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache, da am Vollzug eines rechtswidrigen Verwaltungsakts kein schützenwertes Interesse besteht und bei einem rechtmäßigen Verwaltungsakt das Vollzugsinteresse überwiegt. Ist die Erfolgsaussicht in der Hauptsache nicht offensichtlich, sind alle sonstigen Umstände des Einzelfalls, die für und gegen die sofortige Vollziehung sprechen sowie deren Folgen, gegeneinander abzuwägen (vgl. wiederum z.B. Senatsbeschluss v. 11.09.2019 - L 7 AS 857/19 B ER - juris Rn. 30).
Unter Beachtung dieser Maßstäbe ist die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 05.10.2022 anzuordnen, da nach dem derzeit vorliegenden Sach- und Streitstand der Bescheid vom 21.09.2022 rechtswidrig ist, ohne dass es im Einzelnen auf den Ablauf und Stand der Verwaltungsverfahren beim AfA ankommt und weiterer Ermittlungen von Amts wegen bedarf. Ergänzend ist zu berücksichtigen, dass das Girokonto des Antragstellers bei der Sächsischen Sparkasse A.... (….) bereits Anfang Oktober 2022 nur noch einen Kontostand von 35,87 € aufwies (Kontoauszug 5, Blatt 50), tatsächliche Anhaltspunkte für andere Einnahmen oder sonstiges Vermögen des Antragstellers weder vorgetragen noch erkennbar sind und sein Existenzminimum einstweilig zu sichern ist.
Ermächtigungsgrundlage für die Entziehung der Leistungen ist § 5 Abs. 3 Satz 3 SGB II (i.d.F. des Gesetzes v. 26.07.2016, BGBl. I S. 1824). Ein vorheriger Hinweis (§ 5 Abs. 3 Satz 4 SGB II) ist erfolgt (Schreiben v. 22.08.2022).
Dahinstehen kann in diesem Verfahren insbesondere,
- ob und ggf. unter welchen weiteren Voraussetzungen § 5 Abs. 3 Satz 3 SGB II bei einer vollständigen Entziehung von (existenzsichernden) Leistungen mit dem Grundgesetz vereinbar sein kann (zur notwendigen Ermessensentscheidung vgl. indes sogleich);
- ob § 5 Abs. 3 Satz 3 SGB II ("aufgrund eines Antrages nach Satz 1") anwendbar ist, obwohl der Antragsteller bereits im März 2021 einen BAföG-Antrag gestellt hat, soweit auf diesen und nicht auf den Antrag des Antragsgegners vom 10.09.2021 nach § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II dem Antragsteller Leistungen nach dem BAföG versagt worden sein sollten (zum Erfordernis eines Antrags des Leistungsträgers nach dem SGB II vgl. z.B. Luthe in: Hauck/Noftz, SGB II, § 5 Rn. 168, Stand: Dezember 2021);
- ob der Bescheid des AfA vom 11.08.2022 dem Antragsteller - wie von ihm verneint - bekanntgegeben und damit wirksam wurde (§ 50 Abs. 1 Satz 1 BAföG i.d.F. des Gesetzes v. 08.07.2019, BGBl. I S. 1048, § 68 Nr. 1 SGB I, §§ 37, 39 Abs. 1 SGB X), obwohl er nach seinem BAföG-Antrag umgezogen ist und seine neue Anschrift dem AfA nicht mitgeteilt habe sowie
- wie das Schreiben des AfA vom 23.11.2022 rechtlich zu bewerten ist, nachdem für das aktuelle Schuljahr kein Antrag vorliege, der Antragsteller (weitere) Unterlagen eingereicht habe (zur nachgeholten Mitwirkung vgl. § 5 Abs. 3 Satz 5 SGB II und hierzu z.B. Becker in: jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 5 Rn. 103), die Ausbildung beendet worden sei und es bei der Entscheidung laut Bescheid vom 11.08.2022 verbleibe.
Denn selbst beim Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 5 Abs. 3 Satz 3 SGB II und ungeachtet einer evtl. nachgeholten Mitwirkung des Antragstellers beim AfA bedarf es jedenfalls über den Umfang der Entziehung nach § 5 Abs. 3 Satz 3 SGB II einer Ermessensentscheidung des Antragsgegners (insoweit übereinstimmend z.B. Armborst in: Münder/Geiger, SGB II, 7. Aufl., § 5 Rn. 47; Luthe, a.a.O., Rn. 168 a.E.; Knickrehm in: Eicher u.a., SGB II, 5. Aufl., § 5 Rn. 37 und in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 7. Aufl., § 5 SGB II Rn. 30; Marx in: Estelmann, SGB II, § 5 Rn. 64, Stand: August 2020). Bei einer solchen Ermessensentscheidung ist die (sog. Sanktions-) Entscheidung des BVerfG vom 05.11.2019 - 1 BvL 7/16 zu berücksichtigen, zumal anders als bei sog. Sanktionsentscheidungen (§ 31a Abs. 3 SGB II in der bis zum 31.12.2022 geltenden Fassung) bei einer vollständigen Entziehung von existenzsichernden Leistungen keine Erbringung von Sachleistungen oder geldwerter Leistungen gesetzlich vorgesehen ist (vgl. insb. Knickrehm in: Eicher, a.a.O.) und auch nach dem Inkrafttreten des sog. Bürgergeld-Gesetzes vom 16.12.2022 (BGBl. I S. 2328) „Leistungsminderungen“ (Kapitel 3 Abschnitt 2 Unterabschnitt 2 SGB II) ab Januar 2023 weiterhin auf insgesamt 30 Prozent des maßgeblichen Regelbedarfs begrenzt sind (vgl. z.B. § 31a Abs. 1 Satz 3, Abs. 4 SGB II; s. hierzu z.B. BT-Drucks. 20/3873, S. 2, 5 f., 90 ff.).
Eine derartige Ermessensentscheidung enthält der Bescheid vom 21.09.2022 nicht ansatzweise. Tatsächliche Anhaltspunkte für eine Nachholung im Vorverfahren (zur Zulässigkeit vgl. z.B. BSG v. 19.10.2021 - B 3 KR 20/21 B - Rn. 7) sind ebenso weder vorgetragen noch erkennbar.
Die Aufhebung der Vollziehung des Bescheids vom 21.09.2022 und die einstweilige Verpflichtung des Antragsgegners zur Zahlung der dem Antragsteller bisher nicht erbrachten Leistungen beruht auf § 86b Abs. 1 Satz 2 SGG und der noch anhaltend bestehenden Notlage des Antragstellers aufgrund der vollständigen Entziehung von Leistungen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Beschwerde gegen diesen Beschluss ist ausgeschlossen (§ 177 SGG).