L 18 AS 293/21

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
18.
1. Instanz
SG Frankfurt (Oder) (BRB)
Aktenzeichen
S 17 AS 970/20 WA
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 18 AS 293/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Bemerkung

weitere Verfahren für die entsprechendes gilt: 

S 17 AS 971/20 WA und S 17 AS 972/20 WA 

 

Auf die Berufungen der Kläger werden die Gerichtsbescheide des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 5. Februar und 8. Februar 2021 aufgehoben.

Die Wiederaufnahmeklagen werden als unzulässig verworfen.

 

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

 

 

Die Kläger begehren die Wiederaufnahme von Verfahren, die bei dem Sozialgericht (SG) Frankfurt (Oder) geführt worden sind (S 17 AS 2410/11, S 17 AS 2412/11 und S 17 AS 2413/11).

 

Die Kläger (bzw im Verfahren S 17 AS 2412/17 nur der Kläger) hatten sich in den genannten Verfahren gegen die endgültige Festsetzung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) durch den Beklagten gewandt. Das SG hat die Klagen nach mündlichen Verhandlungen – auf die entsprechenden Sitzungsprotokolle wird Bezug genommen  als „unzulässig verworfen“ bzw als „unbegründet“ abgewiesen (Urteile vom 3. November 2017). Der erkennende Senat hat die hiergegen eingelegten Berufungen mit Beschlüssen vom 4. Juni 2018 (L 18 AS 2616/17 und L 18 AS 2615/17) und Urteil vom 23. Januar 2019 (L 18 AS 2617/17) unter Berichtigung jeweils des SG-Tenors zurückgewiesen. Anhörungsrügen, in denen die Kläger ua darauf hinwiesen, es sei zu untersuchen, ob das SG Frankfurt (Oder) seine Entscheidung „in der gesetzlichen Zusammensetzung“, insbesondere mit den richtigen ehrenamtlichen Richtern, getroffen habe, blieben erfolglos. Entsprechende Zweifel äußerten die Kläger bereits in einem Ablehnungsverfahren gegen den erstinstanzlichen Kammervorsitzenden (vgl Schreiben vom 12. März 2018). Akteneinsicht in die gerichtlichen Verfahrensakten nahm der Kläger am 29. September 2020.

 

Mit ihren am 22. Oktober 2020 erhobenen Wiederaufnahmeklagen machen die Kläger die Nichtigkeit der SG-Urteile vom 3. November 2017 geltend. Die Kammer des SG sei nicht ordnungsgemäß besetzt gewesen. Die Beteiligten seien zur Ladung einer ehrenamtlichen Richterin belogen worden. Die Entscheidungen basierten auf Rechtsbeugung. Die Ladung der zunächst zur Verhandlung berufenen ehrenamtlichen Richterin befinde sich nicht in den Akten. Ein Ordnungsgeldverfahren habe offenbar nicht stattgefunden. Die erste Verhandlung habe zudem mit Verspätung begonnen. Die ursprünglich geladene ehrenamtliche Richterin hätte dann zur zweiten Verhandlung erscheinen können. Offenbar sei die ehrenamtliche Richterin jedoch vereinbarungsgemäß nicht zum Termin erschienen und der Beginn des Verhandlungstermins sei vorsätzlich verzögert worden. Die Erklärung hierfür liege wohl in einer verdeckten Observation der Kläger, an der der Beklagte und das Gericht beteiligt seien.

 

Das SG hat die Nichtigkeitsklagen mit Gerichtsbescheiden vom 5. Februar 2021 (S 17 AS 971/20 WA und S 17 AS 972/20 WA) bzw 8. Februar 2021 (S 17 AS 970/20 WA) abgewiesen bzw „verworfen“. Diese seien bereits unzulässig.

 

Mit den Berufungen, die der Senat zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung unter dem Aktenzeichen L 18 AS 293/21 verbunden hat (Beschluss vom 27. April 2022), verfolgen die Kläger ihr Begehren weiter.

 

Sie beantragen nach ihrem Vorbringen,

 

die Gerichtsbescheide des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 5. Februar 2021 und 8. Februar 2021 aufzuheben und die Ausgangsverfahren wieder aufzunehmen.

 

Der Beklagte beantragt,

 

          die Berufungen zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

 

Die Berufungen sind begründet, soweit die Kläger die Aufhebung der angefochtenen Entscheidungen des SG begehren. Denn dieses war für die Entscheidung über die Wiederaufnahme schon nicht zuständig. Zuständig für eine Wiederaufnahmeklage ist dasjenige Gericht, das zuletzt in der Sache entschieden hat (vgl Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Sozialgerichtsgesetz <SGG> 13. Aufl 2020, Rn 8 zu § 179 mwN). Das war hier das Landessozialgericht, das mit – die Berufungen zurückweisenden  Beschlüssen vom 4. Juni 2018 und Urteil vom 23. Januar 2019 sachlich entschieden hat.

