1. Der Nachteilsausgleich Blindheit ist beschränkt auf Störungen des Sehapparats und erfasst keine gnostischen - neuropsychologischen - Störungen des visuellen Erkennens (vgl BSG, Urt v 24.10.2019 - B 9 SB 1/18 R - juris).
2. Kann bei dem behinderten Menschen wegen fehlender Reaktion auf visuelle Reize und fehlender Kommunikationsfähigkeit weder eine Sehschärfe noch die Gesichtsfeldfunktion nach Teil A Nr 6 Buchst a und b VMG überprüft werden, geht diese Beweislosigkeit zu seinen Lasten.
Das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 25. November 2019 wird aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs Blindheit, also die Zuerkennung des Merkzeichens Bl bei dem Kläger und Berufungsbeklagten (nachfolgend: Kläger).
Der 1955 geborene Kläger erlitt 2012 nach einem Leitersturz aus ca. 10 Meter Höhe ein Polytrauma, welches u.a. durch eine Skalpierungsverletzung frontal bis occipital charakterisiert war. Es bestand eine kardiopulmonale Reanimationspflichtigkeit. In der Epikrise der Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin der Uniklinik K. vom 13. August 2012 über die intensivmedizinische Behandlung ab 16. Juli 2012 wurde u.a. ein posthypoxischer Hirnschaden diagnostiziert. Im Verlauf des stationären Aufenthalts sei es zu einem Status epilepticus gekommen. Spontanatmung über eine Trachealkanüle sei ab 6. August 2012 wieder erreicht worden. Im MRT vom 8. August 2012 hätten sich keine Hinweise auf einen diffusen axonalen Schaden, jedoch mehrere hypoxische Läsionen im Stammganglienbereich und in mehreren Rindenarealen gefunden. Der neurologische Zustand sei als irreversibel zu werten. Nach Abschluss der neurologischen Rehabilitation (27. August 2012 bis 16. November 2012) berichtete die M-Klinik in M. in der Epikrise vom 26. November 2012: Es bestehe eine prompte Lichtreaktion, der Cornealreflex (Lidschlussreflex) sei erhalten. Reaktionen auf Ansprache oder Schmerzreize bestünden nicht. Bei dem Kläger habe sich noch zum Entlassungszeitpunkt eine massive Bewusstseinsbeeinträchtigung gezeigt. Aus neuropsychologischer Sicht sei die Diagnose eines komatösen Zustands zu stellen. Nach zwischenzeitlicher Unterbringung in einer vollstationären Pflegeeinrichtung ist der Kläger seit Februar 2013 in der eigenen Häuslichkeit mit ambulanter 24-Stunden Intensivpflege untergebracht. Auf Antrag stellte der Beklagte und Berufungskläger (nachfolgend: Beklagter) einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 und die Merkzeichen B, G, aG, H, und RF ab dem 26. November 2012 fest (Bescheid vom 12. Februar 2013).
Im Rahmen eines Nachprüfungsverfahrens, in dessen Ergebnis aus Sicht des Beklagten keine wesentliche Änderung eingetreten war, berichtete der den Kläger behandelnde Neurologe Dr. M. am 31. Januar 2014: Eine Kommunikation sei weder verbal noch nonverbal möglich. Nach dem Bericht des Pflegeteams und der Lebensgefährtin des Klägers habe er sich seit Entlassung aus der Rehabilitation weiter erholen können. Die Kommunikation erfolge durch Handdruck und Fingerbeugung, emotionale Regungen würden sichtbar. Er fixiere die pflegenden bzw. anwesenden Personen und zeige dabei eine Blickfolgebewegung. Zunehmend entstehe der Eindruck, er könne teilweise verstehen und Zustimmung oder Ablehnung signalisieren. Die behandelnde Fachärztin für Innere Medizin Dipl.-Med. D. gab am 2. Februar 2014 an, dass weder eine verbale noch nonverbale Kommunikation möglich, zeitweise eine nonverbale Reaktion in Form des Versuchs der Fixierung mit den Augen zu vermuten sei.
Vom 26. Februar 2014 bis 2. April 2014 befand sich der Kläger zu einer stationären neurologischen Rehabilitation in der M.-Klinik für Rehabilitation in O. Diagnostisch wurde hier Folgendes festgestellt: Spastische hochgradige Tetraparese, apallisches Syndrom („Wachkoma“), Locked-in-Syndrome, lokalisationsbezogene fokale symptomatische Epilepsie und epileptische Syndrome mit komplexen fokalen Anfällen, posthypoxischer Hirnschaden mit kardiopulmonaler Reanimation, Dysphagie (Schluckstörung), PEG-Anlage 08/2012, arterielle Hypertonie, insulinpflichtiger Diabetes mellitus Typ II.
