L 13 VG 24/21

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Köln (NRW)
Aktenzeichen
S 28 VG 12/20
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 13 VG 24/21
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 9 V 28/22 B
Datum
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Köln vom 23.02.2021 wird zurückgewiesen.

Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand:

 

Die Klägerin begehrt Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) aufgrund eines sog. Schockschadens.

 

Am 12.03.2012 verschwand die Tochter der Klägerin, die 1988 geborene A C, spurlos. Der Ehemann der Tochter, U C, teilte der Klägerin noch am selben Tag mit, dass ihre Tochter nach einem Streit wegen finanzieller Schwierigkeiten „abgehauen“ sei. Aufgrund einer am 16.05.2012 erstatten Vermisstenanzeige des Ehemannes wurden Ermittlungen durch das Kriminalkommissariat der Kreispolizeibehörde S-Kreis eingeleitet und u.a. die Klägerin als Zeugin vernommen. Die Ermittlungen blieben zunächst erfolglos. Ende 2012 äußerte die Klägerin gegenüber der Polizei den Verdacht, ihre Tochter könne möglicherweise nicht mehr leben. Am 05.06.2013 berichtete die ZDF-Fernsehsendung „Aktenzeichen XY ungelöst“ über den Vermisstenfall. Nach Ausstrahlung der Sendung gelangte die Kriminalpolizei zu der Einschätzung, dass der Verdacht eines Tötungsdeliktes zum Nachteil der Tochter der Klägerin vorliege und leitete am 24.07.2013 ein Ermittlungsverfahren gegen den Ehemann der Tochter ein. Darüber wurde die Klägerin am 08.10.2013 im Rahmen einer neuerlichen Zeugenvernehmung in Kenntnis gesetzt. Der Ehemann der Tochter wurde am 22.01.2014 vorläufig festgenommen. Im Sommer 2014 wurde A C erfolglos weltweit zur Fahndung ausgeschrieben. Mit Urteil vom 02.03.2016 (Az. 105 Ks 3/15) verurteilte das Landgericht (LG) Köln U C wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren. Nach den Feststellungen der Kammer tötete der Angeklagte am 12.03.2012 in der Zeit von etwa 12.50 Uhr bis spätestens 15.00 Uhr seine Frau A C auf nicht mehr feststellbare Art und Weise vorsätzlich und beseitigte den Leichnam nach der Tötung bis spätestens zum frühen Morgen des 21.03.2012 dergestalt, dass dieser nicht mehr aufgefunden werden konnte. Auf die Revision des Angeklagten wurde die Sache zur erneuten Entscheidung bzgl. des Strafmaßes an das LG Köln zurückverwiesen. Mit rechtskräftigem Urteil vom 19.09.2017 (Az. 321 Ks 4/17) wurde der Angeklagte sodann wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von elf Jahren und sechs Monaten verurteilt.

 

Bereits am 17.04.2014 hatte die Klägerin bei dem Beklagten die Gewährung von Beschädigtenversorgung wegen posttraumatischer Belastungsstörungen aufgrund eines vermutlichen Tötungsdeliktes beantragt. Ihre Tochter sei am 12.03.2012 verschwunden und vermutlich von deren Ehemann getötet worden. Die Polizei habe diesen inzwischen festgenommen und die Akte befinde sich bei der Staatsanwaltschaft.

 

Der Beklagte zog die Akten der Staatsanwaltschaft Köln (Az. 91 Js 36/13) sowie Befundberichte der behandelnden Ärzte bei und gelangte zunächst zu der Einschätzung, bei der Klägerin liege ein schädigender Tatbestand im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG in Form eines Schockschadens vor (Aktenvermerk vom 29.01.2018). Sodann beauftragte er den Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. P mit einer Begutachtung. Dieser gelangte nach ambulanter Untersuchung der Klägerin im Januar 2019 zu der Einschätzung, dass bei der Klägerin auf psychiatrischem Fachgebiet eine sonstige Reaktion auf schwere Belastung sowie eine mittelgradige depressive Episode einer rezidivierenden depressiven Störung vorlägen. Die sonstige Reaktion auf schwere Belastung sei als Traumafolgestörung mit hoher Wahrscheinlichkeit auf den schädigenden Vorgang wesentlich im Sinne der Entstehung zurückzuführen, hier unter Berücksichtigung der chronischen Schockschädigung, die durch das allmähliche Gewahrwerden der Tötung der Tochter durch den Schwiegersohn entstanden sei. Die depressive Störung sei als schädigungsunabhängige Gesundheitsstörung aufzufassen. Der Grad der Schädigungsfolgen (GdS) betrage 40 (Gutachten vom 29.01.2019).