 

Die Wiederaufnahmeklagen sind unzulässig. Für die Klägerin folgt dies in Bezug auf das Verfahren S 17 AS 970/20 WA bereits daraus, dass sie nicht Beteiligte des dortigen Ausgangsverfahrens war. Die Wiederaufnahmeklagen sind aber auch im Übrigen unzulässig.

 

Nach § 179 Abs. 1 SGG kann ein rechtskräftig beendetes Verfahren unter entsprechender Anwendung der Vorschriften der Zivilprozessordnung (ZPO) wiederaufgenommen werden. Nach § 578 Abs. 1 ZPO kann die Wiederaufnahme durch Nichtigkeitsklage (§ 579 ZPO) oder durch Restitutionsklage (§ 580 ZPO) erfolgen. Die Wiederaufnahmegründe sind im Gesetz abschließend aufgezählt. Eine Wiederaufnahmeklage zieht unter Umständen ein dreistufiges Verfahren nach sich. Zunächst haben die Gerichte zu prüfen, ob die Wiederaufnahmeklage zulässig ist. Bejahendenfalls schließt sich die Prüfung ihrer Begründetheit an, wobei es darum geht, ob tatsächlich ein Wiederaufnahmegrund vorliegt; ist das der Fall, hat das Gericht das rechtskräftig abgeschlossene Verfahren wieder aufzunehmen.

 

Im vorliegenden Fall sind die Wiederaufnahmeklagen bereits unzulässig, weil sie nicht statthaft sind. Nach § 179 Abs. 1 SGG iVm § 589 Abs. 1 Satz 1 ZPO gehört zur Zulässigkeitsprüfung die Statthaftigkeit der Wiederaufnahmeklage. Statthaft ist eine Wiederaufnahmeklage nur dann, wenn ein Wiederaufnahmegrund schlüssig behauptet wird (vgl zB Bundessozialgericht <BSG>, Beschluss vom 23. April 2014 – B 14 AS 368/13 B – juris – Rn 9 ). Eine Nichtigkeitsklage gemäß §§ 179 SGG, 579 ZPO findet statt, wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war (Abs. 1 Nr 1), ein Richter bei der Entscheidung mitgewirkt hat, der von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen war (Abs. 1 Nr 2), wenn bei der Entscheidung ein Richter mitgewirkt hat, obgleich er wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt und das Ablehnungsgesuch für begründet erklärt war (Abs. 1 Nr 3) oder wenn eine Partei in dem Verfahren nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten war, sofern sie nicht die Prozessführung ausdrücklich oder stillschweigend genehmigt hat (Abs. 1 Nr 4).

 

Die Kläger rügen die nicht vorschriftsmäßige Besetzung der Kammer des SG in den Ausgangsverfahren in Bezug auf die Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter. § 179 Abs. 1 SGG iVm § 579 Abs. 2 SGG bestimmt insoweit, dass (auch) im Fall des § 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO die (Nichtigkeits-) Klage nicht stattfindet, wenn die Nichtigkeit mittels eines Rechtsmittels geltend gemacht werden konnte. Insoweit ist höchstrichterlich geklärt, dass eine Wiederaufnahme des Verfahrens schon dann nicht statthaft ist, wenn für den Betroffenen die Möglichkeit bestand, den Nichtigkeitsgrund nach § 579 Abs. 1 Nr. 1 in einem Rechtsmittelverfahren geltend zu machen. Ob der Betroffene von dieser Möglichkeit keinen oder erfolglos Gebrauch macht, ist für den Verbrauch des Nichtigkeitsgrundes unerheblich. Ausschlaggebend ist, dass der Betroffene die nach seiner Auffassung bestehende fehlerhafte Besetzung des Gerichts vor einem Richter geltend machen kann, der von dieser Rüge selbst nicht betroffen ist. Da dies durch eine Entscheidung in einem Rechtsmittelverfahren gewährleistet ist, bedarf es auch unter dem Blickwinkel eines effektiven Rechtsschutzes nicht einer nochmaligen - die knappen Ressourcen der Justiz unnötig beanspruchenden - Überprüfung in einem nachfolgenden Wiederaufnahmeverfahren (vgl zB Bundesgerichtshof, Beschluss vom 27. September 2007 – V ZB 196/06 – juris - Rn 5). Den Klägern blieb es unbenommen, die aus ihrer Sicht nicht vorschriftsmäßige Besetzung der SG-Kammer, für die im Übrigen Anhaltspunkte nicht ersichtlich sind, in den Berufungsverfahren gegen die Ausgangsentscheidungen vor dem erkennenden Senat zu rügen, denn alle Argumente, die sie im Rahmen der Nichtigkeitsklage vortragen, waren auch zum damaligen Zeitpunkt bekannt (vgl den ausdrücklichen Hinweis des SG-Kammervorsitzenden in den mündlichen Verhandlungen vom 3. November 2017). Die Akteneinsicht vom September 2020 konnte den Klägern hierzu keine weiteren Erkenntnisse bringen, da sich zur ordnungsgemäßen Besetzung des Gerichts und insbesondere der Ladung der ehrenamtlichen Richter keine weiteren Erkenntnisse in den Gerichtsakten finden. Zum anderen wäre es den Klägern auch durchaus möglich gewesen, bereits in den Berufungsverfahren Einsicht in die Gerichtsakte zu nehmen. Ein solches Akteneinsichtsgesuch findet sich jedoch weder in den Berufungsschriften noch haben der Kläger im weiteren Berufungsverfahren einen solchen Antrag gestellt. Erst im Rahmen der eingelegten Anhörungsrügen haben die Kläger schließlich erklärt, dass zu untersuchen sei, ob das SG seine Entscheidung in der gesetzlichen Zusammensetzung getroffen habe.