Am 4. Juli 2016 beantragte die Lebensgefährtin des Klägers als dessen bestellte Betreuerin für ihn die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen Bl, worauf der Beklagte erneut Befundberichte einholte. Dipl.-Med. D. berichtete am 8. August 2016: Es liege eine anoxische Hirnschädigung vor. Der Kläger befinde sich im Wachkoma. Eine verbale Kommunikation sei nicht möglich. Zeitweise sei Blickkontakt möglich, die Fixierung auf einen Ansprechpartner gelinge auch zeitweise im Sinne einer nonverbalen Kommunikation. Beigefügt waren Befunde der behandelnden Fachärztin für Neurologie Dr. H1 vom 3. März 2016 und 19. Juli 2016, wonach ein gelegentliches Augenöffnen gegeben, kein sicherer Blickkontakt herstellbar, laut Angehörigen aber möglich sei. Insgesamt sei er laut Familie und Angehörigen jetzt deutlich wacher, die Augen seien jetzt häufiger auf, er verfolge alles. Dipl.-Med. W. (Fachärztin für Augenheilkunde) gab im Befundschein vom 6. August 2016 an, dass durch sie keine Angaben oder weitere Untersuchungen zum Visus oder zur Gesichtsfeldbestimmung möglich seien, da sich der Kläger im Wachkoma-Zustand befinde. Diagnostiziert wurde eine Optikusatrophie beidseits (Schwund des Sehnervs).
Der ärztliche Gutachter des Beklagten Dr. med. B. verwies in seiner Stellungnahme vom 14. September 2016 auf die berichteten Angaben, wonach ein Blickkontakt möglich sei und die Fixierung auf einen Ansprechpartner zeitweise im Sinne einer nonverbalen Kommunikation gelinge. Er schloss eine Blindheit oder hochgradige Sehbehinderung aus.
Mit Bescheid vom 22. September 2016 lehnte der Beklagte die Feststellung der Voraussetzungen für das beantragte Merkzeichen Bl ab. Aufgrund der schweren Hirnleistungsminderung sei eine sichere Einstufung des GdB für eine mögliche Sehbehinderung nicht möglich, es könne jedoch das Vorliegen einer Blindheit bzw. hochgradigen Sehbehinderung ausgeschlossen werden. Dagegen legte die Betreuerin des Klägers für ihn am 28. September 2016 Widerspruch ein und verwies auf ein Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 11. August 2015 (B 9 BL 1/14 R), wonach betroffene Personen mit dem Krankheitsbild „apallisches Syndrom“ das jeweilige Landesblindengeld erhalten könnten. Auch cerebrale Störungen des Sehvermögens genügten.
Die ärztliche Gutachterin des Beklagten S1 gab am 8. November 2016 an, dass eine exakte Beurteilung einer eventuellen Beeinträchtigung der Sehfähigkeit nicht möglich sei. Blindheit sei anhand der vorliegenden Befunde aber auszuschließen. Die Fähigkeit, ein Gegenüber zu fixieren und Vorgängen im Raum mit Blicken zu folgen, sei als hinreichender Beleg zumindest für ein Restsehvermögen solcher Qualität zu werten, dass sich die Zuerkennung des Merkzeichens verbiete. Dem folgend wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 21. November 2016 zurück.
Hiergegen hat der Kläger am 5. Dezember 2016 Klage vor dem Sozialgericht (SG) M. erhoben und zur Begründung ausgeführt, die Einschätzung des Beklagten stehe nicht in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BSG. Hiernach setze eine der Blindheit entsprechende gleichschwere Störung des Sehvermögens keine spezifische Sehstörung voraus. Dementsprechend komme es darauf an, ob es beim Kläger an der umfassenden Möglichkeit zur Sinneswahrnehmung „Sehen“ dahingehend mangele, dass eine optische Reizaufnahme und deren weitere notwendige Verarbeitung im Bewusstsein fehle. Es müsse vorliegend davon ausgegangen werden, dass angesichts der Hirnschädigung eine Fähigkeit zur Verarbeitung optischer Reize beim Kläger fehle. Das Merkzeichen Bl sei wie beantragt festzustellen.
