L 21 AS 183/22

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
21
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 11 AS 509/18
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 21 AS 183/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 29.11.2021 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand:

 

Der Kläger wendet sich gegen die Direktzahlung der ihm für die Zeit vom 1.4.2018 bis 31.3.2019 bewilligten Kosten der Unterkunft und Heizung durch den Beklagten an die Gemeinde M. Streitig ist nicht die Höhe der Zahlung, sondern alleine der Auszahlungsweg.

 

Der 1979 geborene Kläger bezog bis 31.3.2022 laufend Leistungen nach dem SGB II. Seit dem 1.4.2022 erhält er nach (bestandskräftiger) Versagungsentscheidung des Beklagten keine Leistungen mehr. Ab Oktober 2022 hat er einen neuen Leistungsantrag gestellt.

 

Nachdem der Kläger seine Wohnung wegen Mietrückständen hatte räumen müssen und auch nicht weiter bei seinem Vater wohnen konnte, wurde ihm mit bestandskräftiger Ordnungsverfügung der Gemeinde M vom 2.6.2015 ab dem 1.6.2015 ein Raum (Raum Nr. 15) im Obdachlosenwohnheim „Z-Straße 9“ als Unterkunft zugewiesen und die sofortige Vollziehung angeordnet. Gleichzeitig wurde festgesetzt, dass für die Unterkunft eine monatliche Nutzungsgebühr von 49 € sowie anteilige Nebenkosten in Höhe von monatlich 49,50 €, insgesamt also 98,50 €, zu zahlen seien. Die Zuweisung war bis zum 31.12.2015 befristet. Mit Schreiben vom 8.6.2015 wies der Kläger den Beklagten an, keine Zahlungen an die Gemeindekasse zu leisten, sondern an ihn. Da diese Unterbringung nicht anzuerkennen sei, sei er weiterhin obdachlos. Er werde die Ordnungsverfügung anfechten. Daraufhin erließ der Beklagte am 9.6.2015 einen Änderungsbescheid, mit dem er ab 1.6.2015 neben dem Regelbedarf Unterkunftskosten (Nutzungsentschädigung) in Höhe von monatlich 98,50 € (vorläufig) bis 31.10.2015 bewilligte und diese an die Gemeinde M auszahlte. In dem Bescheid hieß es: „Ab dem Monat Juni 2015 entstehen Ihnen Unterkunftskosten, die als Bedarf nach dem SGB II zu berücksichtigen sind. Gemäß § 22 Abs. 7 Satz 2 SGB II sollen die Bedarfe für Kosten der Unterkunft direkt an den Vermieter oder andere Empfangsberechtigte gezahlt werden, wenn die zweckentsprechende Verwendung durch die leistungsberechtigte Person nicht sichergestellt ist. Laut Ihrem Schreiben vom 8.6.2015 ist dies hier der Fall, da sie die Rechtmäßigkeit der Ordnungsverfügung anzweifeln. Somit ist nicht davon auszugehen, dass die Kosten für Unterkunft und Heizung von Ihnen an die Gemeinde M weitergeleitet würden.“ Darüber streiten die Beteiligten seitdem für jeden Leistungszeitraum, da die Zuweisung durch weitere Ordnungsverfügung vom 30.12.2015 befristet bis zum 31.12.2016 und mit Ordnungsverfügung vom 29.12.2016 unbefristet verlängert worden ist. Der Kläger ist der Auffassung, der Beklagte habe den Sachverhalt hinsichtlich der Wohnverhältnisse selbst zu erforschen und dürfe sich nicht nur auf die Ordnungsverfügung stützen. Durch die Direktzahlung werde in seine Rechte auf Minderung, Aufrechnung und Zurückbehaltung eingegriffen. Es mangele bei seiner Unterbringung sogar an einer nutzbaren Toilette; wegen der Direktzahlung an die Gemeinde sei es ihm nicht möglich, Gegenmaßnahmen, wie z.B. die Anschaffung einer Toilette, zu ergreifen, weil ihm die entsprechenden Gelder fehlten. Das Mobiliar in der Unterkunft sei wegen Verschmutzung / Zustand nicht brauchbar, der Kleiderschrank sei an der Rückwand verschimmelt, der Eckschrank kaputt, die Polster und der Fenstervorhang verschmutzt, der Flur stinke und der Fußboden klebe, Toilette und Dusche seien nicht nutzbar. Es fehle auch an einem Sichtschutz.

