S 13 AS 388/20

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
SG Nordhausen (FST)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
13
1. Instanz
SG Nordhausen (FST)
Aktenzeichen
S 13 AS 388/20
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Eine Verpflichtung des Jobcenters zur Direktzahlung von Kosten der Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs. 7 SGB II kann im Wege einer Klage nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG festgestellt werden.

2.  § 22 Abs. 7 SGB II gilt auch für Zahlungen, die Immobilieneigentümer an Dritte zu leisten haben, und ist damit nicht auf Mieter beschränkt.

Es wird festgestellt, dass der Beklagte auf Antrag des Klägers verpflichtet ist, die vom Beklagten nach § 22 SGB II anerkannten Kosten der Unterkunft (Wasser, Abwasser, Müll, Grundsteuer) an die Empfangsberechtigten zu zahlen.

            Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen.

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Beklagte verpflichtet ist, Leistungen für die Unterkunft des Klägers direkt an die Empfangsberechtigten auszukehren.

Der Kläger steht seit langem beim Beklagten im Leistungsbezug. Er ist Eigentümer eines Hausgrundstücks, das unter der im Rubrum ersichtlichen Anschrift belegen ist. Teile des Wohnhauses sind vermietet. Seit geraumer Zeit tritt der Kläger an den Beklagten mit der Bitte heran, einzelne Kosten der Unterkunft (KdU) nach § 22 Abs. 7 Zweites Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) direkt an seine Gläubiger zu zahlen. Der Beklagte wiederum erlässt Leistungsbescheide, in denen der Kläger als Empfänger der Geldleistungen ausgewiesen ist.

Wegen einzelner Posten hat der Kläger am 20. bzw. 21. März 2020 Untätigkeitsklage erhoben. Durch Beschluss vom 28. September 2020 hat das Gericht die Verfahren S 13 AS 400/20 (Trinkwasser), S 13 AS 401/20 (Müllgebühren) und S 13 AS 402/20 (Abwassergebühren) mit dem hiesigen Verfahren (Grundsteuer) zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden.

Der Kläger trägt zur Begründung seiner Klage insbesondere vor: Seit Jahren fordere er den Beklagten vergeblich zur Beachtung von § 22 Abs. 7 SGB II auf. Ermessensspielraum habe der Beklagte nicht. Ursprünglich habe er versucht, sein Begehren durch Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen durchzusetzen. Der Beklagte nutze allerdings jedes Mittel der Verfahrensverzögerung, sodass der jeweils streitige Bewilligungszeitraum regelmäßig überschritten würde und eine Durchführung von § 22 Abs. 7 SGB II für die Vergangenheit nach Ablauf des Bewilligungszeitraums nicht mehr durchsetzbar wäre. Ihm verbleibe nur noch die Möglichkeit einer separaten Klageerhebung. Bei der Durchführung von § 22 Abs. 7 SGB II wäre der Beklagte nicht mehr in der Lage, eine zweckentfremdete Verwendung von Leistungen unterstellen zu können. Dass auf den Überweisungen an die Empfangsberechtigten seine BG-Nummer vermerkt sei, sei für ihn unproblematisch.

Der Kläger beantragt zuletzt

festzustellen, dass der Beklagte auf seinen Antrag verpflichtet ist, die vom Beklagten nach § 22 SGB II anerkannten Kosten der Unterkunft (Wasser, Abwasser, Müll, Grundsteuer) an die Empfangsberechtigten zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,

            die Klage abzuweisen.

Zur Begründung trägt er insbesondere vor: Bei einer Direktzahlung bestünden datenschutzrechtliche Bedenken. § 22 Abs. 7 SGB II gelte nur bei Mietverhältnissen

Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakten des Beklagten haben vorgelegen und waren Gegenstand der Entscheidungsfindung. Auf diese Unterlagen wird wegen des weiteren Sach- und Streitstands ergänzend verwiesen.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist begründet.