Das SG hat Befundberichte eingeholt. Dipl.-Med. W1 hat am 28. August 2019 nochmals darauf hingewiesen, dass ein Visus nicht erhoben werden könne. Blindheit sei aufgrund der massiven Optikusatrophie wahrscheinlich. Dr. H1 hat im Befundbericht vom 27. August 2019 berichtet: Die Sehschärfe könne nicht untersucht werden, es liege eher kortikale Blindheit vor (Rindenblindheit). Der Kläger befinde sich im Wachkoma, es bestehe allenfalls manchmal der Verdacht auf einen kurzen Blickkontakt mit schwimmenden Bulbi. Es liege kein objektivierbarer Beweis für eine mögliche Verarbeitung von Sinneswahrnehmungen vor. Eine sichere verbale oder nonverbale Kommunikation sei nicht möglich. Eine optische Reizaufnahme und deren weitere Verarbeitung im Bewusstsein fehle. Dipl.-Med. D. hat am 17. September 2019 angegeben, dass eine Verarbeitung von aufgenommenen Signalen durch den Kläger nicht möglich sei. In einer beigefügten Epikrise des Klinikums M., Zentrum für Innere Medizin, vom 22. März 2019 ist angegeben, dass ein Lichtreflex beidseitig vorliege.
Der Beklagte hat vorgetragen, dass die Voraussetzungen von Blindheit bei visueller Agnosie, also dem gestörten Verarbeiten visueller Informationen, nicht festzustellen seien. Die Frage zur visuellen Wahrnehmung und der Verarbeitung der aufgenommenen Signale sei schwer zu beantworten, da sich der Kläger im Wachkoma befinde. Die in den medizinischen Befunden angegebenen Blickkontakte sprächen jedoch gegen eine der Blindheit gleichzusetzende Störung. Anzumerken sei zudem, dass das mit dem Merkzeichen Bl angestrebte Landesblindengeld keine Personen erhielten, bei denen die Nutzung der Leistung durch oder für sie zum Ausgleich des durch die Sehbehinderung bedingten Mehraufwands nicht möglich sei. Der anspruchsvernichtende Einwand sei eingeräumt, wenn bestimmte Krankheitsbilder blindheitsbedingte Aufwendungen von vornherein ausschlössen, beispielsweise dauernde Bewusstlosigkeit oder Koma.
Das SG hat mit Urteil vom 25. November 2019 den Bescheid des Beklagten vom 22. September 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. November 2016 aufgehoben und den Beklagten verurteilt, beim Kläger ab Juli 2016 das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen Bl festzustellen. Im Hinblick auf die fehlende Mitwirkungsmöglichkeit des Klägers seien Visus oder Einengung des Gesichtsfeldes nicht feststellbar. Dennoch sei die Kammer davon überzeugt, dass Blindheit im Sinne von Teil A Nr. 6 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) vorliege. Im augenärztlichen Befundbericht aus August 2019 werde eingeschätzt, dass Blindheit aufgrund der massiven Optikusatrophie wahrscheinlich sei. Es handele sich nicht um eine gnostische Störung.
Gegen das ihm am 30. Dezember 2019 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 15. Januar 2020 beim Landessozialgericht (LSG) Berufung eingelegt. Er führt unter Bezugnahme auf das Urteil des BSG vom 24. Oktober 2019 (B 9 SB 1/18 R) aus, dass die Unfähigkeit zur Sinneswahrnehmung, die aus einer visuellen Agnosie oder anderen gnostischen Störungen resultiere, nicht zur Annahme von Blindheit nach Teil A Nr. 6 VMG ausreiche. Blindheit sei auf die Störungen des Sehapparats beschränkt und erfasse keine gnostischen Störungen des visuellen Erkennens. In der beigefügten Stellungnahme der ärztlichen Gutachterinnen des Beklagten Dipl.-Med. H2 (Fachärztin für Augenheilkunde) und Dr. med. S2 vom 11. Dezember 2019 wird angegeben, dass allein die Diagnose einer Optikusatrophie keine Rückschlüsse auf das Ausmaß einer eventuell resultierenden Sehbehinderung zulasse. Objektive Verfahren zur Sehschärfenbestimmung erforderten ein Mindestmaß an Mitarbeit, die der Kläger nicht aufzubringen vermöge. Die dokumentierten beidseitigen Pupillenreaktionen auf Licht schlössen Schwarzblindheit allein aufgrund der Sehnervenschädigung aus. Bezüglich der Feststellung des Ausmaßes der Sehbehinderung liege objektive Beweislosigkeit vor. Unter Berücksichtigung der zahlreichen Dokumente, die eine prompte Lichtreaktion, Fixation und Augenfolgebewegungen beschrieben, sei Schwarzblindheit sicher auszuschließen und Blindheit nicht wahrscheinlich.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 25. November 2019 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Klägerseite trägt vor, dass die Fähigkeit zur bewussten Wahrnehmung von optischen Reizen bei dem Kläger nicht mehr vorhanden sei. Es liege eine eindeutige augenärztliche Stellungnahme dahingehend vor, dass eine massive Optikusatrophie bestehe. Damit sei aber das Sehorgan selbst betroffen. Es fehle also die Fähigkeit zur optischen Reizaufnahme und -verarbeitung.