 

Mit Bescheid vom 03.09.2019 lehnte der Beklagte den Antrag gleichwohl ab. An die Gewährung von Versorgung durch einen erlittenen Schockschaden seien enge Voraussetzungen geknüpft. Bei Personen, die nicht Tatzeuge der Gewalttat waren, aber durch das Auffinden des - getöteten oder schwer verletzten - Opfers oder durch die Überbringung der Nachricht vom Tode oder der schweren Verletzung des Opfers einen Schockschaden erleiden, könne Versorgung gewährt werden, wenn zwischen ihnen und dem unmittelbaren Opfer eine besondere emotionale Verbindung bestehe. Der Betroffene müsse also einen Schock durch die Nachrichtenübermittlung vom gewaltsamen Tod der nahestehenden Angehörigen erlitten haben, aus dem sich dann die (dauerhafte) psychische Störung von Krankheitswert (in Abgrenzung zur abnormalen Trauerreaktion) entwickelt haben müsse. Die Tochter der Klägerin sei am 12.03.2012 verschwunden. Im Rahmen der polizeilichen Zeugenvernehmung vom 08.10.2013 sei der Klägerin mitgeteilt worden, dass inzwischen nicht mehr davon ausgegangen werde, dass die Tochter noch lebe. Mit Urteil vom 27.09.2019 (richtig: 19.09.2017) sei der Ehemann der Tochter wegen Totschlags verurteilt worden. Die Voraussetzungen für die Gewährung des Schockschadens würden nicht erfüllt, da die geforderte Nachrichtenübermittlung vom gewaltsamen Tod der Tochter nicht vorliege. Eine Nachrichtenübermittlung im eigentlichen Sinne habe nicht stattgefunden.

 

Dagegen legte die Klägerin am 10.09.2019 Widerspruch ein. Sie sei durch das plötzliche Verschwinden ihrer Tochter in einen Schockzustand geraten. Ihre Tochter habe in einem regen Telefonkontakt zu ihr gestanden und sie nahezu täglich angerufen. Die Nachricht über das plötzliche Verschwinden ihrer Tochter und die Tatsache, dass sich diese über zwei Tage nicht gemeldet habe, sei für sie das Signal gewesen, dass ihre Tochter eines gewaltsamen Todes gestorben sein musste und habe bei ihr den Schock ausgelöst. Seit diesem Zeitpunkt leide sie unter massiven psychischen Störungen.

 

Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 16.01.2020, dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin zugstellt am 18.01.2020, zurückgewiesen. Der Antrag sei zutreffend abgelehnt worden, da die geforderte Nachrichtenübermittlung vom gewaltsamen Tod der Tochter nicht vorliege. Eine Nachrichtenübermittlung im eigentlichen Sinne habe nicht stattgefunden. Vielmehr sei man zunächst von einem Verschwinden der Tochter ausgegangen. Erst im Laufe der weiteren Ermittlungen seien Zweifel am Verschwinden aufgekommen und man sei von einem Tötungsdelikt ausgegangen. Die Nachrichtenübermittlung könne nicht genau definiert werden und somit auch nicht der schädigende Vorgang. Erst im Verlauf des Verfahrens sei der Klägerin bewusst geworden, dass sie ihre Tochter nicht mehr lebend wiedersehen würde. Die Argumentation, dass schon die Nachricht vom plötzlichen Verschwinden der Tochter einen Tatbestand im Sinne des OEG darstelle, sei rechtlich nicht haltbar.

 

Dagegen hat die Klägerin am 18.02.2020 Klage zum Sozialgericht (SG) Köln erhoben. Der Beklagte verkenne, dass sie den Schockschaden bereits zu dem Zeitpunkt erlitten habe, als der Ehemann ihrer Tochter ihr gegenüber erklärt habe, dass diese „abgehauen“ sei. Diese Nachricht habe für sie bereits bedeutet, dass ihrer Tochter etwas Schlimmes passiert sein müsse, sie wahrscheinlich sogar tot sei, weil sich nicht mehr gemeldet habe. Dieser bereits eingetretene Schockschaden habe sich verschlimmert, als sie erfahren habe, dass ihre Tochter von ihrem Ehemann getötet worden war. Zwar sei ihr die Nachricht vom Tod der Tochter nicht „expressis verbis“ überbracht worden, jedoch habe sie aufgrund der Erklärung ihres Schwiegersohnes gewusst, dass ihre Tochter tot war. Wie die Nachricht letztlich überbracht werde, könne im Ergebnis keinen Unterschied machen.