 

Das Klageverfahren bei dem Verwaltungsgericht Minden, Az.: 11 K 1818/15, das der Kläger gegen die Obdachlosenunterbringung mit Wirkung bis 31.12.2016 geführt hatte, wurde durch klageabweisendes Urteil vom 24.2.2016 beendet. Die Ordnungsverfügung sei rechtmäßig. Es sei nicht ersichtlich, dass die dem Kläger zugewiesene Unterkunft nicht den Anforderungen einer menschenwürdigen Unterbringung genüge. Dies treffe nur bei unhygienischen und ungesunden Zuständen zu, wenn sie massiv und kumulativ aufträten. Nach den Ausführungen der (dortigen) Beklagten sei der Raum Nr. 15 nach Auszug des Vorbewohners im Jahr 2009 komplett renoviert und seither nur sporadisch genutzt worden. Bei der Übergabe der Wohnung an den Kläger seien nach Darstellung der Beklagten keine Schäden oder auffällige Unsauberkeiten festzustellen gewesen. Im Hinblick auf die Rügen des Klägers habe die Beklagte eine Ortsbesichtigung durchgeführt und den im Sanitärbereich am Fenster befindlichen kleinen Schimmelfleck unverzüglich beseitigt. Der Zustand der Räume sei zudem durch Lichtbildaufnahmen dokumentiert und dem Gericht vorgelegt worden. Anhaltspunkte, dass die Räume menschenwürdigen Anforderungen nicht entsprächen, seien nicht vorhanden. Für eine Beschattung könne der Kläger selbst sorgen und zur Finanzierung Leistungen nach dem SGB II in Anspruch nehmen. Im Übrigen sei dem Kläger im Dezember 2015 der Umzug in eine andere Wohnung angeboten worden, die nicht nur über eigene Sanitärräume, sondern im Wohnbereich auch über Jalousien verfügt habe.

 

Den Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung hat das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen mit Beschluss vom 24.5.2016 als unzulässig verworfen.

 

Mit Bescheid vom 7.3.2018 bewilligte der Beklagte dem Kläger vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit vom 1.4.2018 bis 31.3.2019 in Höhe von 514,50 €. Dabei entfielen 416 € auf den Regelbedarf und 98,50 € auf die Unterkunftskosten in Form der Nutzungsentschädigung für die Obdachlosenunterbringung. Der Bescheid enthielt den Hinweis, dass Zahlungsempfänger für die Unterkunftskosten die Gemeinde M sei. Am 15.3.2018 legte der Kläger Widerspruch ein und verwies zur Vermeidung von Wiederholungen auf seinen bisherigen Vortrag in Parallelverfahren. Mit Widerspruchsbescheid vom 5.4.2018 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Der Kläger lebe derzeit in einer kommunalen Obdachlosenunterkunft der Gemeinde M, für die Nutzungsgebühren in Höhe von insgesamt 98,50 € anfielen. Gemäß § 22 Abs. 7 SGB II seien Leistungen für Unterkunft und Heizung auf Antrag des Leistungsberechtigten unmittelbar an den Vermieter oder den sonstigen Empfangsberechtigten zu zahlen. Nach § 22 Abs. 7 Satz 2 SGB II „sollen“ sie an den Vermieter oder andere Empfangsberechtigte gezahlt werden, wenn die zweckentsprechende Verwendung durch die leistungsberechtigte Person nicht sichergestellt sei. Wie der Kläger schon im Jahr 2015 mitgeteilt habe, wolle er die Unterkunftskosten wie eine Mietminderung einbehalten und anderweitig, z.B. zur Anschaffung einer Toilette, verwenden. Er habe damit unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass er die Mittel zweckwidrig verwenden wolle. Das „sollen“ in § 22 Abs. 7 Satz 2 SGB II drücke aus, dass in Fällen der nicht sichergestellten Verwendung der Gelder die Direktzahlung an den Empfangsberechtigten den Regelfall darstelle. Nur bei atypischen Sachverhalten könne abgewichen werden. Die Behörde verfüge daher lediglich über ein intendiertes Ermessen. Nach Abwägung des klägerischen Interesses an einer eigenverantwortlichen Bedarfsdeckung bzw. der bereits angekündigten zweckwidrigen Verwendung der Mittel für Unterkunft und Heizung und des öffentlichen Interesses an einer zweckentsprechenden Verwendung von Steuermitteln sei die Direktzahlung als ein geeignetes und verhältnismäßiges Mittel zu betrachten. Ein atypischer Fall liege nicht vor. Auch der Einwand des Klägers, durch die Direktzahlung des Nutzungsentgelts seien seine Recht auf Minderung, Aufrechnung und Zurückbehaltung verletzt, führten zu keiner anderen Entscheidung. Auf die Benutzung einer Obdachlosenunterkunft, die eine Kommune als öffentlich-rechtliche Einrichtung betreibe, seien mietrechtliche Vorschriften des BGB nicht anwendbar. Es komme vielmehr ein öffentlich-rechtliches Benutzungsverhältnis zustande und kein Mietvertrag. Zudem sei die dem Kläger zugewiesene Unterkunft auch nicht an den Maßstäben einer wohnungsmäßigen Unterbringung zu messen, sondern diene als Obdach zur Gefahrenabwehr gemäß § 14 des Gesetzes über Aufbau und Befugnisse der Ordnungsbehörden (Ordnungsbehördengesetz – OBG) lediglich dem vorübergehenden Schutz vor den Unbilden des Wetters und habe Raum zu lassen für die notwendigsten Lebensbedürfnisse. Solange die Anordnung der sofortigen Vollziehung nicht aufgehoben bzw. die aufschiebende Wirkung von Rechtsmitteln angeordnet sei, sei die Ordnungsverfügung vollziehbar und vom Beklagten zu beachten.

