S 19 P 132/20

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG Nürnberg (FSB)
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
19
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 19 P 132/20
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 4 P 56/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Gerichtsbescheid

  I. Die Klage wird abgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

T a t b e s t a n d :

Zwischen den Beteiligten ist die Verpflichtung der Beklagten zur Gewährung von Pflegegeld nach dem Pflegegrad 3 im Streit.

Der 1951 geborene Kläger ist von Geburt an geistig behindert. Er lebt seit dem 27.06.1998 in der Lebensgemeinschaft e.V.  M. und bewohnt dort ein Einzelzimmer im Haus "S.". Die Dorfgemeinschaft  M. steht erwachsenen Menschen mit einer geistigen oder Mehrfachbehinderung im Sinne des § 53 SGB XII (a.F.) aus dem ganzen Bundesgebiet offen und bietet diesen neben dem stationären Wohnen einen zweiten Lebensbereich an (Werkstatt für behinderte Menschen mit Berufsbildungsbereich oder Angebot zur Tagesgestaltung laut Wohn- und Betreuungsvertrag vom 30.06.2010). Die Dorfgemeinschaft  M. beschreibt sich in dem Vertrag selbst als Einrichtung der "Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung", also Menschen, die ein im SGB IX oder SGB XII umschriebenes Recht auf Begleitung, Assistenz, Hilfe, Förderung oder Betreuung haben. Als solche unterliege sie den Vorschriften des Gesetzes zur Regelung der Pflege-, Betreuungs- und Wohnqualität bei geistiger Behinderung oder im Alter und den daraus abgeleiteten Verordnungen. Darüber hinaus sei sie jedoch anderes und mehr als ein Heim traditioneller Art (vgl. § 1 der ausführlichen Beschreibung des Vertrages). Die Lebensgemeinschaft e.V. hat mit dem zuständigen Träger der Sozialhilfe, dem Bezirk M., Leistungs-, Vergütungs- und Prüfungsvereinbarungen abgeschlossen. Diese Vereinbarungen und der "Bayerische Rahmenvertrag für teilstationäre und stationäre Einrichtungen" vom 20.12.2004 bilden die Grundlage des mit dem Kläger geschlossenen Vertrages. Die vorvertraglichen Informationen gemäß § 3 WBVG sind gleichfalls Vertragsgrundlage und wurden dem Kläger sowie dessen Vertreter am 20.05.2010 ausgehändigt (vgl. § 2 der ausführlichen Beschreibung des Vertrages). Die Leistungen der Dorfgemeinschaft  M. orientieren sich an der individuellen Lebenssituation und dem jeweiligen Bedarf des Klägers und an der Konzeption der Dorfgemeinschaft. Sie umfassen insbesondere das Zurverfügungstellen von Wohnraum und Verpflegung, Angebote und Maßnahmen der Begleitung, Assistenz, Hilfe, Förderung oder Pflege sowie die Bereitstellung der betriebsnotwendigen Anlagen (vgl. § 3 der ausführlichen Beschreibung des Vertrages). Zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses ergab die Hilfebedarfsermittlung für Menschen mit Behinderung eine Einstufung des Klägers in die Hilfebedarfsgruppe 3.

Am 25.10.2019 beantragte der Vertreter des Klägers bei der Beklagten die Zahlung des Behindertenpflegegeldes gemäß § 43a SGB XI sowie eines anteiligen Pflegegeldes. Zur Begründung führte der Vertreter aus, dass der Kläger Pflegegrad 3 habe, in einer Behinderteneinrichtung (Lebensgemeinschaft  M. in F.) lebe und Selbstzahler sei, also keine Eingliederungsbeihilfe oder ähnliche Transferleistungen erhalte. Somit könne die Pflegekasse keine Leistungen gemäß § 43a Satz 1 übernehmen. Dem Kläger stehe somit das volle (hier hälftige) Pflegegeld nach dem Pflegegrad 3 (also 50% von 545 € monatlich) zu. Er stelle hiermit also den Antrag, dem Kläger ab Januar 2020 das hälftige Pflegegeld gemäß Pflegegrad 3 für Beihilfeempfänger in Höhe von 272,50 € zu zahlen. Dem Antrag beigefügt war eine Bestätigung der Lebensgemeinschaft e.V.  M. vom 24.05.2019, ausweislich derer sich die bisherige Bezeichnung "stationäre Wohnform", in der der Kläger lebe und begleitet werde, im Zuge der Veränderungen des Bundesteilhabegesetzes im SGB IX ab dem 01.01.2020 in eine "gesonderte Wohnform" ändere. Darüber hinaus übersandte der Vertreter der Beklagten einen Bescheid des Landschaftsverbandes W. vom 17.03.2020, mit dem dieser einen Antrag des Klägers auf Gewährung von Leistungen der Eingliederungshilfe abgelehnte hatte. Zur Begründung hatte der Landschaftsverband W. ausgeführt, dass für den Kläger grundsätzlich ein Anspruch auf Eingliederungshilfe wegen seiner Behinderung gegeben sei. Allerdings besitze er Vermögen, mit dem er weit über der Freigrenze von 57.330,00 € liege. Nach den Angaben seines Betreuers besitze er ein Mehrfamilienhaus mit einem geschätzten Verkehrswert von 615.000,00 €. Das Vermögen sei vor Inanspruchnahme von Leistungen der Eingliederungshilfe einzusetzen. Zudem zahle der Kläger die Kosten des Wohnheimes aus seinen Mieteinnahmen und seiner Rente weiterhin selbst. Er sei somit nicht wirtschaftlich sozialhilfebedürftig.

