L 13 VJ 35/28 WA

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Abteilung
13
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 33 VJ 50/11
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 VJ 35/18 WA
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Berufungsklägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 16. Juni 2015 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten. Im Übrigen bleibt es bei der Kostenentscheidung des Sozialgerichts.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

Tatbestand

 

Der Berufungskläger begehrt als Rechtsnachfolger des verstorbenen Elmar G (im Folgenden: Geschädigter) Grundrente, Ausgleichsrente und Berufsschadens-ausgleich wegen eines von diesem erlittenen Impfschadens nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) nach einem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von mehr als 90 bereits ab Januar 1976 unter Anerkennung weiterer Schädigungsfolgen.

 

Der  1975 geborene Geschädigte erhielt am 18. Dezember 1975, am 27. Januar 1976 und am 26. Februar 1976 Teilimpfungen mit dem Mehrfachimpfstoff Quinto-Virelon zum Schutz gegen Diphtherie, Tetanus, Pertussis, Poliomyelitis und Masern.

 

Am Morgen des 2. Februar 1976 fanden die Eltern den bis dahin unauffälligen Geschädigten verändert vor: Er bewegte sich nicht, reagierte nicht, gab keinen Ton von sich und war (mit den Worten seiner Mutter) schlaff wie eine Stoffpuppe. Der vom Kinderarzt erstellten Epikrise vom 18. März 1983 ist zu entnehmen, dass der Geschädigte im sechsten Lebensmonat wegen einer statomotorischen Entwicklungsstörung krankengymnastische Übungen verschrieben wurden. 1978 stellten ihn seine Eltern wegen einer Sprachentwicklungsverzögerung in der Kinderklinik des Universitätsklinikums C vor. Im Arztbrief vom 1. November 1978 wurde dort eine mentale Retardierung nicht ausgeschlossen.

 

Auf den Antrag des Geschädigten vom 3. Mai 1995 stellte das Versorgungsamt I Berlin mit Bescheid vom 17. August 1975 bei ihm einen Grad der Behinderung von 50 wegen eines psychophysischen Entwicklungsrückstandes nach kindlicher Hirnhautentzündung und leichter Schwerhörigkeit fest.

 

Am 23. August 2000 ging der formularmäßige Antrag des Geschädigten auf Versorgung wegen eines Impfschadens bei dem Beklagten ein, der den Antrag ablehnte. Unter Aufhebung des Bescheides vom 4. Februar 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. April 2002 verpflichtete das Sozialgericht Berlin den Beklagten mit Urteil vom 22. November 2006, dem Geschädigten dem Grunde nach Leistungen nach § 60 Abs. 1 IfSG zu gewähren. Mit Teil-Bescheiden vom 20. Juli 2009 und vom 15. Januar 2010 sowie mit Teil-Abhilfebescheid vom 16. Dezember 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. März 2013 erkannte der Beklagte bei dem Geschädigten mit Wirkung ab dem 1. Mai 1995

 

  1. psychophysische Entwicklungsstörung mit verminderter Intelligenz und Reifestörung der Persönlichkeit,
  2. feinmotorische Störungen der Hände,
  3. organische affektive Störung

 

als Schädigungsfolgen mit einem GdS von 90 an und gewährte ihm Berufsschadensausgleich und Ausgleichsrente. Die Grundrente wurde ihm seit dem 1. Mai 1995 nachgezahlt.

 

Mit der Klage bei dem Sozialgericht Berlin hat dem Geschädigten Impfschadensversorgung bereits ab Januar 1976 nach einem GdS von 100 sowie die Anerkennung von Adipositas per magna, Hypertonie, Schwerhörigkeit, Bewegungseinschränkungen im rechten Sprunggelenk und Funktionseinschränkungen der Lendenwirbelsäule als weitere Schädigungsfolgen begehrt.