 

Die Klägerin hat schriftsätzlich beantragt,

 

den Bescheid des Beklagten vom 03.09.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.01.2020 aufzuheben und dem Antrag der Klägerin, ihr Versorgung nach dem OEG zu gewähren, stattzugeben.

 

Der Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,

 

die Klage abzuweisen.

 

Er hat den angefochtenen Bescheid für rechtmäßig gehalten.

 

Das SG hat die Klage nach Anhörung der Beteiligten mit Gerichtsbescheid vom 23.02.2021 abgewiesen. Da die Klägerin nicht Zeugin der Tat gegen ihre Tochter gewesen sei, komme als schädigender Vorgang im Sinne von § 1 Abs. 1 OEG lediglich die sonstige Kenntniserlangung von der Tat in Betracht, mithin die Nachricht über den schädigenden Vorgang gegen die Tochter. An einer entsprechenden Nachricht fehle es vorliegend. Es lasse sich schon nicht objektiv feststellen, zu welchem Zeitpunkt genau die Klägerin von dem Tod der Tochter erfahren habe bzw. davon ausgegangen sei. Auch der von dem Beklagten beauftragte Sachverständige Dr. P habe dargelegt, dass schädigender Vorgang vielmehr das allmähliche Gewahrwerden des Todes der Tochter gewesen sei. Dies sei jedoch von den Regelungen des § 1 OEG nicht umfasst. Etwas anderes gelte auch nicht, wenn man in der Mitteilung, die Tochter sei „abgehauen“, eine Nachricht im vorgenannten Sinne sehe. Der Schutzbereich des OEG werde überspannt, wenn alle aufgrund von Vermisstenfällen ausgelösten psychischen Störungen in den Anwendungsbereich einbezogen würden, noch bevor objektiv eine Gewalttat nachgewiesen sei.

 

Gegen die ihrem Prozessbevollmächtigten am 10.03.2021 zugestellte Entscheidung hat die Klägerin am 12.04.2021, einem Montag, Berufung eingelegt. Zur Begründung wiederholt sie ihr Vorbringen aus dem erstinstanzlichen Verfahren. Der Umstand, dass sie über Jahre hinweg ständigen täglichen Kontakt zu ihrer Tochter gehabt habe, welcher plötzlich abgerissen sei, sei einer Nachricht über den Tod oder einer schweren Verletzung der Tochter gleichzustellen. Es sei nicht gerechtfertigt, danach zu unterscheiden, ob ein naher Angehöriger schriftlich bzw. verbal über den Tod eines nahen Verwandten unterrichtet werde oder ob dieser durch mögliche Anzeichen wie etwa den plötzlichen Abbruch jahrelanger regelmäßiger und täglicher Kontakte und Telefongespräche und das daraus resultierende „schlimme Gefühl“ Kenntnis vom Tod erlange und hierdurch einen Schockschaden erleide. Ihr Gesundheitszustand habe sich aufgrund des erlittenen Schocks durch das plötzliche Verschwinden ihrer Tochter ständig verschlechtert mit der Folge, dass sie zwischenzeitlich zu 50 % schwerbehindert sei.

 

Die Klägerin beantragt schriftsätzlich sinngemäß,

 

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Köln vom 23.02.2021 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 03.09.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.01.2020 zu verurteilen, ihr Rentenleistungen und Heilbehandlung zu gewähren.

 

Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,

 

die Berufung zurückweisen.

 

Das SG habe den Sachverhalt rechtlich richtig gewürdigt, die höchstrichterliche Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zum Schockschaden richtig dargestellt und im Fall der Klägerin zutreffend angewendet. Sofern die Klägerin aus dem Fehlen regelmäßiger Telefonate eine „Nachricht“ im Sinne der Rechtsprechung des BSG zum Schockschaden herleiten wolle, könne dem nicht gefolgt werden. Ein Dauerzustand sei keine Nachricht in diesem Sinn. Das BSG habe explizit darauf hingewiesen, dass mit seiner Rechtsprechung zum Schockschaden keine Erweiterung des schädigenden Tatbestandes verbunden sei. Zudem fehle es an entsprechenden Nachweisen sowie an einer „Übermittlung“ der Nachricht.