Mit Bescheid vom 20.05.2020 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Sie beteilige sich aber weiterhin an den Aufwendungen des Klägers mit einem monatlichen Betrag in Höhe von 133,00 € (Beihilfeanspruch) nach § 43a SGB XI. Eine Zahlung des hälftigen Pflegegeldes (Beihilfeanspruch) sei nicht möglich.

Zur Begründung des hiergegen am 30.05.2020 erhobenen Widerspruchs trug der Vertreter des Klägers vor, dass der Kläger die erforderlichen Pflegemaßnahmen in geeigneter Weise selbst sichergestellt habe, indem er als Wohnform das Leben auf dem  M. gewählt habe. Er zahle diese Sicherstellung auch aus eigener Tasche. Wenn dem Kläger die Gewährung des Pflegegeldes gemäß § 37 SGB XI verwehrt werde, weil seine Wahl der Wohnform auf eine Einrichtung der Hilfe für behinderte Menschen gefallen sei, werde er auf Grund seiner geistigen Behinderung gegenüber anderen pflegebedürftigen Personen, die nicht geistig behinderten seien, benachteiligt. Die Wahl der Wohnform dürfe keinen Einfluss auf die Gewährung des Pflegegeldes haben.  

Mit Widerspruchsbescheid vom 20.10.2020 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.

Mit der am 23.11.2020 zum Sozialgericht Nürnberg erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren unter Hinweis darauf weiter, dass das Pflegegeld nach § 43a SGB XI nur dann entfalle, wenn die behinderten Menschen "Leistungen der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen nach Teil 2 des SGB IX erhielten". Tatsächlich erhalte er solche Leistungen nicht, da dieser Anspruch wegen seines eigenen Einkommens und Vermögens ausgeschlossen sei.

Der Bevollmächtigte des Klägers beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 20.05.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.10.2020 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Pflegegeld nach dem Pflegegrad 3 anstelle der Beihilfe gemäß § 43a SGB XI zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

den Bescheid vom 20.05.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.10.2020 zu bestätigen und die Klage als unbegründet abzuweisen.

Zur weiteren Sachaufklärung hat das Gericht die mit der Lebensgemeinschaft e.V.  M. getroffenen Vereinbarungen angefordert und diese um Stellungnahme gebeten, ob sie sich selbst als stationäre Einrichtung im Sinne von § 71 Abs. 4 Nr. 1 SGB IX oder als Räumlichkeiten im Sinne von § 71 Abs. 4 Nr. 3 SGB IX einstufe. Hinsichtlich der näheren Einzelheiten der Vereinbarungen, der Stellungnahme der Lebensgemeinschaft e.V.  M. sowie der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsalte sowie die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.     

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Der vorliegende Rechtsstreit kann durch Gerichtsbescheid entschieden werden. Die Sache weist keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art auf, der Sachverhalt ist geklärt. Die Beteiligten wurden hierzu gehört.

Die Klage ist zulässig, aber nicht begründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 20.05.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.10.2020 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Die Beklagte gewährt dem Kläger zu Recht Leistungen nach § 43a SGB XI; ein Anspruch auf die Gewährung von Pflegegeld nach dem Pflegegrad 3 steht dem Kläger nicht zu.

