Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 30. Juni 2022 wird zurückgewiesen.
Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren des einstweiligen Rechtsschutzes Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Bevollmächtigten bewilligt.
Außergerichtliche Kosten sind auch für das Beschwerdeverfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht zu erstatten.
Gründe:
Die Beschwerde des Antragstellers ist nicht begründet und war zurückzuweisen.
Für die von dem Antragsteller erstrebte Regelungsanordnung i.S.v. § 86b Absatz 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), gerichtet auf vorläufige Verpflichtung des Antragsgegners zur Gewährung weiterer Kosten der Unterkunft und Heizung (KdUH) bzw. Übernahme von Mietschulden für die im Rubrum bezeichnete Wohnung (vgl. Antragsschrift vom 17. Mai 2022 in der geänderten Fassung des Schriftsatzes vom 2. Juni 2022), fehlt es jedenfalls an einem Anordnungsgrund i.S. eines zur Vermeidung anders nicht abwendbarer Nachteile unaufschiebbar eiligen Regelungsbedürfnisses.
Artikel 19 Absatz 4 Grundgesetz (Grundgesetz) garantiert einen effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt (vgl BVerfGE 67, 43 <58>; 96, 27 <39>). Wirksam ist Rechtsschutz dabei nur, wenn er innerhalb angemessener Zeit erfolgt. Daher sind die Fachgerichte gehalten, vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, wenn Antragstellenden sonst eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in ihren Rechten droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, es sei denn, dass ausnahmsweise überwiegende, besonders gewichtige Gründe entgegenstehen (vgl. BVerfGE 93, 1 <13f>; 126, 1 <27f>). Die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes durch Art. 19 Absatz 4 GG gebietet eine Auslegung und Anwendung der die Einlegung von Rechtsbehelfen regelnden Vorschriften, die die Beschreitung des eröffneten Rechtswegs nicht in unzumutbarer, durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschweren (vgl. BVerfGE 77, 275 <284>; 78, 88 <99>). Je schwerer die sich aus der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes ergebenden Belastungen wiegen und je geringer die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie im Falle des Obsiegens in der Hauptsache rückgängig gemacht werden können, umso weniger darf das Interesse an einer vorläufigen Regelung oder Sicherung der geltend gemachten Rechtspositionen zurückgestellt werden (vgl. BVerfGE 35, 382 <402>). Die Fachgerichte dürfen den Anspruch auf gerichtliche Durchsetzung des materiellen Rechts nicht durch eine übermäßig strenge Handhabung verfahrensrechtlicher Vorschriften unzumutbar verkürzen (vgl. BVerfGE 84, 366 <369f>; 93, 1 <15>).
Diese Anforderungen gelten auch bei der Auslegung und Anwendung der Gesetzesbestimmungen über den sozialrechtlichen Eilrechtsschutz (vgl. Bundesverfassungsgericht <BVerfG>, Beschluss vom 6. August 2014 – 1 BvR 1453/12 –, juris Rn. 12; Beschluss vom 12. September 2016 – 1 BvR 1630/16 – , juris Rn. 9). Das bedeutet hinsichtlich des fachrechtlichen Erfordernisses der Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes, dass die Anforderungen an dessen Vorliegen nicht überspannt werden dürfen (vgl. BVerfG a.a.O.).
Nach den genannten Maßgaben ist hier ein Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht. Nach § 86b Absatz 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Abwendung wesentlicher Nachteile zulässig. Der Gesetzgeber hat auf eine beispielhafte Aufzählung der Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung verzichtet, denn das Gericht soll ausweislich der Gesetzgebungsmaterialien eine Einzelfallentscheidung treffen (vgl. BTDrucks. 14/5943, S 25). Damit begrenzt der Gesetzgeber den einstweiligen Rechtsschutz nicht auf die Beeinträchtigung bestimmter formaler Rechtspositionen, sondern verlangt eine wertende Betrachtung im konkreten Einzelfall. Entsprechend haben die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit in Verfahren des Eilrechtsschutzes zu den Kosten der Unterkunft auch unter Berücksichtigung der Zielsetzung des § 22 Absatz 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) zu prüfen, welche negativen Folgen im konkreten Einzelfall drohen. Relevante Nachteile können nicht nur in einer Wohnungs- beziehungsweise Obdachlosigkeit liegen. § 22 Absatz 1 Satz 1 SGB II gibt vielmehr die Übernahme der "angemessenen" Kosten vor und dient im Zusammenwirken mit anderen Leistungen dazu, über die Verhinderung der bloßen Obdachlosigkeit hinaus das Existenzminimum sicherzustellen (vgl. BVerfGE 125, 175 <228>). Dazu gehört es, den gewählten Wohnraum in einem bestehenden sozialen Umfeld nach Möglichkeit zu erhalten. Daher ist bei der Prüfung, ob ein Anordnungsgrund für den Eilrechtsschutz vorliegt, im Rahmen der wertenden Betrachtung zu berücksichtigen, welche negativen Folgen finanzieller, sozialer, gesundheitlicher oder sonstiger Art ein Verlust gerade der konkreten Wohnung für die Betroffenen hätte (vgl. zum Ganzen BVerfG, Beschluss vom 1. August 2017 – 1 BvR 1910/12 –, juris, Rn. 15,16).