 

Hiergegen hat der Kläger am 10.4.2018 Klage bei dem SG Detmold erhoben. Die Leistung des Geldanspruchs für die unabdingbare Unterkunftsleistung stehe ihm als anspruchsberechtigtem Leistungsempfänger von Gesetzes wegen von dem Beklagten und von der Gemeinde M zu. Der Beklagte schiebe die Bescheidungen der Gemeinde vor seine eigene Entscheidungsgewalt. Eine eigene Prüfung der streitgegenständlichen Obdachlosenunterkunft sei durch den Beklagten nicht erfolgt. Der Beklagte habe damit auch sein eigenes Antragsrecht für Rechtsmittel im Verwaltungsverfahren nicht wahrgenommen. § 22 SGB II werde von dem Beklagten falsch ausgelegt. Er werde in seinen Rechten tiefgreifend verletzt, die tägliche Lebensführung entsprechend erschwert. Soweit sich der Beklagte zur Begründung der Direktzahlung auch auf Mietrückstände aus der vorherigen Wohnung beziehe, sei dies unzulässig, da nach dem Wortlaut und Aufbau des Gesetzes nur der Ist-Zeitpunkt maßgeblich sei und nicht Verfahren außerhalb des Beurteilungsrahmens.

 

Am 29.11.2021 hat ein Verhandlungstermin stattgefunden, zu dem der Kläger ausweislich der Akten mit Postzustellungsurkunde, eingelegt in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten am 30.9.2021, geladen worden ist. Er ist zum Termin nicht erschienen.

 

Der Kläger hat schriftsätzlich sinngemäß beantragt,

 

den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 7.3.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5.4.2018 zu verurteilen, die ab dem 1.4.2018 bewilligten Leistungen für die Bedarfe Unterkunft und Heizung von monatlich 98,50 € an ihn auszuzahlen.

 

Der Beklagte hat beantragt,

 

die Klage abzuweisen.

 

Er hat auf seine Ausführungen im Widerspruchsbescheid verwiesen. Darüber hinaus habe der Kläger seine vorherige Wohnung bereits wegen Zahlungsverzugs und erheblichen Mietrückständen verloren.

 

Das SG hat die Klage mit Urteil vom 29.11.2021 abgewiesen. Der Bescheid des Beklagten sei rechtmäßig. Zur Überzeugung des Gerichts stehe fest, dass der Kläger in einem den in § 22 Abs. 7 Satz 3 SGB II genannten Regelbeispielen vergleichbaren Ausmaß nicht die Gewähr dafür biete, die ihm gezahlten Geldmittel zur Deckung der Unterkunftskosten zweckentsprechend zu verwenden. So habe er offen angekündigt, die monatlichen Kosten jedenfalls nicht in voller Höhe zahlen zu wollen, sondern eine „Mietminderung“ durchzuführen und von dem Geld andere Anschaffungen zu tätigen. Die Entscheidung sei auch ermessensfehlerfrei getroffen worden.