 

Die Beteiligten haben sich mit Schriftsätzen jeweils vom 12.05.2022 mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Weiterer Einzelheiten wegen wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten.

 

 

 

Entscheidungsgründe:

 

Der Senat konnte gemäß § 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden, nachdem sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben.

 

Die zulässige Berufung ist unbegründet.

 

Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. Die Klägerin ist durch den Bescheid des Beklagten vom 03.09.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.01.2020 nicht im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG beschwert, da dieser rechtmäßig ist. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Gewährung von Leistungen nach dem OEG i.V.m. dem BVG.

 

Der Klageantrag war dahingehend auszulegen, dass konkrete Leistungen in Gestalt von Rentenleistungen und Heilbehandlung begehrt werden, da ein allgemein auf „Versorgung" gerichteter Antrag unzulässig wäre (vgl. BSG, Urteil vom 27.09.2018 - B 9 V 2/17 R, juris Rn. 15).

 

Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erhält derjenige, der im Geltungsbereich des Gesetzes infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Das die Leistungspflicht nach dem OEG auslösende schädigende Ereignis ist demnach der tätliche Angriff auf das Opfer. Solange dieser fortwirkt, die Ereignisse also durch die Gewaltanwendung geprägt sind, ist von einem schädigenden Vorgang im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG auszugehen (vgl. BSG, Urteil vom 12.06.2003 – B 9 VG 8/01 R, juris Rn. 12 m.w.N.). Die Schädigung kann auch psychischer Natur sein (BSG, Urteil vom 08.08.2001 – B 9 VG 1/00 R, juris Rn. 13 m.w.N.). Der  Entschädigungsanspruch nach dem OEG setzt eine unmittelbare Schädigung des Opfers voraus, wobei „Unmittelbarkeit“ grundsätzlich als enger zeitlicher und örtlicher Zusammenhang zwischen dem Schädigungstatbestand und der schädigenden Einwirkung im Sinne einer engen, untrennbaren Verbindung beider Tatbestandselemente ohne örtliche und zeitliche Zwischenglieder verstanden wird (BSG, Urteil vom 10.12.2002 – B 9 VG 7/01 R, juris Rn. 14 m.w.N.). Sie betrifft eine Vorfrage der Kausalität und begrenzt den berechtigten Personenkreis (BSG, a.a.O.). Ob das Opfer einer Gewalttat durch den Angriff „unmittelbar" geschädigt worden ist, beurteilt sich je nach den Umständen des Einzelfalls wertend anhand des Schutzzwecks des Gesetzes (BSG, a.a.O.).

 