Hier gilt indes, dass die begehrte Anordnung nicht (mehr) geeignet sein dürfte, die derzeit noch bewohnte Unterkunft (nachhaltig) zu sichern. Es liegt ausweislich der Auskunft der B B eG (bbg) bereits eine Räumungsklage (eingereicht am 18. Juli 2022) vor. Auch wenn im Hinblick auf die ausgesprochene fristlose Kündigung wegen Zahlungsrückständen (vgl. § 543 Absatz 2 Nr. 3b Bürgerliches Gesetzbuch – BGB –) noch eine Heilung wegen der erst seit Juli 2022 rechtshängigen Räumungsklage in Betracht käme (vgl. insoweit die Schonfrist des § 569 Absatz 3 Nr. 2 Satz 1 BGB), gilt dies nicht für die hilfsweise auf § 573 Absatz 1 und 2 Nr. 1 BGB (nicht unerhebliche schuldhafte Pflichtverletzung) gestützte ordentliche Kündigung der Vermieterin; das Nachholrecht des Mieters (Ausgleich des Mietrückstandes oder Verpflichtung zur Befriedigung durch eine öffentliche Stelle) ist auf andere Kündigungsgründe, insbesondere denjenigen der ordentlichen Kündigung, nicht übertragbar (ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, vgl. zuletzt Urteil vom 13. Oktober 2021 – VIII ZR 91/20 –, juris Rn. 29). Die hilfsweise mit Schreiben vom 15. März 2022 ausgesprochene ordentliche Kündigung dürfte auch wirksam sein, da sie auf hinreichende, im Kündigungsschreiben benannte Kündigungsgründe gestützt sein dürfte. Auch dürfte es nicht an einem Verschulden des Antragstellers hinsichtlich der Pflichtverletzung (Mietzinsrückstand) fehlen. Zwar kann mangelndes Verschulden beispielsweise bei einer schweren und langandauernden psychischen Erkrankung anzunehmen sein, die es dem Mieter unmöglich macht, sich um seine Belange, insbesondere die rechtzeitige Zahlung der Miete zu kümmern (vgl. Rolfs in Staudinger, BGB, Neubearbeitung 2021 <Updatestand 22. Februar 2022>, § 573 Rn. 41 m.w.N.). Auch liegen hier Anhaltspunkte für das Bestehen einer psychischen Erkrankung vor (vgl. das ärztliche Attest von Dr. M vom 2. Mai 2022 <rezidivierende depressive Episode, ADHS, Alkoholabusus> sowie das im Rahmen des laufenden Betreuungsverfahrens erstellte psychiatrische Gutachten von Dr. Fichtel vom 2. Juni 2022 <ADHS, rezidivierende depressive Episode>). Dass diese indes einen Schweregrad erreicht hätte, die zur Schuldunfähigkeit geführt hätte (vgl. LG Kassel, Urteil vom 26. Januar 2017 – 1 S 170/15 –, juris im Fall eines suizidgefährdeten Mieters), ist nicht ersichtlich. Schon die – jedenfalls zum Zeitpunkt der Erstellung des Attests durch Dr. M am 2. Mai 2022 – fehlende medikamentöse Behandlung der psychischen Erkrankung des Antragstellers („zuletzt wurde er 2016 medikamentös behandelt“) und die niedrige Behandlungsfrequenz (alle vier bis sechs Wochen) sowie das Ergebnis der psychiatrischen Begutachtung durch Dr. F sprechen gegen das Vorliegen einer schwerwiegenden psychischen Erkrankung. Zweifel an der Geschäftsfähigkeit des Antragstellers hatte Dr. F nicht. Auch konnte er keinen Hinweis für das Vorliegen von mnestischen Defiziten beim Antragsteller erkennen, dessen Denken im Rahmen der Begutachtungssituation „geordnet“ und „weder verlangsamt noch beschleunigt“ war. Dass die Beachtung der mietvertraglichen Zahlungspflichten durch die Depression des Antragstellers ausgeschlossen gewesen wäre, ist nach alledem nicht ersichtlich (vgl. AG Schöneberg, Urteil vom 19. April 2017 – 7 C 186/16 –, juris Rn. 41: „Insbesondere führt eine Depression nicht zur Schuldunfähigkeit. Die Beachtung der mietvertraglichen Zahlungspflichten ist auch keine Leistung, die besondere Fitness voraussetzt“). In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass der Antragsteller jedenfalls in der Lage war, im September 2021 einen Untermietvertrag abzuschließen, der bis März 2022 bestand, und den diesbezüglich fällig werdenden Untermietzuschlag an seine Vermieterin zu zahlen. Soweit der Antragsteller im vorliegenden Verfahren vortragen hat, er schaffe es wegen seiner Krankheiten nicht, „sich um den Papierkram zu kümmern“ (vgl. seine Eidesstattliche Versicherung vom 23. Mai 2022), ist ihm entgegenzuhalten, dass er es in der Hand hatte, rechtzeitig einen Dritten mit der Besorgung seiner rechtlichen Angelegenheiten zu betrauen. Dass er dies unterließ, obwohl ihm bereits im Juli 2020 vom Antragsgegner ein Darlehen wegen Mietschulden gewährt worden war, geht insoweit zu seinen Lasten (vgl. Rolfs in Staudinger, BGB, a.a.O.).
