S 20 R 952/19

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
SG Nordhausen (FST)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
20
1. Instanz
SG Nordhausen (FST)
Aktenzeichen
S 20 R 952/19
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Der Bescheid der Beklagten vom 11.01.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.05.2019 wird aufgehoben.

Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Tatbestand

Die Klägerin wendet sich mit ihrer am 24.05.2019 erhobenen Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 11.01.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.05.2019 ,mit dem für den Zeitraum vom 01.05.2003 bis 31.01.2019 die Gewährung einer Rente wegen Todes teilweise aufgehoben und ein Gesamtbetrag von 13.573,44€  zurückgefordert wurde. Aufgrund einer maschinellen Mitteilung hatte die Beklagte Kenntnis erlangt, dass von der Klägerin im fraglichen Zeitraum Arbeitsentgelt bezogen wurden. Die Aufhebung wurde auf § 48 SGB X gestützt, insbesondere sei der Tatbestand des § 48 Absatz 1 Satz 2 Nummer 3 SGB X gegeben, da die Klägerin Arbeitsentgelte aus der Aufnahme einer Beschäftigung am 01.04.2003 erzielt habe. Da sie diese Arbeitsentgelte nicht zur Versicherungsnummer der Hinterbliebenenrente mitgeteilt habe, habe die Klägerin gewusst oder aufgrund grob fahrlässigen Verhaltens nicht gewusst, dass der Rentenanspruch kraft Gesetzes teilweise weggefallen sei.

 Aufgrund der in dem Rentenbescheid vom 08.10.2002 erhaltenen Informationen und Hinweise auf die Mitteilungspflichten hätte die Klägerin wissen müssen, dass sich Einkommen insbesondere Arbeitsentgelt aus einer Beschäftigung auf die Witwenrente auswirken und den Anspruch mindern könne.

Es läge auch kein atypischer Fall vor, da die D kein Mitverschulden am Entstehen der Überzahlung treffe. Etwas anderes ergebe sich auch nicht daraus, dass ein interner Abgleich zwischen dem Bereich der Witwenrente und dem bei der Beklagten ebenfalls geführten Versicherungskonto nicht erfolgt sei, da die Beklagte keine Rechtspflicht zur Durchführung eines solchen Datenabgleichs treffe.  Aus diesem Grunde habe die Beklagte hinsichtlich der Aufhebung und Erstattung auch keine Ermessensentscheidung zu treffen.

Die Klägerin beruft sich darauf, dass der Beklagten, wenn auch zu einem anderen Versicherungskonto als der Witwenrente, die erzielten Einkünfte mitgeteilt, beziehungsweise entsprechende Beiträge vom Arbeitgeber abgeführt wurden. An dem Erörterungstermin am 2. Juni 2022 räumte die Klägerin ein, dass ihr zwar inzwischen klar sei, dass sie eine Meldung hätte machen müssen, sie das zum Zeitpunkt der Arbeitsaufnahme jedoch nicht richtig registriert habe. Sie habe gedacht, dass aufgrund der Abführung der Sozialversicherungsbeiträge ein automatischer Datenabgleich durchgeführt werde und habe daher den Status der großen Witwenrente nicht näher hinterfragt.

In dem Unterlassen des automatischen Datenabgleichs sieht die Klägerin auf jeden Fall ein Mitverschulden der Behörde an der Überzahlung, so dass eine atypische Fallgestaltung vorliege. Deshalb sei aus ihrer Sicht zumindest eine Erstattung der Beträge, die länger als 10 Jahre zurückliegen, nicht angemessen.

Die Klägerin beantragt (sinngemäß),

den Bescheid der Beklagten vom 11.01.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.05.2019 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

                        die Klage abzuweisen.

Die Beklagte beruft sich auf die Begründung der angefochtenen Bescheide.

 Ergänzend trägt sie vor: Der Umstand, dass der Arbeitgeber der Klägerin Entgeltmeldungen entsprechend der sozialversicherungsrechtlichen Meldevorschriften gegenüber der Krankenkasse der Klägerin als Einzugsstelle abgegeben hat und die Entgeltmeldung dann an ihr eigenes Versicherungskonto beim Rentenversicherungsträger weitergeleitet wurden, habe die Klägerin nicht von ihrer Verpflichtung entbunden, das Arbeitsentgelt zum Versicherungskonto, aus dem die Hinterbliebenenrente gezahlt wird, mitzuteilen. Sie verweist auf die in den jeweiligen Rentenbescheiden und Rentenanpassungsmitteilung aufgeführten Mitwirkungspflichten und Mitteilungspflichten. Sie hält auch eine Bescheidaufhebung über die Zehnjahresfrist hinaus für zulässig, da es sich um eine wiederkehrende Geldleistung gehandelt habe, die entsprechend § 48 Absatz 4 SGB X in Verbindung mit  § 45 Absatz 3 Satz 4 SGB X bis zum Beginn des Verwaltungsverfahrens über die Aufhebung laufend gezahlt worden sei und ist der Ansicht, dass der Klägerin zumindest ein grob fahrlässiges Verhalten zuzurechnen sei. Sie verweist insoweit auf die umfangreiche einschlägige Rechtsprechung, wonach das Nichtlesen von Bescheiden eine grobe Fahrlässigkeit begründet. Hieran ändere auch das im Erörterungstermin vom Vorsitzenden angeführte Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 17.05.2018 Aktenzeichen L 10 R 3025/17 nichts.