A. Die Klage ist zulässig.

I. Die in der mündlichen Verhandlung erfolgte Klageänderung von der Untätigkeitsklage nach § 88 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hin zur Feststellungsklage nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG war jedenfalls nach § 99 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 SGG zulässig, da sich der Beklagte rügelos auf den geänderten Antrag eingelassen hat.

II. Die Feststellungsklage des Klägers ist zulässig, weil sein Rechtsschutzbegehren effektiv nicht durch eine vorrangige Klageart erreicht werden kann (dazu 1.). Es liegt ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis vor (dazu 2.). Auch ein Feststellungsinteresse besteht (dazu 3.).

1. Zwar ist die grundsätzliche Subsidiarität von Feststellungsklagen zu Leistungs- und Gestaltungsklagen zu beachten, weil auch im sozialgerichtlichen Verfahren der Nachranggrundsatz gilt (vgl. Bundessozialgericht <BSG> vom 23. Januar 1973 - 3 RK 17/71 - SozR Nr. 51 zu § 55 SGG Da 23; BSG vom 9. Februar 1995 - 7 RAr 78/93SozR 3-4427 § 5 Nr. 1 S. 6; BSG vom 15. Juni 2016 - B 4 AS 36/15 R - SozR 4-4200 § 22 Nr. 90 Rn. 13). Dieser Grundsatz greift jedoch nicht, wenn das Klageziel - wie hier - nicht mit einer - an sich vorrangigen - Klageart erreicht werden kann (vgl. Ulmer in Hennig, SGG, § 55 Rn. 6).

Das gilt hier in Bezug auf den an sich im Wege der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4 SGG) zu verfolgenden Anspruch auf Direktzahlung. Da es sich bei der Entscheidung, nach § 22 Abs. 7 SGB II Leistungen an den Empfangsberechtigten zu zahlen, um einen Verwaltungsakt nach § 31 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) handelt (Krauß in Hauck/Noftz, K § 22 SGB II Rn. 327; Lauterbach in Gagel, § 22 SGB II Rn. 130; Luik in Eicher/Luik, SGB II, § 22 Rn. 249; Piepenstock in jurisPK-SGB II, § 22 Rn. 230; offengelassen von BSG vom 9. August 2018 - B 14 AS 38/17 R - BSGE 126, 180 Rn. 30), wäre dieses Vorgehen an sich vorrangig. Nach Abschluss des Bewilligungsabschnitts bzw. nach Bewirkung der Leistungen an den SGB II-Leistungsempfänger erledigt sich die Ablehnung jedoch auf andere Weise (§ 39 Abs. 2 SGB X; vgl. auch BSG vom 9. August 2018 - B 14 AS 38/17 R - BSGE 126, 180 Rn. 21). Nur soweit zu diesem Zeitpunkt bereits eine Anfechtungs- und Leistungsklage erhoben war, wäre dann eine Fortsetzungsfeststellungsklage nach § 131 Abs. 1 Satz 3 SGG statthaft (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, § 131 Rn. 7b), die selbst jedoch nicht vorrangig gegenüber der allgemeinen Feststellungsklage ist.

2. Die vom Kläger begehrte Feststellung der Verpflichtung, auf Antrag die vom Beklagten nach § 22 SGB II anerkannten Kosten der Unterkunft (Wasser, Abwasser, Müll, Grundsteuer) an die Empfangsberechtigten zu zahlen, bezieht sich auf ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis im Sinne des § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG und kann daher Gegenstand eines Feststellungsbegehrens sein.

Gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG kann die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses begehrt werden, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung hat. Feststellbar sind einzelne Beziehungen oder Berechtigungen, auch wenn sie aus einem umfassenderen Rechtsverhältnis herrühren (vgl. BSG vom 11. Dezember 1956 - 1 RA 109/55 - BSGE 4, 184, 185 m.w.N.; BSG vom 19. Februar 2009 - B 4 AS 10/08 R - juris Rn. 10; BSG vom 15. Juni 2016 - B 4 AS 36/15 R - SozR 4-4200 § 22 Nr. 90 Rn. 18; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, § 55 Rn. 6).