Gemäß § 43a SGB XI übernimmt die Pflegekasse für Pflegebedürftige der Pflegegrade 2 bis 5 in einer vollstationären Einrichtung im Sinne des § 71 Abs. 4 Nr. 1, in der die Teilhabe am Arbeitsleben, an Bildung oder die soziale Teilhabe, die schulische Ausbildung oder die Erziehung von Menschen mit Behinderungen im Vordergrund des Einrichtungszwecks stehen, zur Abgeltung der in § 43 Abs. 2 genannten Aufwendungen 15 Prozent der nach Teil 2 Kapitel 8 des Neunten Buches vereinbarten Vergütung (Satz 1). Die Aufwendungen der Pflegekasse dürfen im Einzelfall je Kalendermonat 266 Euro nicht überschreiten (Satz 2). Die Sätze 1 und 2 gelten auch für Pflegebedürftige der Pflegegrade 2 bis 5 in Räumlichkeiten im Sinne des § 71 Abs. 4 Nr. 3, die Leistungen der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen nach Teil 2 des Neunten Buches erhalten (Satz 3).

Die Kammer teilt die Auffassung der Beklagten, dass der pflegebedürftige Kläger in Räumlichkeiten im Sinne des § 71 Abs. 4 Nr. 3 SGB XI lebt. Diese Regelung bestimmt negativ, dass keine Pflegeeinrichtungen im Sinne des Absatzes 2 u.a. Räumlichkeiten sind

a) in denen der Zweck des Wohnens von Menschen mit Behinderungen und der Erbringung von Leistungen der Eingliederungshilfe für diese im Vordergrund steht,

b) auf deren Überlassung das Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz Anwendung findet und

c) in denen der Umfang der Gesamtversorgung der dort wohnenden Menschen mit Behinderungen durch Leistungserbringer regelmäßig einen Umfang erreicht, der weitgehend der Versorgung in einer vollstationären Einrichtung entspricht; bei einer Versorgung der Menschen mit Behinderungen sowohl in Räumlichkeiten im Sinne der Buchstaben a und b als auch in Einrichtungen im Sinne der Nummer 1 ist eine Gesamtbetrachtung anzustellen, ob der Umfang der Versorgung durch Leistungserbringer weitgehend der Versorgung in einer vollstationären Einrichtung entspricht.


Die Dorfgemeinschaft  M. steht erwachsenen Menschen mit einer geistigen oder Mehrfachbehinderung im Sinne des § 53 SGB XII (a.F.) aus dem ganzen Bundesgebiet offen und bietet diesen neben dem stationären Wohnen einen zweiten Lebensbereich an (Werkstatt für behinderte Menschen mit Berufsbildungsbereich oder Angebot zur Tagesgestaltung laut Wohn- und Betreuungsvertrag vom 30.06.2010). Sie beschreibt sich selbst als Einrichtung der "Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung", also Menschen, die ein im SGB IX oder SGB XII umschriebenes Recht auf Begleitung, Assistenz, Hilfe, Förderung oder Betreuung haben. Für die Kammer liegt damit auf der Hand, dass der Zweck des Wohnens von Menschen mit Behinderungen und der Erbringung von Leistungen der Eingliederungshilfe für diese im Vordergrund der Lebensgemeinschaft e.V.  M. steht (vgl. § 71 Abs. 4 Nr. 3a SGB XI). Dies gilt umso mehr, als auch die dem Kläger vertraglich geschuldeten Leistungen das Zurverfügungstellen von Wohnraum und Verpflegung, Angebote und Maßnahmen der Begleitung, Assistenz, Hilfe, Förderung oder Pflege sowie die Bereitstellung der betriebsnotwendigen Anlagen (vgl. § 3 der ausführlichen Beschreibung des Vertrages) umfassen.


Der Anwendungsbereich des Wohn- und Betreuungsvertragsgesetzes ist gemäß § 1 WBVG offensichtlich eröffnet (vgl. § 71 Abs. 4 Nr. 3b SGB XI).