Die Beteiligten haben sich im Erörterungstermin mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt und  dies in den Schriftsätzen vom 15. Juli 2022 und 28. Juli 2022 nochmals bestätigt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und den Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen, die der Kammer bei der Beratung und Entscheidungsfindung vorlagen.

Entscheidungsgründe

Die  Kammer konnte aufgrund des Einverständnisses der Beteiligten gemäß § 124 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheiden.

Die Klage ist zulässig.

Die Klage ist auch begründet. Zwar war die Beklagte grundsätzlich berechtigt, einen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid zu erlassen und hat auch die richtige Rechtsgrundlage herangezogen, allerdings hat sie verkannt, dass hier ein atypischer Fall vorliegt, der eine Ermessensentscheidung erforderlich gemacht hätte.

Rechtsgrundlage für den streitigen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid der Beklagten ist § 48 Abs. 1 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) - was die Aufhebung betrifft - und § 50 Abs. 1 SGB X - was die Erstattungsforderung betrifft.

Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsakts mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X soll der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit

1. die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt,

2. der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist,

3. nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde, oder

4. der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist.

Die  Voraussetzungen von Satz 1 dieser Regelung liegen vor. Bei der mit Bescheid vom 08.10.2002  erfolgten Bewilligung von Witwenrente handelte es sich um  einen Verwaltungsakte mit Dauerwirkung. Die wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen, die beim Erlass der Bewilligungsbescheide vorlagen, liegt in der Erzielung von Arbeitseinkommen aufgrund der am 01.04.2003 aufgenommenen Beschäftigung, dessen Entgelt auf die Witwenrente anzurechnen war.

Die Berechnung der Beklagten ist insoweit nicht zu beanstanden.

Zwar erfolgte die Aufhebung gemäß § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X, der über § 48 Abs. 4 Satz 1 SGB X entsprechend anzuwenden ist, innerhalb eines Jahres ab Kenntnis der Beklagten von der wesentlichen Änderung der Verhältnisse. Denn das für die Witwenrente zuständige Dezernat der Beklagten und damit der zuständige Sachbearbeiter erhielt  erst  mit  dem Datenabgleich Kenntnis von dem Einkommen.  Allerdings erfolgte die teilweise Aufhebung der Bewilligungsbescheide, soweit sie Leistungen bis zum  21.12.2008 betraf,    erst nach Ablauf von zehn Jahren seit dem Eintritt der wesentlichen Änderung. In diesem Fall sieht § 48 Abs. 4 SGB X mit seiner Verweisung auf § 45 Abs. 3 Satz 4 SGB X zwar vor, dass auch nach Ablauf der Frist von zehn Jahren ein Bescheid über die Bewilligung laufender Geldleistungen zurückgenommen werden kann, wenn - wie hier - diese Geldleistung mindestens bis zum Beginn des Verwaltungsverfahrens über die Rücknahme gezahlt wurde. Allerdings bezieht sich diese Regelung auf die Fälle des Satzes 3. Dort wiederum ist eine Rücknahme bis zu zehn Jahren nach Bekanntgabe nur in den Fällen der Bösgläubigkeit (vorsätzliche oder grob fahrlässige unrichtige Angaben bzw. Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis von der Rechtswidrigkeit) oder bei einem - hier nicht erklärten - Vorbehalt des Widerrufs vorgesehen. Der Verweis in § 48 Abs. 4 Satz 1 SGB X auf § 45 Abs. 3 Satz 3 SGB X als Rechtsgrundverweisung (vgl. BSG, Urteil vom 01.07.2010, B 13 R 77/09 R in SozR 4-1300 § 48 Nr. 18) erfordert eine folgerichtige Übertragung der in Bezug genommenen Regelungen auf § 48 SGB X, mit der Konsequenz, dass bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen der Nr. 2 (vorsätzliche oder grob fahrlässige Verletzung einer Mitteilungspflicht) oder der Nr. 4 (Kenntnis oder grob fahrlässige Nichtkenntnis vom Ruhen oder Wegfall des sich aus dem Verwaltungsakt ergebenden Anspruchs) des § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X die Aufhebung eines rechtswidrig begünstigenden Verwaltungsakts mit Dauerwirkung mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse auch nach Ablauf der von diesem Zeitpunkt an laufenden Zehnjahresfrist in Betracht kommt, wenn ein Verwaltungsakt über eine laufende Geldleistung vorliegt und diese Geldleistung mindestens bis zum Beginn des Verwaltungsverfahrens über die Aufhebung gezahlt wurde (BSG, a.a.O.). Dies bedeutet zugleich, dass das Vorliegen der Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X (Erzielung von Einkommen) für die Aufhebung nach Ablauf der Zehnjahresfrist nicht ausreicht (Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 17. Mai 2018 – L 10 R 3025/17 –, Rn. 18 - 22, juris).