Ein Rechtsverhältnis im Sinne von § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG ist eine Rechtsbeziehung zwischen mehreren Personen, die sich aus der Anwendung einer Rechtsnorm auf ihr Verhältnis zueinander ergibt. Es ist feststellungsfähig, wenn zwischen den Beteiligten ein Meinungsstreit über die rechtlichen Folgen für dieses Verhältnis besteht (vgl. BSG vom 9. Februar 1995 - 7 RAr 78/93 - SozR 3-4427 § 5 Nr. 1 S. 4 im Anschluss an Bundesverwaltungsgericht vom 23. Januar 1992 - 3 C 50.89 - BVerwGE 89, 327, 330).

Hier ist das feststellungsfähige Rechtsverhältnis des Klägers zum Beklagten durch die im Streit stehende Verpflichtung des Beklagten begründet worden, auf Antrag des Klägers auch außerhalb von Mietverhältnissen Leistungen nach Maßgabe des § 22 Abs. 7 SGB II an Empfangsberechtigte zu zahlen.

3. Der Kläger hat auch ein Feststellungsinteresse im Sinne eines berechtigten Interesses an der baldigen Feststellung des Inhalts eines mit dem Beklagten bestehenden Rechtsverhältnisses. Wie bereits oben unter 1. ausgeführt, käme Rechtsschutz über eine Anfechtungs- und Leistungsklage in der Regel zu spät.

B. Die Klage ist auch begründet. Der Beklagte ist auf Antrag des Klägers verpflichtet, die vom Beklagten nach § 22 SGB II anerkannten Kosten für Wasser, Abwasser, Müll und Grundsteuer (dazu V.) an die Empfangsberechtigten zu zahlen. Dies folgt aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift (dazu II.) sowie der Gesetzessystematik (dazu III.), während aus dem Wortlaut (dazu I.) und der Entstehungsgeschichte (dazu IV.) nichts Gegenteiliges folgt. Datenschutzrechtliche Aspekte stehen dem nicht entgegen (dazu VI.).

I. § 22 Abs. 7 SGB II in der hier anzuwendenden Fassung des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24. März 2011 (Bundesgesetzblatt I S. 453) hat - soweit es hier darauf ankommt - folgenden Wortlaut:

„Soweit Arbeitslosengeld II für den Bedarf für Unterkunft und Heizung geleistet wird, ist es auf Antrag der leistungsberechtigten Person an den Vermieter oder andere Empfangsberechtigte zu zahlen. Es soll an den Vermieter oder andere Empfangsberechtigte gezahlt werden, wenn die zweckentsprechende Verwendung durch die leistungsberechtigte Person nicht sichergestellt ist. Das ist insbesondere der Fall, wenn … . Der kommunale Träger hat die leistungsberechtigte Person über eine Zahlung der Leistungen für die Unterkunft und Heizung an den Vermieter oder andere Empfangsberechtigte schriftlich zu unterrichten.“

Aus dem Wortlaut folgt damit, dass auf Antrag des Leistungsberechtigten eine Direktzahlung zu erfolgen hat. Es besteht mithin - bei Vorliegen der Voraussetzungen - eine entsprechende Verpflichtung der Behörde.

§ 22 Abs. 7 Satz 1 SGB II bestimmt dabei, dass auf diesen Antrag hin die Leistungen für Unterkunft und Heizung an den Vermieter oder andere Empfangsberechtigte zu zahlen sind. Da hier neben dem Vermieter auch andere Empfangsberechtigte genannt werden, folgt aus dem Wortlaut keine Beschränkung auf Mietverhältnisse. Der Wortlaut ist indes nicht eindeutig, da auch Mieter in Bezug auf ihre Unterkunft anderen Gläubigern, etwa Wärmelieferanten, ausgesetzt sein können.