 

Das Sozialgericht hat neben dem Befundbericht des behandelnden Hausarztes das Gutachten des Facharztes für Psychiatrie und Neurologie sowie für psychotherapeutische Medizin Dr. St vom 3. September 2012 eingeholt, der nach Untersuchung des Geschädigten zu dem Ergebnis gelangt ist, die geltend gemachten Gesundheitsstörungen könnten nicht auf die Schutzimpfung zurückgeführt werden.

 

Auf den Antrag des Geschädigten nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat das Sozialgericht den Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. W gutachterlich gehört. Im Gutachten vom 10. Januar 2014 hat der Gutachter ausgeführt, mittelbare Folge der Impfschädigung sei die als eine hirnorganisch verursachte Impulskontrollstörung zu betrachtende Störung des Essverhaltens und damit auch die übermäßige Adipositas.

 

Mit Urteil vom 16. Juni 2015 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die Adipositas und deren Folgeerkrankungen stellten keine mittelbaren Impfschadensfolgen dar. Aufgrund des Gutachtens des Sachverständigen Dr. St stehe für die Kammer vielmehr fest, dass sich die Essstörung im Sinne einer Suchterkrankung erst im Zusammenhang mit frustrierenden Erlebnissen und Erfahrungen in den ersten Schuljahren entwickelte und anschließend durch weitere soziale und emotionale Überforderungen verstetigt worden sei. Die Auffassung des Gutachters Dr. W, der die Adipositas des Geschädigten auf eine Impulskontrollstörung zurückführe, überzeuge nicht, da die Störung des Essverhaltens nicht aufgrund der von Beginn an bestehenden organisch-affektiven Beeinträchtigungen aufgetreten sei, sondern sich nach den eigenen Feststellungen des Sachverständigen Dr. W erst in der Schulzeit entwickelt hätte. Damit seien auch die Folgeerkrankungen der Adipositas (Bluthochdruck, Funktionseinschränkungen der Wirbelsäule und des Sprunggelenks) nicht als Schädigungsfolgen anzuerkennen. Ebenfalls keine Schädigungsfolge stelle die Hörminderung dar, die nach der übereinstimmenden Beurteilung der Sachverständigen Folge einer 1991 durchgeführten Ohroperation sei.

 

Die Schädigungsfolgen seien nicht mit einem höheren GdS als 90 zu bewerten: Die psychophysische Entwicklungsstörung mit verminderter Intelligenz und Reifestörung der Persönlichkeit ergebe nach B 3.1.2 VMG einen Einzel-GdS von maximal 70. Für die feinmotorischen Störungen der Hände sei nach B 18.13 VMG ein Einzel-GdS von 30 angemessen. Die organische affektive Störung bedinge nach B 3.7 VMG keinen höheren Einzel-GdS als 30.

 

Die dem Geschädigten zu gewährende Beschädigtenversorgung beginne gemäß § 60 Abs. 1 BVG ab Mai 1995, dem Antragsmonat.

 

Gegen diese Entscheidung hat der Geschädigte Berufung eingelegt. Am 10. November 2017 ist er verstorben. Nach dem Tod des Vaters des Geschädigten am 24. November 2017 ist dessen Rechtsnachfolger der Berufungskläger, der das Begehren seines Bruders weiterverfolgt. Er ist unter Berufung auf das Gutachten des Sachverständigen Dr. W der Ansicht, die Schädigungsfolgen bei dem Geschädigten umfassten auch die Essverhaltensstörungen mit hochgradiger Adipositas.

 

 

Der Berufungskläger beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 16. Juni 2015 aufzuheben sowie den Beklagten unter Änderung der Bescheide vom 20. Juli 2009, 15. Januar 2010 und 16. Dezember 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. März 2011 zu verpflichten, ihm als Rechtsnachfolger des verstorbenen Elmar G unter Berücksichtigung der Adipositas per magna, der Hypertonie, der Schwerhörigkeit, der Bewegungseinschränkungen im rechten Sprunggelenk und Funktionseinschränkungen der Lendenwirbelsäule als weitere Impfschäden nach den Impfungen vom 18. Dezember 1975, 27. Januar 1976 und 26. Februar 1976 mit dem Mehrfachimpfstoff Quinto-Virelon über die bereits gewährten Leistungen hinaus für den Zeitraum von Januar 1976 bis November 2017 Grundrente, Ausgleichsrente und Berufsschadensausgleich nach einem Grad der Schädigungsfolgen von 100 zu gewähren.