 

Gegen das ihm am 26.1.2022 zugestellte Urteil hat der Kläger am 31.1.2022 „Beschwerde“ eingelegt. Er habe keine ordnungsgemäße Ladung zum Gerichtstermin erhalten. Gehör und Recht vor Gericht dürfte nicht derartig umgangen werden, wie es durch die falschen Angaben im Sitzungsprotokoll „hervorgeschoben“ sei. Auch seien insbesondere die Entscheidungsgründe im Urteil überhaupt nicht nachvollziehbar und entstellten ihn zusätzlich wie überflüssig. Er halte an seinem bisherigen Vortrag fest.

 

Der Kläger beantragt schriftsätzlich sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 29.11.2021 zu ändern und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 7.3.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5.4.2018 zu verurteilen, die für die Zeit vom 1.4.2018 bis 31.3.2019 bewilligten Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von 98,50 € monatlich an ihn auszuzahlen.

 

Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Berufung zurückzuweisen. 

 

Er hält das Urteil für zutreffend. Die ordnungsgemäße Ladung des Klägers sei im Termin festgestellt worden.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten, die beigezogenen Verwaltungsakten des Beklagten sowie die Streitakte des SG Detmold, Az.: S 7 AS 150/18, und die des Verwaltungsgerichts Minden, Az.: 11 K 1818/15, Bezug genommen, deren jeweiliger wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

 

 

Entscheidungsgründe:

A. Der Senat konnte in der Streitsache entscheiden, obwohl für die Beteiligten niemand zum Termin erschienen ist, denn der Kläger ist mit Postzustellungsurkunde, die am 15.9.2022 in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten eingelegt wurde, geladen und in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden. Dem Beklagten ist die Entsendung eines Vertreters freigestellt worden.

 

B.  Der Kläger kann für die Zeit vom 1.4.2018 bis 31.3.2019 keine (erneute) Auszahlung der Kosten der Unterkunft in Höhe von 98,50 € monatlich an sich selbst verlangen. Denn der Beklagte hat die Unterkunftskosten in diesem Zeitraum zu Recht an die Gemeinde M gezahlt. Der Anspruch des Klägers auf Auszahlung der ihm bewilligten Unterkunftskosten ist damit erfüllt. Im Einzelnen:

Die vom Kläger eingelegte „Beschwerde“, die als Rechtsmittel gegen ein Urteil unstatthaft wäre (§ 172 Abs. 1 SGG ), ist zu Gunsten des Klägers als Berufung auszulegen (zur Geltung der Auslegungsregel des § 133 BGB für Anträge der Beteiligten und des Grundsatzes der Meistbegünstigung vgl. BSG vom 09.01.2019 – B 13 R 25/18 B, Rn. 7; BSG vom 29.03.2007 – B 7b AS 4/06 R, Rn. 9). Diese ist zulässig, insbesondere fristgerecht und statthaft (§§ 143144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG), aber unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen.

I. Das Urteil des SG ist nicht unter Verletzung des prozessualen Grundrechts auf  rechtliches Gehör im Sinne von § 62 SGG i.V.m Art. 103 Abs. 1 GG zustande gekommen. Zwar liegt eine Verletzung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs bei unterlassener Ladung zur mündlichen Verhandlung vor (Keller, in: Meyer-Ladewig, u.a., SGG, 2020, § 62 Rn. 6c). Hier ist aber mit der Zustellung der Ladung, belegt durch die Postzustellungsurkunde vom 30.9.2021, die den Namen und die ordnungsgemäße Anschrift des Klägers enthält, der Nachweis der Bekanntgabe erbracht (vgl. Keller, a.a.O., § 63 Rn. 3b). Die Ladung ist in den Machtbereich des Klägers als Empfänger gelangt (§ 130 BGB analog). Aus dem Vortrag des Klägers ergeben sich auch keine konkreten Anhaltspunkte für einen abweichenden Verlauf, die eine weitere Sachverhaltsaufklärung erfordern würden.

II. Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. Der Bescheid des Beklagten vom 7.3.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5.4.2018 ist rechtmäßig und beschwert den Kläger nicht im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG. Er hat keinen Anspruch auf Auszahlung der ihm für die Zeit vom 1.4.2018 bis 31.3.2019 bewilligten Unterkunftskosten an ihn selbst.

Streitig ist zwischen den Beteiligten alleine die im Bewilligungsbescheid vom 7.3.2018 von dem Beklagten getroffene Regelung zum Auszahlungsweg der Unterkunftskosten. Insoweit enthält der Bescheid unterhalb der Rechtsbehelfsbelehrung den Passus:

„Folgende Zahlungsempfänger werden berücksichtigt:

Empfänger:

L 416,00 €

(…)

Gemeinde M 98,50 €

(…)“.

 

Unabhängig von der Darstellungsweise im Bescheid handelt es sich bei der Zahlung an einen Dritten um einen Eingriff in das Verfügungsrecht des Hilfebedürftigen über die ihm gewährten Leistungen und damit um eine belastende Regelung des Einzelfalls, die die Qualität eines (eigenen) Verwaltungsakts i.S.d. § 31 Satz 1 SGB X hat (Piepenstock, in: jurisPK-SGB II, § 22 (Stand: 12.1.2022) Rn. 263; LSG NRW vom 20.2.2019 – L 7 AS 2024/18 B, Rn. 11). Statthafte Klageart ist daher hier die Anfechtungsklage nach § 54 Abs. 1 Satz 1 SGG zur Aufhebung der abweichenden Zahlungswegbestimmung sowie die Leistungsklage nach § 54 Abs. 4 SGG zur Auszahlung der Unterkunftskosten an den Kläger selbst.

 

1. Der Beklagte stützt die Direktzahlung zu Recht auf § 22 Abs. 7 Satz 2 SGB II. Der Verwaltungsakt ist formell rechtmäßig. Zwar hat der Beklagte den Kläger nicht gemäß § 24 Abs. 1 SGB X angehört. Von der Anhörung durfte er jedoch nach § 24 Abs. 2 Nr.  3 SGB X absehen, weil er von den tatsächlichen Angaben des Klägers nicht zu dessen Ungunsten abgewichen ist. Der Sachverhalt ist zwischen den Beteiligten hinsichtlich der Tatsachen unstreitig. Dem Kläger ist seit 1.6.2015, nunmehr bestandskräftig und unbefristet, Raum 15 der Obdachlosenunterkunft „Z-Straße 9“ in M zugewiesen worden. Dafür fällt ein Nutzungsentgelt in Höhe von 98,50 € an, das der Beklagte als Kosten der Unterkunft zu tragen und dem Kläger auch für die Dauer des Leistungsbezug seit 1.6.2015 laufend bewilligt hat. Unstreitig ist auch, dass der Kläger die Auszahlung seitdem nur deshalb an sich selbst und nicht an die Gemeinde verlangt, weil er die ihm nach seiner Ansicht zustehenden Minderungs- und Zurückbehaltungsrechte dadurch verwirklichen möchte, dass er die bewilligten Zahlungen eben nicht an die Gemeinde weiterleitet, sondern ganz oder teilweise einbehält. So hat er es in mehreren Schreiben dargelegt. Auf der Grundlage dieser tatsächlichen und unstreitigen Angaben hat der Beklagte über die Direktzahlung entschieden. Dass er damit zwar nicht von den tatsächlichen Angaben des Klägers, aber von dessen Rechtsauffassung abweicht, führt nicht zum Erfordernis der Anhörung. Eine Anhörung war zudem auch nicht vor dem Hintergrund des mit ihr verfolgten Zwecks geboten. Sinn der Anhörung ist der Schutz des Betroffenen vor Überraschungsentscheidungen (Siefert, in: Schütze, SGB X, 2020, § 24 Rn. 2). Da der Beklagte die Direktzahlung an die Gemeinde seit 1.6.2015 laufend verfügt und umsetzt, handelt es sich bei dem im hier streitigen Bescheid für den Zeitraum vom 1.4.2018 bis 31.3.2019 bestimmten Zahlungsweg um die bisher praktizierte Verfahrensweise und gerade nicht um eine Überraschungsentscheidung.