Die grundsätzliche Einschränkung, dass nur die Folgen unmittelbarer Schädigungen entschädigt werden, entfällt für den Anwendungsbereich des OEG nicht etwa deswegen, weil nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG auch eine Person anspruchsberechtigt sein kann, die durch einen auf eine andere Person verübten Angriff geschädigt wird („aberratio ictus"; BSG, Urteil vom 08.08.2001 – B 9 VG 1/00 R, juris Rn. 16). Zu diesen sog. Sekundäropfern gehören auch solche, deren Schädigung und Schädigungsfolgen psychischer Natur sind (BSG, a.a.O.). Im Ergebnis werden die psychischen Auswirkungen einer schweren Gewalttat als mit dieser so unmittelbar verbunden betrachtet, dass beide eine natürliche Einheit bilden (BSG, Urteil vom 10.12.2002 – B 9 VG 7/01 R, juris Rn. 15). Mit der Einbeziehung der Sekundäropfer in den Schutzbereich des §1 Abs. 1 OEG ist jedoch keine Erweiterung des Begriffs des schädigenden Vorganges verbunden (vgl. dazu BSG, Urteil vom 12.06.2003 – B 9 VG 8/01 R, juris Rn. 12 m.w.N.). Voraussetzung ist - ebenso wie bei Primäropfern - eine unmittelbare Schädigung, also ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Schädigungstatbestand und der schädigenden Einwirkung im Sinne einer engen, untrennbaren Verbindung beider Tatbestandselemente. Maßgebliches Kriterium für das Vorliegen eines solchen engen Zusammenhangs ist die zeitliche, örtliche und personale Nähe, wobei allerdings nicht alle Aspekte gleichermaßen vorzuliegen brauchen. Besteht eine zeitliche und örtliche Nähe zum primär schädigenden Geschehen, kann diese den erforderlichen engen Zusammenhang begründen, auch wenn es an einer besonderen personalen Nähe zu dem Primäropfer fehlt. Umgekehrt muss der Mangel eines zeitlichen und örtlichen Zusammenhanges zu dem das Primäropfer schädigenden Vorgang nicht schaden, wenn das Sekundäropfer eine enge personale Beziehung zum Primäropfer hat. Aufgrund personaler Nähe kann die geforderte Unmittelbarkeit jedenfalls bei einem nahen Angehörigen auch dann gegeben sein, wenn das Sekundäropfer erst später Kenntnis von der vorsätzlichen gewaltsamen Tötung des Primäropfers erhält und dadurch eine Schädigung erfährt (BSG, Urteil vom 12.06.2003 - B 9 VG 1/02 R, juris Rn. 15). Bei Sekundäropfern ist insoweit an den das Primäropfer schädigenden „Vorgang“ anzuknüpfen. Sie müssen demnach „durch“ Wahrnehmung dieses „Vorganges“ oder eine sonstige Kenntnisnahme „davon“ geschädigt worden sein (vgl. BSG, a.a.O.). Das BSG hat den insoweit gebotenen engen Zusammenhang bejaht, wenn das Sekundäropfer am Tatort unmittelbar Zeuge der Tat gewesen ist, als der seelische Schock eintrat (zeitliche und örtliche Nähe; Eigenschaft als Augenzeuge), und es zudem aus Gründen einer sachgerechten Fassung des Schutzbereichs des OEG als erforderlich angesehen, die Unmittelbarkeit jedenfalls bei nahen Angehörigen (personale Nähe) auch dann anzunehmen, wenn eine solche Person die Nachricht von der vorsätzlichen Tötung des Primäropfers erhält und „dadurch" einen Schock erleidet, ohne dass eine Tatzeugenschaft vorliegt (vgl. BSG, Urteil vom 10.12.2002 - B 9 VG 7/01 R, juris Rn. 16 m.w.N.). In einem solchen (letztgenannten) Fall bildet die Nachrichtenübermittlung eine natürliche Einheit mit dem Tatgeschehen, weswegen auch der Empfänger der Nachricht von dem „besonders schrecklichen Geschehen" nicht etwa nur mittelbar, sondern - wenn auch zeitlich versetzt - unmittelbar geschädigt wird. Denn erst der Erhalt der Nachricht von der Gewalttat gegen das Primäropfer bildet ihm gegenüber das Ende der Gewalttat. In diesem Fall handelt es sich um eine „Unmittelbarkeit" im weiteren Sinn, die aber durch den Schutzzweck des OEG geboten ist. Dieser ist zwar primär darauf gerichtet, diejenigen Bürger zu entschädigen, die der Staat mit seinen Sicherheitsvorkehrungen nicht vor Gewalttaten schützen konnte (vgl. BT-Drs. 7/2506, S. 7). Staatlichen Schutz gegen Gewalttaten erwartet aber der Bürger nicht nur für sich, sondern auch für sein höchstpersönliches Umfeld, d.h. für seine nächsten Angehörigen. Daher  entspricht es dem Zweck des Gesetzes, den Begriff der Unmittelbarkeit  dahingehend zu erweitern, dass jedenfalls auch Personen als unmittelbar  geschädigt anzusehen sind, die gesundheitliche Schäden durch die  Benachrichtigung von einem auf einen nahen Angehörigen verübten Angriff  erleiden (BSG, Urteil vom 08.08.2001 - B 9 VG 1/00 R, juris Rn. 17 m.w.N.). Dabei ist die „Nachricht" ein zu einem bestimmten Zeitpunkt stattfindender kommunikativer Vorgang und kein Dauerzustand, wie das Vorliegen von geänderten familiären Lebensumständen (BSG, Beschluss vom 17.12.1997 - 9 BVg 5/97, juris Rn. 2).

 

Unter Beachtung dieser Maßgaben fehlt es vorliegend an der erforderlichen Unmittelbarkeit.

 

Die Klägerin ist, wie das SG zutreffend ausgeführt hat und was zwischen den Beteiligten auch nicht streitig ist, nicht selbst unmittelbar Opfer (Primäropfer) eines tätlichen Angriffs geworden.