Die Merkmale, nach welchen der Umfang der Gesamtversorgung der in den Räumlichkeiten wohnenden Menschen mit Behinderungen durch Leistungserbringer regelmäßig einen Umfang erreicht, der weitgehend der Versorgung in einer vollstationären Einrichtung entspricht werden ebenso wie die Kriterien zur Prüfung dieser Merkmale durch die Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes nach § 71 Abs. 5 Satz 1 SGB XI wie folgt näher beschrieben (vgl. § § 71 Abs. 4 Nr. 3c SGB XI):


"(4) Merkmale für einen Umfang einer Gesamtversorgung entsprechend einer vollstationären Einrichtung im Bereich der Unterkunft und Verpflegung sind:

* Überlassung von Wohnraum i. S. d. § 42a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB XII an Menschen mit Behinderungen i. S. d. § 99 SGB IX. D. h. die Leistungsberechtigten leben nicht in einer Wohnung, weil ihnen von dem Leistungserbringer ein persönlicher Wohnraum allein oder zu zweit zur alleinigen Nutzung und zusätzliche Räume zur gemeinsamen Nutzung mit weiteren Personen überlassen worden sind. Eine Wohnung i. S. d. § 42a Abs. 2 Satz 2 SGB XII ist hingegen die Zusammenfassung mehrerer Räume, die von anderen Wohnungen oder Wohnräumen baulich getrennt sind und die in ihrer Gesamtheit alle für die Führung eines Haushalts notwendigen Einrichtungen, Ausstattungen und Räumlichkeiten umfassen.
* Versorgung mit Wasser, Energie sowie Entsorgung von Abwasser und Abfall
* Reinigung des Wohnraums und der Gemeinschaftsräume (Sichtreinigung, Unterhaltsreinigung, Grundreinigung und der übrigen Räume entsprechend Hygiene-/ Reinigungsplan und darüber hinaus im Bedarfsfall
* Wartung und Unterhaltung von Gebäuden, Einrichtung und Ausstattung, technischen Anlagen und Außenanlagen
* Bereitstellung, Instandhaltung und Reinigung der Haushalts- und Bettwäsche sowie das maschinelle Waschen und ggf. kleine Instandsetzungen der persönlichen Wäsche und Kleidung. Das Wechseln der Wäsche erfolgt nach Bedarf. Beim Einräumen der Wäsche wird ggf. Unterstützung geleistet.
* Zubereitung und bedarfsgerechte zeitlich individuelle Bereitstellung von Speisen und das Vorhalten von Getränken in erreichbarer Nähe für die Bewohner. Maßgeblich ist hierbei die Sicherstellung, dass Speisen und Getränke entsprechend verfügbar sind.

Über die Art und Nutzung der an die Leistungsberechtigten überlassenen Räumlichkeiten können die zwischen den Leistungserbringern und dem Leistungsberechtigten geschlossenen Verträge über die Überlassung von Wohnraum sowie ggf. die Leistungsbescheide des Trägers der Sozialhilfe über Leistungen nach § 42a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB XII Anhaltspunkte geben.

(5) Merkmale für einen Umfang einer Gesamtversorgung entsprechend einer vollstationären Einrichtung im Bereich räumliche und sächliche Ausstattung sind: Der Leistungserbringer stellt die räumliche und sächliche Ausstattung sicher. Dies umfasst die Bereitstellung, Instandhaltung und Instandsetzung von Wohnraum, Gemeinschafts- und Funktionsräumen einschließlich Inventar. Unbeachtlich ist, dass Leistungsberechtigte eigenes Mobiliar in die Räumlichkeiten einbringen.

(6) Die Unterbringung und Versorgung der in den Räumlichkeiten wohnenden Menschen mit Behinderungen erfolgt regelmäßig, d. h. an mindestens 5 Tagen in der Woche und grundsätzlich ganztägig 24 Stunden durch Leistungserbringer. Die Menschen mit Behinderungen werden zudem unter ständiger Verantwortung geeigneten Personals der Leistungserbringer unterstützt.

(7) Unerheblich ist, ob die in den Einrichtungen wohnenden Menschen mit Behinderungen die Leistungen tatsächlich vollumfassend in Anspruch nehmen. Maßgeblich für das Vorliegen eines Umfangs einer Gesamtversorgung, der weitgehend der Versorgung in einer vollstationären Einrichtung entspricht, ist das zwischen den entsprechenden Leistungsberechtigten und dem Leistungserbringer vertraglich verpflichtende Vorhalten und Vergüten eines entsprechenden Leistungsangebots, das im Bedarfsfall in Anspruch genommen werden kann.