Die Überzahlung beruht auch auf einem grob fahrlässigen Verhalten der Klägerin.

Grobe Fahrlässigkeit liegt nach § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 zweiter Halbsatz SGB X vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt. Diese Voraussetzung erfüllt, wer schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht anstellt und daher nicht beachtet, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss. Maßgebend sind das Einsichtsvermögen und die persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit des Beteiligten sowie die besonderen Umstände des Falles (a.a.O.  Rn. 25, juris).

Nicht geklärt zu werden braucht, ob der Klägerin, wie die Beklagte meint, vorzuwerfen ist, dass sie den Witwenrentenbescheid nicht aufmerksam gelesen und die Mitwirkungspflichten und Hinweise zur Kenntnis genommen hat. Anknüpfungspunkt für ein grob fahrlässiges Verhalten ist hier jedoch der Umstand, dass die Klägerin es verabsäumt hat, sich bei Beginn des Arbeitsverhältnisses zu versichern, dass die erzielten Einkünfte keine Auswirkungen auf die Höhe der gewährten Witwenrente haben. Sie hätte hierzu den Bescheid zurate ziehen können oder bei der Beklagten nachfragen, beides hat die Klägerin verabsäumt. Nach Auffassung der Kammer begründet dieses Verhalten gerade noch den Tatbestand der groben Fahrlässigkeit, weil sich entsprechende Überlegungen hätten aufdrängen müssen. Zwar wird der Grad der Fahrlässigkeit dadurch vermindert, das der Klägerin bekannt war, dass entsprechende Arbeitsentgelte der Rentenversicherung gemeldet werden, dies hebt nach Auffassung der Kammer den Vorwurf der groben Fahrlässigkeit jedoch nicht völlig auf. Insofern besteht ein Unterschied zu der angeführten Entscheidung des Landessozialgericht Baden-Württemberg-Württemberg, da die Hinweise auf die Mitwirkungspflichten in dem Rentenbescheid in Bezug auf die Erzielung von Arbeitseinkommen eindeutig waren.

Die Aufhebungsentscheidung der Beklagten ist jedoch wegen Fehlens einer Ermessensentscheidung rechtswidrig.

Das Wort "soll" in Abs. 1 Satz 2 des § 48 SGB X bedeutet, dass der Leistungsträger in der Regel den Verwaltungsakt rückwirkend aufheben muss, er jedoch in atypischen Fällen nach seinem Ermessen hiervon abweichen kann. Die Frage, ob ein atypischer Fall vorliegt, ist als Rechtsvoraussetzung im Rechtsstreit von den Gerichten zu überprüfen und zu entscheiden (stRspr, z.B. BSG 12.12.1995, 10 RKg 9/95, SozR 3-1300 § 48 Nr. 42 S 93; BSG 05.10.2006 aaO).

Bei der Prüfung, ob eine zur Ermessensausübung zwingende Atypik des Geschehensablaufs vorliegt, kommt es auf die Umstände des Einzelfalls an (BSG 26.10.1998, B 2 U 35/97 R). Diese müssen Merkmale aufweisen, die signifikant vom (typischen) Regelfall abweichen, in dem die Rechtswidrigkeit eines ursprünglich richtigen Verwaltungsakts ebenfalls durch nachträgliche Veränderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen eingetreten ist. Hierbei ist zu prüfen, ob die mit der Aufhebung verbundene Pflicht zur Erstattung der zu Unrecht erhaltenen Leistungen (§ 50 Abs. 1 SGB X) nach Lage des Falls eine Härte bedeuten, die den Leistungsbezieher in atypischer Weise stärker belastet als den hierdurch im Normalfall Betroffenen. Ebenso ist das Verhalten des Leistungsträgers im Geschehensablauf in die Betrachtung einzubeziehen. Mitwirkendes Fehlverhalten auf seiner Seite, das als eine atypische Behandlung des Falls i.S. einer Abweichung von der grundsätzlich zu erwartenden ordnungsgemäßen Sachbearbeitung zu werten ist, kann im Einzelfall die Atypik des verwirklichten Tatbestands nach § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X ergeben. Dabei ist die Frage, ob ein atypischer Fall vorliegt, nicht losgelöst davon zu beurteilen, welcher der in Nr. 1 bis 4 vorausgesetzten Aufhebungstatbestände erfüllt ist (BSG 05.10.2006, B 10 EG 6/04 R, SozR 4-1300 § 48 Nr. 8, Rn. 18 m.w.N.).