II. Einer Beschränkung auf Mietverhältnisse steht jedoch der Sinn und Zweck der Vorschrift entgegen. So soll erreicht werden, dass staatliche Transferleistungen zu den Wohnkosten tatsächlich zweckgerichtet verwendet werden (vgl. Krauß in Hauck/Noftz, K § 22 SGB II Rn. 317). Dieses Bedürfnis besteht unabhängig davon, ob es sich um eine Schuld gegenüber Vermietern oder aber eine Schuld gegenüber anderen Gläubigern von Wohneigentümern handelt, die den KdU zuzurechnen ist.

Zweck des § 22 Abs. 7 SGB II ist es dagegen nicht, zivilrechtliche Streitigkeiten zwischen dem Leistungsberechtigten und seinen Gläubigern über den Leistungsträger auszutragen (vgl. Sozialgericht <SG> Nordhausen vom 2. Mai 2018 - S 14 AS 30/18; Thüringer Landessozialgericht vom 7. Februar 2020 - L 9 AS 744/18 B). Hiervon kann jedoch bei Wohneigentümern nicht per se ausgegangen werden, sodass allenfalls im Einzelfall den KdU zuzurechnende Posten aus dem Anwendungsbereich des § 22 Abs. 7 SGB II fallen können (vgl. etwa die Konstellation im Beschluss des SG Nordhausen vom 2. Mai 2018 - S 14 AS 30/18).

III. Aus der Gesetzessystematik folgt keine Beschränkung auf Mietverhältnisse. Infolge der Einordnung in § 22 SGB II liegt vielmehr nahe, dass sich die Vorschrift auf alle von den Jobcentern zu tragenden KdU bezieht. Eine Beschränkung auf Mietverhältnisse hätte daher einer eindeutigen Formulierung bedurft.

IV. Der aus dem Normzweck und der Gesetzessystematik gewonnenen Auslegung steht die Entstehungsgeschichte nicht entgegen. Aus den Gesetzesmaterialien folgt lediglich, dass die Funktion des für die Aufwendungen für die Unterkunft geleisteten Teils des Arbeitslosengeldes II unterstrichen werden soll. Ansonsten werden auch nur die Begriffe „Vermieter“ und „andere Empfangsberechtigte“ ohne weitere Erläuterung verwandt (vgl. zum Gesetzesentwurf der Regierungsfraktionen zum Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch, Bundestagssache 17/3404, S. 98). Eine Beschränkung auf Mietverhältnisse folgt daraus nicht.

V. Soweit der für die Durchführung des § 22 Abs. 7 SGB II erforderliche Antrag gestellt ist, ist der Leistungsträger mithin auch bei Wohneigentümern zur Direktzahlung verpflichtet.

Dies betrifft zum einen jedoch nur bereits vom Jobcenter im Bewilligungsbescheid anerkannte, also bewilligte KdU. Daraus folgt auch, dass die Verpflichtung des Klägers zur Nachweisführung in Bezug auf die KdU bei Anwendung des Zahlweges nach § 22 Abs. 7 SGB II gegenüber dem Beklagten hinsichtlich des Bestehens der jeweiligen Schuld nicht erleichtert wird.

Im Hinblick auf die nicht vom Normzweck gedeckte Hineinziehung zivilrechtlicher Streitigkeiten (hierzu oben II.) erfolgte zum anderen die - auch so beantragte - Beschränkung auf Wasser, Abwasser, Müll und Grundsteuer.

VI. Datenschutzrechtliche Aspekte stehen einer Direktzahlung nicht entgegen. Aus der entsprechenden Antragstellung folgt die Einwilligung des Leistungsberechtigten, dass durch die Direktüberweisung das Sozialdatum „Leistungsbezug“ offenbart wird (Berlit in Münder/Geiger, SGB II, § 22 Rn. 239). Dementsprechend hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung auch erklärt, dass die Mitteilung der BG-Nummer in den Überweisungen für ihn unproblematisch ist.

C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt das Obsiegen des Klägers.

Die Berufung ist kraft Gesetzes zulässig, da die Beschränkungen des § 144 Abs. 1 SGG nicht greifen.

Rechtskraft
Aus
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