 

Sie ist auch nicht als vom Schutzbereich des OEG erfasstes sog. Sekundäropfer anlässlich der gegen ihre Tochter am 12.03.2012 verübten Gewalttat anzusehen.

 

Nach den Feststellungen des LG Köln hat U C zwar die Tochter der Klägerin getötet und damit einen vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriff im Sinne des §1 Abs. 1 OEG verübt. Die Klägerin war jedoch - unstreitig - nicht Augenzeugin dieses schädigenden Vorgangs, so dass es an einer zeitlichen und örtlichen Nähe fehlt. Auch aufgrund der zwischen der Klägerin und ihrer Tochter gegebenen besonderen personalen Nähe im Sinne der Rechtsprechung des BSG kann die Klägerin nicht als zu entschädigendes sog. Sekundäropfer behandelt werden, weil es an der erforderlichen Nachrichtenübermittlung und einem darauf beruhenden Schockschaden fehlt.

 

Es ist schon nicht feststellbar, wann und unter welchen konkreten Umständen die Klägerin erstmalig (objektiv) vom Tod ihrer Tochter erfahren hat. Der Ehemann ihrer Tochter hatte ihr zunächst am 12.03.2012 mitgeteilt, diese sei „abgehauen“. Auch die polizeilichen Ermittlungen wurden zunächst als „Vermisstensache“ geführt. Nach Aktenlage manifestierte sich bei der Klägerin erst im weiteren zeitlichen Verlauf der Verdacht, dass ihre Tochter Opfer einer Gewalttat geworden sein könnte. Die Klägerin hat zudem bestätigt, dass ihr die Nachricht vom Tod der Tochter nicht „expressis verbis“ überbracht worden sei.

 

Der von dem Beklagten im Verwaltungsverfahren beauftragte Dr. P, dessen Gutachten im Wege des Urkundenbeweises verwertet werden kann (vgl. dazu Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 128 Rn. 7f.), hat diesbezüglich schlüssig und überzeugend ausgeführt, dass „ein klassischer Schockschaden bei Frau R nur schwerlich festzustellen sein dürfte, weil letztlich eine unmittelbare Todesnachricht im eigentlichen Sinne an Frau R nicht erfolgt ist“. Das Bewusstsein dafür, dass ihre Tochter Opfer eines Tötungsdeliktes geworden ist, habe sich vielmehr über einen längeren Prozess eingestellt, sodass die Schädigung „in einem chronischen Vorgang gelegt worden“ sei.

 

Auch wenn es nicht auf das kumulative Vorliegen der zeitlichen, örtlichen und personalen Nähe ankommt, sondern vorliegend die personale Nähe der Klägerin als Mutter des Opfers ausreichend ist, erfasst, wie das BSG klargestellt hat, der Schutzbereich des OEG die von Gewalttaten an ihren Angehörigen betroffenen Schockgeschädigten nicht aufgrund familiärer Beziehung, sondern infolge der tatbestandlichen Erstreckung (vgl. BSG, Urteil vom 10.12.2002 - B 9 VG 7/01 R, juris Rn. 18). Die nach der Rechtsprechung auch bei Sekundäropfern erforderliche unmittelbare Schädigung, also der unmittelbare Zusammenhang zwischen dem Schädigungs"tatbestand" und der schädigenden Einwirkung im Sinne einer engen untrennbaren Verbindung beider Tatbestandselemente dergestalt, dass das Sekundäropfer durch Kenntnisnahme „davon“ geschädigt worden ist, liegt hier nicht vor. Mit Dr. P ist vielmehr davon auszugehen, dass die psychische Traumafolgestörung durch das „allmähliche Gewahrwerden“ der Tötung der Tochter entstanden ist.

 

Soweit die Klägerin mehrfach vorgetragen hat, dass bei ihr bereits durch die Mitteilung, ihre Tochter sei „abgehauen“, sowie durch den Abbruch des Kontakts ein Schockzustand eingetreten sei, kann daraus kein Anspruch hergeleitet werden.

 

Die Mitteilung vom Verschwinden der Tochter stellt (bei objektiver Würdigung) schon keine Nachrichtenübermittlung im Sinne der Rechtsprechung des BSG dar. Bei der Nachricht, dass eine - erwachsene - Person verschwunden ist, handelt es sich nicht um die Nachricht über eine Gewalttat im Sinne von § 1 Abs. 1 OEG.