 

Der Beklagte beantragt,

 

die Klage abzuweisen.

 

Er hält die Entscheidung des Sozialgerichts für zutreffend.

 

Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge des Beklagten vorgelegen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsvorgänge der Beklagten.

 

 

 

Entscheidungsgründe

 

 

Die zulässige Berufung des Berufungsklägers ist unbegründet.

 

1. Der Berufungskläger hat keinen Anspruch gegen den Beklagten, ihm Grundrente, Ausgleichsrente und Berufsschadensausgleich nach einem höheren GdS als 90 zu gewähren.

 

Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG erhält derjenige, welcher durch eine Schutzimpfung, die von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde, eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens im Sinne des § 2 Nr. 11 IfSG oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, soweit das IfSG nichts Abweichendes bestimmt. Die Versorgung umfasst nach § 9 Abs. 1 Nr. 3 BVG auch die Beschädigtenrente in Gestalt der Grundrente, der Ausgleichsrente und des Berufsschadensausgleichs. Nach § 2 Nr. 11 Halbs. 1 IfSG ist Impfschaden im Sinne dieses Gesetzes die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung.

 

Die zitierten Vorschriften des IfSG verlangen für die Entstehung eines Anspruchs auf Versorgungsleistungen die Erfüllung mehrerer Voraussetzungen (siehe BSG, Urteil vom 7. April 2011 – B 9 VJ 1/10 R –, SozR 4-3851 § 60 Nr. 4, juris Rn. 36). Es müssen eine unter den Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG – beispielsweise nach öffentlicher Empfehlung durch eine zuständige Landesbehörde – erfolgte Schutzimpfung, der Eintritt einer über eine übliche Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung, also eine Impfkomplikation, sowie eine – dauerhafte – gesundheitliche Schädigung, also ein Impfschaden, vorliegen (siehe zur abweichenden Terminologie in der Rechtsprechung des BSG nach dem BSeuchG, wonach als Impfschaden die über die übliche Impfreaktion hinausgehende Schädigung, also das zweite Glied der Kausalkette, bezeichnet wurde: BSG, Urteile vom 19. März 1986 – 9a RVi 2/84BSGE 60, 58, 59, und – 9a RVi 4/84SozR 3850 § 51 Nr. 10 S. 49).

 

Zwischen den jeweiligen Anspruchsmerkmalen muss ein Ursachenzusammenhang bestehen. Maßstab dafür ist die im sozialen Entschädigungsrecht allgemein geltende Kausalitätstheorie von der wesentlichen Bedingung. Danach ist aus der Fülle aller Ursachen im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne diejenige Ursache rechtlich erheblich, die bei wertender Betrachtung wegen ihrer besonderen Beziehung zu dem Erfolg bei dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat. Als wesentlich sind diejenigen Ursachen anzusehen, die unter Abwägen ihres verschiedenen Wertes zu dem Erfolg in besonders enger Beziehung stehen, wobei Alleinursächlichkeit nicht erforderlich ist.

 

Die Impfung und sowohl die als Impfkomplikation in Betracht kommende als auch die dauerhafte Gesundheitsstörung müssen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit – im sogenannten Vollbeweis – feststehen. Allein für die zwischen diesen Merkmalen erforderlichen Ursachenzusammenhänge reicht der Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit aus (siehe § 61 Satz 1 IfSG). Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, wenn mehr Umstände für als gegen die Kausalität sprechen. Die bloße Möglichkeit genügt nicht (siehe BSG, Urteil vom 19. März 1986 a.a.O.).