 

Im Übrigen ist darauf zu verweisen, dass ein Nichtigkeitsgrund nicht schon dann vorliegt, wenn die Besetzung auf einer irrigen Gesetzesauslegung oder einer irrtümlichen Abweichung von den Festsetzungen des Geschäftsverteilungsplanes beruht, sondern es sich vielmehr um eine klar zutage liegende Gesetzesverletzung handeln muss, die auf einer nicht mehr hinnehmbaren Rechtsansicht und damit auf objektiver Willkür beruht (Greger in: Zöller, Zivilprozessordnung, 32. Aufl. 2018, § 579 ZPO, Rn. 2 mwN; Bundesfinanzhof <BFH>, Urteil vom 29. Januar 2015 – I K 1/14 – juris- Rn 8 mwN). Eine nicht vorschriftsmäßige Besetzung des erkennenden Gerichts iSv § 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO liegt nur dann vor, wenn durch eine die Besetzung des Gerichts betreffende Maßnahme zugleich die Garantie des gesetzlichen Richters gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes (GG) verletzt ist (vgl BFH, Beschluss vom 18. Juni 2008 – I S 13/07 (PKH) – juris – Rn 8 mwN). Maßnahmen und Entscheidungen eines Gerichts verletzen nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) nur dann Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, wenn sie willkürlich sind. Von Willkür kann nur dann die Rede sein, wenn die Entscheidung eines Gerichts sich bei der Auslegung und Anwendung einer Zuständigkeitsnorm so weit von dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des gesetzlichen Richters entfernt hat, dass sie nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist (vgl etwa BVerfG, Beschlüsse vom 30. Juni 1970  - 2 BvR 48/70BVerfGE 29, 45, 48 f.; vom 3. November 1992  - 1 BvR 137/92 = BVerfGE 87, 282, 284 f.; BFH, Beschluss vom 3. Mai 2006 - I S 2/06 - juris). Hierfür sind keinerlei Anhaltspunkte ersichtlich und auch von den Klägern nicht plausibel benannt worden. Aus den Akten ist nichts dafür zu ersehen, dass die SG-Kammer bewusst vom Geschäftsverteilungsplan des SG abgewichen ist. Aus dem pauschalen und letztlich (nur) spekulativen Vorbringen der Kläger, das sich letztlich in unhaltbaren Behauptungen erschöpft, ergibt sich nichts anderes. Die Hinzuziehung eines ehrenamtlichen Richters anstelle einer verhinderten ehrenamtlichen Richterin war auch in objektiver Hinsicht nicht offensichtlich unhaltbar.

 

Ebenso wenig sind die Voraussetzungen einer Restitutionsklage gemäß § 580 Nr. 1 bis Nr. 8 ZPO gegeben. Auch insoweit lässt sich dem Vortrag der Kläger kein schlüssiges Vorbringen entnehmen (vgl zu diesen Anforderungen zB BFH, Beschluss vom 9. März 2004 – X K 8/03 – juris).

 

Die Wiederaufnahmeklagen sind zudem auch deshalb unzulässig, weil sie nicht binnen der einmonatigen Notfrist nach § 586 Abs. 1 ZPO erhoben wurden. Diese Frist beginnt nach Abs. 2 dieser Vorschrift mit dem Tag, an dem der Beteiligte von dem Anfechtungsgrund Kenntnis erhält, jedoch nicht vor eingetretener Rechtskraft des Urteils. Danach waren die erst am 22. Oktober 2020 erhobenen Wiederaufnahmeklagen offensichtlich verspätet.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.

Rechtskraft
Aus
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