Die vom Antragsteller begehrte Anordnung dürfte zudem auch deshalb nicht (mehr) geeignet sein, die derzeit noch bewohnte Unterkunft (nachhaltig) zu sichern, weil seine Vermieterin nicht mehr bereit ist, das Mietverhältnis fortzusetzen (vgl. insoweit den bereits von der Vorinstanz zitierten Beschluss des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 27. Februar 2020 – L 3 AS 520/20 ER-B –, juris Rn. 22), und zwar auch nicht für den Fall, dass die Mietschulden vom Antragsgegner übernommen und die laufende Miete vom Antragsgegner direkt an sie gezahlt wird (vgl. die diesbezüglichen Erklärungen der bbg gegenüber dem Prozessbevollmächtigten des Antragstellers im Schreiben vom 20. Juli 2022 und gegenüber dem Senat im Schreiben vom 21. Juli 2022). Zu beachten ist überdies, dass der Antragsgegner bereits in der Vergangenheit erhebliche Mietschulden (2.055,62 Euro) darlehensweise übernommen hat. Hinzu kommt, dass die Wohnung des Antragstellers mit einem Mietzins i.H.v. 556,- Euro selbst unter Rückgriff auf die Werte nach dem Wohngeldgesetz plus Zuschlag von 10 % (BSG, Urteil vom 20. August 2009 - B 14 AS 65/08 R = SozR 4-4200 § 22 Nr. 26 Rn. 20 f; BSG, Urteil vom 3. September 2020 - B 14 AS 34/19 R = SozR 4-4200 § 22 Nr. 110 Rn. 38 f) unangemessen teuer ist; eine Sicherung i.S.v. § 22 Absatz 1 SGB II offensichtlich unangemessener (vgl. hierzu auch die Tabellenwerte nach dem Wohngeldgesetz) Kosten der Unterkunft und Heizung fordern indes weder das Gesetz noch Verfassungsrecht (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 2017 – 1 BvR 617/14 –, juris Rn. 19).
Eine Anordnung zugunsten des Antragstellers kann angesichts der laufenden Räumungsklage auch nicht mehr dazu führen, dass er des Risikos, die Kosten des zivilrechtlichen Rechtsstreits zu tragen, enthoben wäre (vgl. hierzu BVerfG im o.a. Beschluss vom 1. August 2017 – 1 BvR 1910/12 –, juris Rn. 17).
Hinsichtlich der Gefahr einer Wohnungs- oder gar Obdachlosigkeit des Antragstellers ist darauf hinzuweisen, dass angesichts der erst seit kurzem anhängigen Räumungsklage eine Räumung der derzeitigen Unterkunft in absehbarer Zeit nicht zu erwarten ist. Für die Bewältigung eines Umzuges käme im Übrigen die Zusicherung der Übernahme von Umzugskosten seitens des Antragsgegners in Betracht. Auch bestünde für den Antragsteller die Möglichkeit psychosozialer Betreuung (vgl. § 16a Nr. 3 SGB II). Zudem dürfte der Antragsteller angesichts der zu erwartenden Anordnung einer Betreuung auf die Hilfe seiner Betreuerin / seines Betreuers bei einer Wohnungssuche und einem Vertragsabschluss zurückgreifen können. Das bloße Aufrechterhalten des sozialen Umfeldes oder eine affektive Bindung stehen der Zumutbarkeit eines Umzugs grundsätzlich nicht entgegen (vgl. Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 19. Februar 2009 – B 4 AS 30/08 R –, juris Rn. 33f; Urteil vom 13. April 2011 – B 14 AS 106/10 R –, juris Rn. 38).
Dem – bedürftigen – Antragsteller war im Hinblick auf die vom SG und vom Beschwerdegericht noch durchgeführten Amtsermittlungen PKH unter Beiordnung seines Bevollmächtigten zu bewilligen (vgl. § 73a Absatz 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 114 Zvivilprozessordnung <ZPO>).
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das BSG angefochten werden (§ 177 SGG).