 

Die Feststellung einer Impfkomplikation im Sinne einer impfbedingten Primärschädigung hat mithin grundsätzlich in zwei Schritten zu erfolgen: Zunächst muss ein nach der Impfung aufgetretenes Krankheitsgeschehen als erwiesen erachtet werden. Sodann ist die Beurteilung erforderlich, dass diese Erscheinungen mit Wahrscheinlichkeit auf die betreffende Impfung zurückzuführen sind.

 

Alle medizinischen Fragen, insbesondere zur Kausalität von Gesundheitsstörungen, sind auf der Grundlage des im Entscheidungszeitpunkt neuesten medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstandes zu beantworten. Hierbei ist allerdings jeweils genau zu prüfen, ob diese sich überhaupt auf den zu beurteilenden, gegebenenfalls lange zurückliegenden Vorgang beziehen. Da andere Ursachen jeweils andere Folgen nach sich ziehen können, gilt dies insbesondere für die Beurteilung von Kausalzusammenhängen. Dementsprechend muss im Impfschadensrecht sichergestellt werden, dass die nach dem aktuellen Stand der medizinischen Erkenntnisse in Betracht zu ziehenden Impfkomplikationen gerade auch die Impfstoffe betreffen, die im konkreten Fall Verwendung gefunden haben (BSG, Urteil vom 7. April 2011 a.a.O. juris Rn. 42 und 43).

 

Bei der jeweils vorzunehmenden Kausalbeurteilung waren im sozialen Entschädigungsrecht die bis Ende 2008 in verschiedenen Fassungen geltenden Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) anzuwenden und zu berücksichtigen. Die AHP von 1983 bis 2005 enthielten in Nr. 56 Hinweise zur Kausalitätsbeurteilung bei Impfschäden im Allgemeinen und in Nr. 57 bei Schutzimpfungen im Einzelnen. Diese detaillierten Angaben zu Impfkomplikationen (damals noch als "Impfschaden" bezeichnet) sind allerdings Ende 2006 aufgrund eines Beschlusses des Ärztlichen Sachverständigenbeirats "Versorgungsmedizin" beim BMAS gestrichen und durch folgenden Text ersetzt worden (Rundschreiben des BMAS vom 12. Dezember 2006 – IV.c.6-48064-3; vgl. auch Nr. 57 AHP 2008):

 

Die beim Robert-Koch-Institut eingerichtete Ständige Impfkommission (STIKO) entwickelt Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion und einer über das übliche Ausmaß der Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung (Impfschaden). Die Arbeitsergebnisse der STIKO werden im Epidemiologischen Bulletin veröffentlicht und stellen den jeweiligen aktuellen Stand der Wissenschaft dar.

 

Die Versorgungsmedizinische Begutachtung von Impfschäden (§ 2 Nr. 11 IfSG und Nr. 56 Abs. 1 AHP) bezüglich Kausalität, Wahrscheinlichkeit und Kannversorgung ist jedoch ausschließlich nach den Kriterien von §§ 60f. IfSG durchzuführen. Siehe dazu auch Nr. 35 bis 52 (Seite 145 bis 169) der AHP.

 

Die am 1. Januar 2009 an die Stelle der AHP getretene Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) enthält keine Bestimmungen über die Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitsbildern, sodass insoweit entweder auf die letzte Fassung der AHP (2008) zurückgegriffen werden muss oder bei Anzeichen dafür, dass diese den aktuellen Kenntnisstand der medizinischen Wissenschaft nicht mehr beinhalten, andere Erkenntnisquellen, insbesondere Sachverständigengutachten, genutzt werden müssen (BSG, Urteil vom 7. April 2011 a.a.O. juris Rn. 41; Roos, Der Impfschadensprozess – Risiken und Nebenwirkungen, ZFSH/SGB 2020, 210 [215]).