 

Darüber hinaus würde der Schutzbereich des OEG überspannt, wenn alle aufgrund von Vermisstenfällen ausgelösten psychischen Störungen in den Anwendungsbereich einbezogen würden, noch bevor objektiv eine Gewalttat nachgewiesen ist. Sofern es viele Möglichkeiten für das Verschwinden einer Person gibt (z.B. Unfall, Selbstmord, Kontaktabbruch), sind die Folgen beim Sekundäropfer nicht mehr durch eine Gewalttat vermittelt und durch den Schutzbereich des OEG erfasst (vgl. Landessozialgericht <LSG> Sachsen-Anhalt, Urteil vom 20.04.2017 - L 7 VE 3/14, juris Rn. 26).

 

Soweit unter Hinweis auf die Entscheidung des BSG vom 08.08.2001 (B 9 VG 1/00 R) vertreten wird, es komme nicht darauf an, ob das Sekundäropfer erkennt, dass es sich um eine Gewalttat handelt und zunächst vom Vorliegen eines Unglücksfalls ausgeht, da ausschlaggebend das objektive Vorliegen der Gewalttat sei (vgl. Rademacker in: Knickrehm, 1. Aufl. 2012, § 1 OEG Rn. 23), kann dem nicht gefolgt werden. Bei dem der genannten Entscheidung des BSG zugrunde liegenden Sachverhalt hatte die dortige Klägerin nach der Tat die Leiche ihrer Mutter aufgefunden, wobei der Täter ihr gegenüber angab, es habe sich um Selbstmord gehandelt. (Nur) für diesen Fall hat das BSG ausgeführt, dass es keine Rolle spiele, dass das Sekundäropfer nicht sogleich beim Anblick der Leiche des nahen Angehörigen sicher sein konnte, dass ein Gewaltverbrechen vorlag. Maßgeblich seien insoweit lediglich der Eintritt der Schockwirkung und das objektive Vorliegen einer Gewalttat (BSG, a.a.O., juris Rn. 19). Dies lässt sich jedoch nicht auf den hier vorliegenden Sachverhalt übertragen.

 

Soweit die Klägerin erstmals im Widerspruchsverfahren vorgetragen hat, bereits die Nachricht über das plötzliche Verschwinden ihrer Tochter und die Tatsache, dass sich diese über zwei Tage nicht gemeldet habe, sei für sie das Signal gewesen, dass ihre Tochter eines gewaltsamen Todes gestorben sei, ist dies im Hinblick auf die in der Verwaltungsakte des Beklagten dokumentierten Angaben der Klägerin im Ermittlungsverfahren nicht glaubhaft und widerspricht auch den Angaben gegenüber Dr. P. Die Klägerin hat ausweislich eines Aktenvermerks der Kreispolizeibehörde S-Kreis vom 04.06.2012 zum damaligen Zeitpunkt angegeben, dass sie nicht damit klarkomme, dass ihre Tochter keinen Kontakt zu ihr aufnehme. Sie befinde sich deswegen in psychologischer Betreuung. Sie könne sich sehr wohl vorstellen, dass ihre Tochter aufgrund der finanziellen Probleme und der Schwangerschaftsdepression weggelaufen sein könnte. Zweifel daran, dass ihre Tochter noch lebt, wurden von der Klägerin - erstmalig - in einer E-Mail an die Polizei vom 12.09.2012 geäußert. Gegenüber Dr. P hat die Klägerin zudem angegeben, sie habe letztlich noch bis zur Ausstrahlung der Sondersendung von „Aktenzeichen XY“ daran geglaubt, ihre Tochter würde leben.

 

Dass Dr. P gleichwohl einen GdS von 40 angenommen hat, ist - ungeachtet des Umstandes, dass der Senat an die diesen Ausführungen zugrundeliegenen rechtlichen Wertungen nicht gebunden ist - allein darauf zurückzuführen, dass er aufgrund des Aktenvermerks des Beklagten vom 29.01.2018 das Vorliegen einer anerkannten Schädigung in Form eines Schockschadens durch die Nachricht von der Tötung der Tochter unterstellt hat. Aus seinen Ausführungen ergibt sich jedoch eindeutig, dass es eine solche Nachricht gerade nicht gegeben hat und vielmehr eine chronische Schädigung vorliegt.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Anlass, die Revision nach § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen, besteht nicht.

 

 

 

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