Dabei begründet  die Höhe der Erstattungsforderung für sich allein keine besondere Härte, denn die mit einer Erstattung verbundene Härte mutet das Gesetz jedem Betroffenen zu (BSG 11. 02. 1988, 7 RAr 55/86, SozR 1300 § 48 Nr. 44). Die Klägerin hätte ohne die zurückgeforderten Leistungen angesichts der Höhe ihres Einkommens auch keinen Anspruch auf Sozialhilfe bzw. Grundsicherungsleistungen gehabt, der im Nachhinein nicht mehr geltend gemacht werden könnte (vgl. BSG 12.12.1995, 10 RKg 9/95, SozR 3-1300 § 48 Nr 42 S 94; BSG 30. 06. 2016, B 5 RE 1/15 R, SozR 4-1300 § 48 Nr. 33 Rn. 26).

Ein atypischer Sachverhalt ergibt sich auch nicht allein daraus, dass die rückwirkende Aufhebung und die Erstattungsforderung einen Zeitraum von mehr als 15 Jahren umfassen. Zu berücksichtigen ist jedoch zusätzlich, dass der Behörde durch Unterlassen eines Datenabgleichs über einen derartig langen Zeitraum oder einer entsprechenden Nachfrage bei der Klägerin dieses Nichthandeln als mitursächlich für die Überzahlung anzusehen ist. Angesichts des Alters der Klägerin mit 25 Jahren  bei Beginn der Witwenrente hätte die Überlegung nahe gelegen, dass hier im Hinblick auf die Einkommenssituation Veränderungen eintreten. Dies ergibt sich schon aus dem Umstand, dass der Beklagten bekannt war, dass das Erziehungsgeld nur befristet gewährt wurde. Sofern unter den Bedingungen einer Massenverwaltung eine individuelle Betrachtung als unzweckmäßig erscheint, sind durch entsprechende organisatorische Maßnahmen und Vorgaben Vorkehrungen zu treffen, zum Beispiel durch Einrichtung eines automatischen Datenabgleichs zwischen den verschiedenen Versicherungskonten oder durch automatische Vorlagefristen für Anfragen für eine Einkommensüberprüfung. Das Unterbleiben solcher organisatorischen Vorkehrungen, wie sie dann später auch eingerichtet wurden (letztlich hat ein derartiger automatischer Datenabgleich bei der Beklagten zur Kenntnis des erzielten Einkommens bei der sachbearbeitenden Stelle geführt) stellt zwar kein individuelles Verschulden des zuständigen Sachbearbeiters dar, unzureichende organisatorische Vorkehrungen sind jedoch der Beklagten als handelnde Organisation zuzurechnen. (Anders SG Heilbronn, Urteil vom 19. Januar 2021 – S 2 R 3204/19 –, Rn. 27 - 30, juris, das den Aspekt eines möglichen Organisationsverschuldens ausblendet ,  wenn es der Auffassung ist, dass entscheidend ist, ob eine Verknüpfung zwischen den Versicherungskonten bereits hergestellt wurde und sich deshalb die Kenntnis von einem rentenschädlichen Einkommensbezug der Beklagten nicht aus anderen Umständen als einer Mitteilung der Klägerin aufdrängen musste.)

Die Annahme der Klägerin, dass ein solcher Datenabgleich erfolgte, war zwar falsch und es wird von der Kammer als gerade noch grob fahrlässig gewertet, dass sich die Klägerin darauf verlassen hat, dass dies der Fall sei. Eine solche Annahme ist jedoch keineswegs abwegig, sondern vielmehr naheliegend. Allerdings durfte sich nach Auffassung der Kammer die Klägerin nicht einfach darauf verlassen, dass behördliche Abläufe immer zweckmäßig und angemessen organisiert sind.

Das Mitverschulden des Leistungsträgers an einer Leistungsüberzahlung in allen Fällen des § 48 Abs. 1 S 2 SGB X ist unter Berücksichtigung aller Faktoren im konkreten Fall von derartiger Bedeutung, dass die rückwirkende Aufhebung der Leistungsbewilligung die Ausübung von Ermessen erforderte.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Rechtskraft
Aus
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