 

Gemessen an diesen Maßstäben beschränkten sich die Impfschäden bei dem Geschädigten auf die von dem Beklagten bereits anerkannten Gesundheitsstörungen, nämlich psychophysische Entwicklungsstörung mit verminderter Intelligenz und Reifestörung der Persönlichkeit, feinmotorische Störungen der Hände und organische affektive Störung.

 

Bei der Adipositas per magna handelt es sich entgegen der Ansicht des Berufungsklägers nicht um eine – mittelbare – Schädigungsfolge. Auch hinsichtlich des ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem Impfschaden und der hier geltend gemachten Impfschadensfolge ist der Beweismaßstab der hinreichenden Wahrscheinlichkeit heranzuziehen.

 

Nach der übereinstimmenden – und überzeugenden – Beurteilung der gerichtlichen Sachverständigen stellt sich die Adipositas als Folge eines gestörten Essverhaltens des Geschädigten dar. Diese Störung ist nach der Überzeugung des Senats nicht mit hinreichender Wahrscheinlich ursächlich auf die festgestellten Impfschäden zurückzuführen. Auf der Grundlage der Einschätzung des Gutachters Dr. W, die Essstörung sei organisch, kann die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs nach der Überzeugung des Senats nicht begründet werden. Denn in diesem Fall hätte sich die Essstörung bereits im kindlichen Alter manifestiert. Demgegenüber trat die Essverhaltensstörung erst im Laufe der Pubertät auf. Wesentliche Ursache bildet vielmehr, wie der Sachverständige Dr. St nachvollziehbar dargelegt hat, die sich bei dem Geschädigten in dieser Zeit entwickelnde Fresssucht. Entgegen dem Vorbringen des Berufungsklägers stellt der Sachverständige hierbei nicht auf einen genetisch bedingten Defekt ab. Denn ausdrücklich kritisiert der Sachverständige die Einschätzung des im Verwaltungsverfahren herangezogenen Gutachters Dr. P, die Adipositas sei anlagebedingt. Hierzu legt er dar, dass die Eltern des Geschädigten schlank waren, und betont, aus den ihm vorgelegten Bildern der achtziger Jahre sei zu erkennen, dass der Bruder des Geschädigten, der Berufungskläger, sehr schlank gewesen sei. Im Hinblick auf das im Zeitpunkt der Gutachtenerstellung bekannte Gewicht des Berufungsklägers von 110 kg bei einer Körpergröße von 198 cm hat der Sachverständige lediglich eine familiäre Belastung mit Adipositas nicht ausschließen können. Vielmehr verweist der Gutachter darauf, dass die ständigen Enttäuschungen und Frustrationen, die der Geschädigte auf seinem Lebensweg erdulden musste, typisch für Suchtentwicklungen sind. Die Störung des Essverhaltens resultiert, wie er nachvollziehbar und überzeugend darlegt, aus einer permanenten intellektuellen und emotionalen Überforderung und – seit dem Einzug in eine eigene Wohnung – aus einer Vereinsamung und der Unfähigkeit, allein zu sein. Dies wird durch den Vortrag in der Berufungsbegründung vom 12. Januar 2016 gestützt, wonach der Geschädigte mit zunehmendem Alter in seiner eingeschränkten Wahrnehmung des ihn umgebenden sozialen Umweltgeschehens in allen Lebensbereichen wahrgenommen habe, dass er mit der Entwicklung anderer nicht mithalten könne und von einer normalen Lebensentwicklung ausgeschlossen sei, was für ihn mit einem ihm verbliebenen Intuitionsvermögen frustbegründend gewesen sei; insofern habe der Geschädigte sein soziales Konkurrenzunvermögen als ungeheuren Druck erlebt und eine Kompensation in maßloser Essensaufnahme gesucht.

 

Auf der Grundlage des Gesamtergebnisses des Verfahrens besteht nach der Überzeugung des Senats nicht die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem Impfschaden und der Adipositas des Geschädigten im Sinne der vorliegend geltend gemachten Impfschadensfolge. Denn aus den Sachverständigengutachten ergibt sich nicht, dass nach der geltenden medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht.