(8) Zur Prüfung, ob regelmäßig der Umfang einer Gesamtversorgung erreicht wird, der weitgehend der Versorgung in einer vollstationären Einrichtung entspricht, sind die angebotenen Leistungen heranzuziehen. Für eine Gesamtbetrachtung sind als weitere Prüfgrundlage die Vereinbarungen nach §§ 123 ff SGB IX und das Konzept der Leistungserbringer heranzuziehen. Um weitere Erkenntnisse über die in den Räumlichkeiten grundsätzlich angebotenen Leistungen zu erhalten, kommen ergänzend die zwischen den Leistungserbringern und den Leistungsberechtigten geschlossenen Verträge über die vertraglich vereinbarten Leistungen in Betracht. Des Weiteren kann der im Teilhabe- bzw. Gesamtplanverfahren erstellte Teilhabe- bzw. Gesamtplan als ergänzende Prüfgrundlage herangezogen werden."

 

Vorliegend sind die o.g. Merkmale im Bereich der Unterkunft und Verpflegung sowie im Bereich der räumlichen und sachlichen Ausstattung erfüllt: Dem Kläger werden ein Einzelzimmer im Haus "S." sowie Gemeinschaftsräume von der Lebensgemeinschaft e.V.  M. zur Nutzung überlassen; die Versorgung mit Heizung, Strom sowie Kalt- und Warmwasser und die Entsorgung erfolgen durch die Lebensgemeinschaft e.V.; bei der Reinigung des Zimmers wird dem Kläger auf Wunsch oder bei bestehender Notwendigkeit geholfen, für die Gemeinschafts- und Funktionsräume gibt es Reinigungspersonal; die Wartung und Instandhaltung der Wohnräume erfolgt durch die Lebensgemeinschaft e.V.; die Wäschepflege erfolgt dezentral in der jeweiligen Hausgemeinschaft (zum Angebot gehören die Reinigung der Wäsche und Kleidung sowie das Bügeln der persönlichen Kleidungsstücke); den Bewohnerinnen und Bewohnern werden Mahlzeiten angeboten, die dem allgemeinen Stand ernährungswissenschaftlicher Erkenntnisse entsprechen. Darüber hinaus erfolgt die Unterbringung und Versorgung der in den Räumlichkeiten der Lebensgemeinschaft e.V.  M. wohnenden Menschen mit Behinderungen ausweislich der mit dem Bezirk M. geschlossenen Leistungsvereinbarung grundsätzlich ganztägig an 365 Tagen pro Jahr, unterbrochen lediglich durch Zeiten, zu denen die Bewohner in der Werkstatt für behinderte Menschen mit Berufsbildungsbereich tätig sind oder Angebote zur Tagesgestaltung wahrnehmen.


Zusammenfassend ist damit festzustellen, dass der Umfang der Gesamtversorgung der in der Lebensgemeinschaft e.V.  M. wohnenden Menschen mit Behinderungen weitestgehend der Versorgung in einer vollstationären Einrichtung im Sinne von § 71 Abs. 4 Nr. 3c SGB IX entspricht. Dieses Ergebnis stimmt überein mit der in den Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes enthaltenen Vermutung, dass bei Einrichtungen, die am 31.12.2019 als vollstationäre Einrichtungen der Hilfe für behinderte Menschen i.S.d. § 43a i.V.m. § 71 Abs. 4 SGB XI in der bis zum 31.12.2019 geltenden Fassung galten, in der Regel davon auszugehen, ist, dass der Umfang der Gesamtversorgung dem in einer vollstationären Einrichtung entspricht, sofern und soweit sie - wie vorliegend - nach dem 31.12.2019 im Wesentlichen die gleichen Leistungen wie zuvor erbringen.    


Rechtlicher Hintergrund dieser Vermutung ist, dass § 71 Abs. 4 SGB XI mit dem PSG III bzw. dem PpSG zum 01.01.2020 insbesondere vor dem Hintergrund des Inkrafttretens des neuen Eingliederungshilferechts (§§ 90ff SGB IX) neu gefasst worden ist. Mit der Neufassung ist allerdings keine inhaltliche Neuausrichtung verbunden. Sie reagiert darauf, dass im neuen Eingliederungshilferecht mit seinem personenzentrierten Ansatz die Differenzierung zwischen ambulanten und stationären Leistungen aufgegeben worden ist, so dass der bisherige Anknüpfungspunkt des § 43a an die Leistungserbringung in vollstationären Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen jedenfalls im Bereich der vollstationären Versorgung erwachsener Menschen mit Behinderungen (zu Jugendlichen und jungen Erwachsenen vgl. § 134 SGB IX) weggefallen ist (BT-Drucks. 18/10510 S. 113). Die Änderung des § 71 Abs. 4 - und hier insbesondere die Regelung der Nr. 3 - zielt darauf ab, "die gleichen Rechtswirkungen wie bisher zu erzielen" (BT-Drucks. 18/9518 S. 72). Es geht im Klartext darum, besondere Wohnformen für den eingliederungshilfeberechtigten Personenkreis, die bis zum 31.12.2019 die Qualität stationärer Einrichtungen i. S. des § 13 SGB XII hatten, pflegeversicherungsrechtlich weiterhin als solche zu behandeln. Die Finanzierungsverantwortlichkeiten zwischen Pflege und Eingliederungshilfe sollen unverändert bleiben (vgl. Groth in: Hauck/Noftz, SGB, 03/21, § 71 SGB XI, Rdnr. 70 und 71).