 

2. Die Regelung über die Direktzahlung ist auch materiell rechtmäßig. Nach § 22 Abs. 7 Satz 2 SGB II soll der mit dem Arbeitslosengeld II bewilligte Bedarf für Unterkunft und Heizung an den Vermieter oder andere Empfangsberechtigte gezahlt werden, wenn die zweckentsprechende Verwendung durch die leistungsberechtigte Person nicht sichergestellt ist. § 22 Abs. 7 Satz 3 SGB II enthält Regelbeispiele, wann diese Voraussetzung insbesondere erfüllt ist. Diese Regelbeispiele sind im vorliegenden Fall nicht einschlägig. Die zweckentsprechende Verwendung war jedoch für den streitgegenständlichen Zeitraum dennoch nicht sichergestellt. Der Kläger hatte vorgetragen, die bewilligten Leistungen einbehalten zu wollen, um die ihm nach seiner Ansicht zustehenden Minderungs- und Zurückbehaltungsrechte verwirklichen zu können bzw. von dem Geld Anschaffungen zu tätigen. Da bei dieser angekündigten Vorgehensweise der Anspruch der Gemeinde M gegen den Kläger auf Zahlung der in der Ordnungsverfügung vom 29.12.2016 bestimmten Nutzungsgebühr für den Raum in der Obdachlosenunterkunft nicht erfüllt worden wäre, hätte auch der Zweck der bewilligten Kosten der Unterkunft nicht erreicht werden können.

Soweit die nach § 35 Abs. 1 Satz 1und Satz 2 SGB X erforderliche Begründung der Direktzahlung als belastendem Verwaltungsakt in dem Bescheid vom 7.3.2018 unterblieben ist, führt dieser Mangel nicht zur Rechtswidrigkeit. Denn nach § 41 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X kann die erforderliche Begründung einer Entscheidung nachträglich gegeben und der Verfahrens- oder Formfehler damit geheilt werden. Dies ist im Widerspruchbescheid vom 5.4.2018 geschehen, in dem die Voraussetzungen der Direktzahlung ausführlich dargelegt wurden.

 

Dem Beklagten stand auch kein Entscheidungsspielraum zu. Eine Verknüpfung der Tatbestands- mit der Rechtsfolgenseite durch ein „soll“ – wie hier in § 22 Abs. 7 Satz 2 SGB II - hat für den Regelfall eine Entscheidungspflicht zur Folge. Nur in Ausnahmefällen kann die Behörde aus wichtigen Gründen oder wegen atypischen Einzelfällen von der vorgegebenen Rechtsfolge abweichen. Der vom Normgeber vorausgesetzte Regelfall wird durch die Subsumtion des Sachverhalts unter den abstrakten Rahmen der Vorschrift festgestellt. Zur Entscheidung, ob ein atypischer Ausnahmefall vorliegt, der ein Abweichen von der Regel rechtfertigt, ist jedoch über die bloße Subsumtion hinaus die Übereinstimmung des Lebenssachverhalts mit dem Normzweck zu ermitteln. Ergibt eine umfassende Betrachtung der Besonderheiten der konkreten Situation, dass die Erfassung anderer Fälle intendiert war, so ist eine abweichende Rechtsfolgenentscheidung der Verwaltung möglich. Ob im Einzelfall ein solcher atypischer Einzelfall gegeben war, ist unbeschränkt justiziabel (vgl. zu „Soll“-Vorschriften im Verwaltungsrecht: Geis, in: Schoch u.a., VwVfG, § 40 (Stand: April 2022) Rn. 26). Dass hier für einen atypischen Fall keine Gründe ersichtlich sind, hat der Beklagte im Widerspruchsbescheid ausdrücklich – und zutreffend – unter Berücksichtigung des konkreten Lebenssachverhalts festgestellt.

 

3. Da die Direktzahlung der Unterkunftskosten an die Gemeinde M rechtmäßig war, hat sie Erfüllungswirkung (vgl. Luik, in: Eicher u.a., SGB II, 2021, § 22 Rn. 308). Ein Anspruch des Klägers auf (erneute) Auszahlung der Unterkunftskosten für die Zeit vom 1.4.2018 bis 31.3.2019 an ihn selbst besteht nicht.

 

C. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

D. Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), liegen nicht vor.

 

 

 

Rechtskraft
Aus
Saved