 

Auch die weiteren vom Berufungskläger genannten Gesundheitsstörungen können nicht mit Wahrscheinlichkeit auf die Impfung zurückgeführt werden. Die Hypertonie ist schädigungsunabhängig, da sie, wie der Sachverständige Dr. St nachvollziehbar darlegt, eng mit dem massiven Übergewicht verbunden ist. Gleiches gilt für die Funktionseinschränkungen der Lendenwirbelsäule, die nach den Darlegungen des Sachverständigen, denen sich der Senat anschließt, als Folgeschaden der massiven Adipositas zu werten sind. Die Hörminderung rechts ist Folge der 1991 durchgeführten Operation des rechten Ohrs mit Tympanoplastik und steht damit in keinem ursächlichen Zusammenhang mit der Impfung. Die Bewegungseinschränkungen im rechten Sprunggelenk resultieren aus einer Sprunggelenkfraktur, die sich der Geschädigte während eines Ballspiels auf Glatteis zugezogen hatte.

 

Maßgebend für die Höhe des GdS sind die AHP, die mit Wirkung vom 1. Januar 2009 durch die Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) als Anlage zu § 1 der VersMedV abgelöst worden sind.

 

Bei sämtlichen Impfschäden, die bei dem Geschädigten vorlagen, nämlich der psychophysischen Entwicklungsstörung mit verminderter Intelligenz und Reifestörung der Persönlichkeit, den feinmotorischen Störungen der Hände sowie der organischen affektiven Störung, handelt es sich um Leistungsbeeinträchtigungen nach Hirnschäden. Der Senat stellt hierbei – den Vorgaben in B 3.1 Satz 1 nach lit. e VMG folgend – die in B 3.1.1 VMG genannte Gesamtbewertung in den Vordergrund. Die Bewertungsmaßstäbe für die unter B 3.1.2 VMG angeführten isoliert vorkommenden bzw. führenden Syndrome zieht er ergänzend heran (vgl. B 3.1 Satz 2 nach lit. e VMG).

 

Nach B 3.1.1 VMG werden Hirnschäden grundsätzlich wie folgt bewertet:

 

Hirnschäden mit geringer Leistungsbeeinträchtigung mit einem GdS von
30-40,

Hirnschäden mit mittelschwerer Leistungsbeeinträchtigung mit einem GdS von 50-60,

Hirnschäden mit schwerer Leistungsbeeinträchtigung mit einem GdS von
70-100.

 

Nach der übereinstimmenden Einschätzung aller gerichtlicher Sachverständigen, denen der Senat folgt, zeitigten die Hirnschäden bei dem Geschädigten schwere Leistungsbeeinträchtigungen. Im Hinblick darauf, dass dessen Alltagskompetenz allerdings nicht vollständig eingeschränkt war, ist der Bewertungsrahmen von 70 bis 100 nicht vollständig auszuschöpfen. Nach Überzeugung des Senats ist ein GdS von 90 angemessen.

 

2. Der Berufungskläger kann Grundrente, Ausgleichsrente und Berufsschadensausgleich nicht erfolgreich bereits für den Zeitraum von Januar 1976 bis einschließlich April 1995 beanspruchen, sondern erst ab Mai 1995.

 

Denn der Antrag auf Versorgung wegen eines Impfschadens wurde erst am 3. Mai 1995 gestellt. An diesem Tag ging bei dem Beklagten der Antrag nach dem Schwerbehindertengesetz (a.F.) auf Feststellung eines Grades der Behinderung ein. Im Antragsformular wird unter „II. Angaben über die Behinderungen und deren Behandlungen“ u.a. eine psychomotorische Retardierung genannt mit dem Zusatz „nach 3-fach Impfung 1975/76“, der von dem Beklagten später zu Recht als Antrag auf Versorgung nach dem seinerzeit geltenden Bundes-Seuchengesetz (BSeuchG) gewertet wurde.