War der Kläger mithin bis zum 31.12.2019 im Hinblick auf § 43a a.F. von der Gewährung von Pflegegeld ausgeschlossen, so ist er dies nach dem Willen des Gesetzgebers auch für die Zeit ab 01.01.2020 nach § 43a n.F. Der Einwand des Klägerbevollmächtigten, der Kläger sei Selbstzahler und erhalte keine Leistungen der Eingliederungshilfe greift deutlich zu kurz. Denn er verkennt, dass der Bedarf des Klägers an Leistungen der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen nach Teil 2 des Neunten Buches gedeckt wird, er mithin diese Leistungen im Sinne des Gesetzes tatsächlich "erhält". Wer die Kosten der Eingliederungshilfe trägt, ist nach der gesetzlichen Regelung unerheblich. Der Anwendungsbereich des § 43a SGB XI ist weder auf Fälle beschränkt, in denen der Sozialhilfeträger die Kosten übernimmt noch lässt sich dem Gesetzeswortlaut eine Beschränkung auf die Unterbringung in Einrichtungen ableiten, mit denen der Sozialhilfeträger Vergütungsvereinbarungen getroffen hat.


Eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) vermag die Kammer nicht zu erkennen, weil der Gesetzgeber mit der Regelung in § 43a SGB XI eine sachlich gerechtfertigte Differenzierung vorgenommen hat. Die in § 43a SGB XI geregelte Leistung orientiert sich ihrer Höhe nach an dem durchschnittlichen Anteil pflegebedingter Kosten in den Pflegesätzen in Einrichtungen der Behindertenhilfe. Der Behinderte wird durch diese Leistung somit pauschal von den durch seinen Pflegebedarf verursachten Kosten entlastet. Die Tatsache, dass die Pflegekasse in geringerem Umfang eintritt, ergibt sich vor allem aus dem Umstand, dass in Einrichtungen der Behindertenhilfe ein erheblich höherer Aufwand für Maßnahmen betrieben wird, die der Integration des Behinderten in die Gesellschaft dienen. Hierbei handelt es sich um Kosten, die nicht in die Zuständigkeit der Pflegeversicherung fallen (vgl. zu § 43a a.F.: BSG, Urteil vom 26.04.2001 - B 3 P 11/00 R). Die unterschiedliche Behandlung von Pflegebedürftigen verstößt auch nicht gegen das in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG geregelte spezielle Benachteiligungsverbot. Danach darf niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Die unterschiedlichen Leistungen der Pflegeversicherung knüpfen indes nicht am Bestehen oder Nichtbestehen einer Behinderung an, sondern allein daran, wo sich der Behinderte versorgen lässt. Das Vorliegen einer Behinderung ist vielmehr faktisch Voraussetzung für die Leistungspflicht der Pflegeversicherung. Zwar knüpft das Gesetz nicht unmittelbar an das Vorliegen einer Behinderung, etwa i.S.d. Schwerbehindertengesetzes, an, sondern an einen Hilfebedarf bei den elementaren Verrichtungen des täglichen Lebens (§ 14 SGB IX). Diese Voraussetzung korrespondiert aber, da es sich um einen Dauerzustand handeln muss (zumindest für sechs Monate, § 14 Abs. 1 SGB XI), nahezu zwangsläufig mit dem Vorliegen einer Behinderung. Die unterschiedliche Behandlung der Behinderten untereinander - je nachdem, wo sie untergebracht sind -, die nicht unter das spezielle Benachteiligungsverbot, sondern unter den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) fällt, ist - wie oben ausgeführt - durch sachliche Gründe gerechtfertigt (vgl. BSG, a.a.O.).


Die Klage bleibt damit ohne Erfolg.


Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

 

Rechtskraft
Aus
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