 

§ 60 Abs. 1 BVG in der bis zum 31. Dezember 1978 geltenden Fassung lautete:

 

Die Beschädigtenversorgung beginnt mit dem Monat, in dem ihre Voraussetzungen erfüllt sind, frühestens mit dem Antragsmonat (…).

 

Diese Regelung ist nach § 51 Abs. 1 Satz 1 BSeuchG bzw. nach § 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG für das Impfschadensrecht entsprechend anwendbar. In dem Zeitraum zwischen den Impfungen des Geschädigten (in den Jahren 1975 sowie 1976) bis zum 31. Dezember 1978 war durch das BSeuchG auch nichts Abweichendes bestimmt: § 56 BSeuchG vom 18. Juli 1961 (BGBl. I S. 1012), der ursprünglich eine Antragsfrist von drei Monaten nach Kenntniserlangung von dem Impfschaden und eine Ausschlussfrist von einem Jahr vorsah, wurde durch das Zweite Gesetz zur Änderung des BSeuchG vom 25. August 1971 (BGBl. I S. 1401) mit Wirkung ab dem 1. September 1971 aufgehoben. Bei der Regelung in Art. 2 Abs. 4 Satz 1 Alt. 2 und Satz 2 des Änderungsgesetzes, wonach in Fällen, in denen bisher ein Antrag auf Entschädigung nicht gestellt war, auf Antrag Versorgung entsprechend den Vorschriften dieses Gesetzes gewährt wird, wobei die Versorgung frühestens mit dem Antragsmonat beginnt, handelt es sich erkennbar um eine Übergangsbestimmung, mit der klargestellt werden soll, dass die Fristen des aufgehobenen § 56 BSeuchG für Entschädigungsleistungen wegen eines Impfschadens vor Inkrafttreten des Änderungsgesetzes keine Geltung mehr beanspruchen.

 

Seit dem 1. Januar 1978 ist die durch das Zehnte Anpassungsgesetz-KOV vom 10. August 1978 (BGBl. I S. 1217) geänderte Fassung des § 60 Abs. 1 BVG in Kraft (Art. 8 des Zehnten Anpassungsgesetz-KOV), die lautet:

 

Die Beschädigtenversorgung beginnt mit dem Monat, in dem ihre Voraussetzungen erfüllt sind, frühestens mit dem Antragsmonat. Die Versorgung ist auch für Zeiträume vor der Antragstellung zu leisten, wenn der Antrag innerhalb eines Jahres nach Eintritt der Schädigung gestellt wird. War der Beschädigte ohne sein Verschulden an der Antragstellung verhindert, so verlängert sich diese Frist um den Zeitraum der Verhinderung. (…)

 

Es kann offen bleiben, ob diese Änderungen durch das Zehnte Anpassungsgesetz-KOV mangels Übergangsregelungen überhaupt auf Impfungen Anwendung finden, die – wie hier – vor ihrem Inkrafttreten durchgeführt worden waren. Denn hierauf kommt es nicht an.

 

Als Ausnahme von dem in § 60 Abs. 1 Satz 1 BVG normierten Grundsatz, dass die Leistungen der Beschädigtenversorgung (wenn die materiell-rechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind) mit dem Antragsmonat beginnen, eröffnet § 60 Abs. 1 Satz 2 BVG eine Rückwirkung, wenn der Antrag innerhalb eines Jahres nach Eintritt der Schädigung gestellt wird. Die Jahresfrist wird nach § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG wiederum um den Zeitraum verlängert, in dem eine unverschuldete Verhinderung der Antragstellung vorlag. Ihrer Wirkung nach ermöglicht die (verlängerte) Jahresfrist eine Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand bei Eintritt der Schädigung (so BSG, Urteil vom 16. März 2016 – B 9 V 6/15 R –, SozR 4-3100 § 60 Nr. 7, SozR 4-1200 § 14 Nr. 19).

 

Die Voraussetzungen des Verlängerungstatbestands des § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG sind vorliegend nicht gegeben, denn der Geschädigte war nicht ohne Verschulden gehindert, bis zum Ablauf der Jahresfrist Versorgung nach einem Impfschaden zu beantragen.

 

Ein eigenes Verschulden des Geschädigten scheidet allerdings schon deshalb aus, weil er bis zur Vollendung seines fünfzehnten Lebensjahres nach § 36 Abs. 1 Satz 1 SGB I sozialrechtlich nicht handlungsfähig war und deshalb keinen rechtswirksamen Antrag nach dem BSeuchG stellen konnte.

 

Er muss sich jedoch entsprechend der in § 27 Abs. 1 Satz 2 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (SGB X) getroffenen Regelung sowie den zu § 67 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen ein Verschulden seiner Eltern als seinen gesetzlichen Vertretern zurechnen lassen (vgl. BSGE 59, 40, 41f.; BSGE 94, 282; BSG, Urteil vom 11. Dezember 2008 – B 9/9a VG 1/07 R –, SozR 4-3100 § 60 Nr. 5 Rn. 21). Danach liegt ein Verschulden nur dann nicht vor, wenn der Vertreter die nach den Umständen des Falles zu erwartende Sorgfalt beachtet hat. Grundsätzlich gilt insoweit ein subjektiver Maßstab. Es sind insbesondere der Geisteszustand, das Alter, der Bildungsgrad und die Geschäftsgewandtheit zu berücksichtigen. Rechtsunkenntnis schließt ein Verschulden allerdings nicht aus (vgl. BSG, Urteil vom 15. August 2000 – B 9 VG 1/99 R –, SozR 3-3100 § 60 Nr. 3, SozR 3-3100 § 61 Nr. 2, SozR 3-1200 § 14 Nr. 30; BSGE 104, 245).

 

Als gesetzlicher Vertreter des Geschädigten waren die Eltern verpflichtet, dessen Interessen wahrzunehmen. Zu ihren objektiven Betreuungspflichten gehörte es, rechtzeitig (innerhalb der Jahresfrist des § 60 Abs. 1 Satz 2 BVG) einen Versorgungsantrag nach dem BSeuchG zu stellen. Dass diese rechtliche Möglichkeit besteht, war ihnen nach ihrem eigenen Vorbringen aus den Hinweisen im Impfbuch bekannt.

 

Ob die Eltern die – den Angaben in der Berufungsbegründung zufolge – von ihnen bereits vor dem 1. April 1976 festgestellten Verhaltensauffälligkeiten des Geschädigten hätten zum Anlass nehmen müssen, eine Versorgung ihres Sohnes wegen eines Impfschadens zu beantragen, kann auch vor dem Hintergrund des Vortrags, dass ihnen weder der behandelnde Kinderarzt noch die Mitarbeiter des Gesundheitsamtes des Bezirksamtes  dazu rieten, offen bleiben, da es hierauf nicht ankommt. Denn aus den Unterlagen der Kinderklinik des R-Krankenhauses, in dem sich der Geschädigte vom 30. Oktober bis zum 2. November 1989 sowie am 6. November 1989 zur stationären Behandlung befand, ergibt sich zur Überzeugung des Senats, dass die Eltern jedenfalls im Oktober 1989 die Erkrankungen des Geschädigten in einem engen Zusammenhang mit der zweiten Teilimpfung sahen. Da keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Eltern im Hinblick auf ihren Geisteszustand, ihr Alter, ihren Bildungsstand und/oder ihre Geschäftsgewandtheit subjektiv nicht in der Lage gewesen wären, die nach den Umständen des Falles zu erwartende zumutbare Sorgfalt bei der Antragstellung zu beachten, haben sie die entsprechend § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG verlängerte Jahresfrist nicht ohne Verschulden verstreichen lassen.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt den Ausgang des Verfahrens.

 

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.

 

Rechtskraft
Aus
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