Der Senat hat ein neurologisches und neurophysiologisches Sachverständigengutachten durch PD Dr. med. W2 (Direktor der Klinik für Neurologie und Fachübergreifende Frührehabilitation im BG Klinikum B. H.) erstatten lassen. Dieser hat in dem Gutachten vom 14. Juli 2021 (Untersuchung am 18. Februar 2021) berichtet: In der momentanen Situation erfolge eine Kommunikation über einen Kommunikationstrainer über Augenbewegungen. Es werde zudem berichtet, dass der Kläger eine Reaktion auf laute Geräusche mit Zusammenzucken zeige, wobei jedoch keine gezielte, beabsichtigte oder gerichtete Reaktion zu erkennen sei, selten fänden sich Reaktionen auf Ansprache, ca. 1- bis 2-mal pro Tag mit gezielter Reaktion und Augenfolgebewegungen, zudem gebe es Reaktionen auf schmerzhafte Reize mit Zusammenzucken und mimischer Aktivität sowie Herzfrequenzanstieg. Bei Kommunikationsversuchen zeigte sich manchmal eine gezielte Reaktion/Antwort mit dem linken Zeigefinger. Bei der Untersuchung sei die Blickmotorik nicht sicher beurteilbar gewesen, gelegentliches Grimassieren und Gesichtsbewegungen seien erkennbar gewesen sowie eine gezielte Reaktion auf Schmerzreize. Auf Ansprechen sei eine Beugung und Streckung des linken Zeigefingers erfolgt. Bei bekannten Personen und einmalig auch beim Gutachter seien gezielte Augenfolgebewegungen aufgetreten. Ein Restsehvermögen sei vorhanden. Es liege – in Abgrenzung zum sog. Wachkoma – der Verdacht auf ein Minimally conscious state (minimaler Bewusstseinszustand) vor. Bei einem solchen bestehe ein minimaler, aber definierter Verhaltensbeweis von Selbst- oder Umweltwahrnehmung. Bei der Visuell evozierten Potentiale (VEP) mit Blitzbrille (Überprüfung der Reizverarbeitung zwischen Auge und Sehrinde) seien bei Reizung Wellen sicher ableitbar gewesen. Es ergäben sich Hinweise auf eine demyelinisierende Schädigung im Bereich der Sehbahnen beidseits. Es handele sich daher um eine inkomplette Schädigung der Sehbahnen beidseits. Eine komplette Läsion sei aufgrund der vorhandenen reproduzierbaren blitzlichtevozierten VEP ausgeschlossen. Im Ergebnis wiesen sowohl die ableitbaren blitzevozierten VEP als auch die klinisch-neurologische Untersuchung und die anamnestischen und fremdanamnestischen Angaben mit erfolgreicher Nutzung eines visuellen Kommunikationstrainers sowie die Aktenlage auf eine positive Reaktion auf visuelle Reize hin. Somit liege Blindheit oder ein vollständiger Ausfall der Sehrinde (Rindenblindheit) nicht vor. In der ergänzenden Stellungnahme vom 29. Dezember 2021 hat der Sachverständige angegeben, dass im Rahmen der Untersuchung eine gezielte Augenfolgebewegung habe beobachtet werden können; ein Restsehvermögen habe sich gefunden. Mittels einer Blitzbrille habe zumindest eine gewisse strukturelle Integrität der Sehbahnen nachgewiesen werden können, ebenfalls hätten sich Hinweise auf eine Verarbeitung visueller Reize in höheren kognitiven Zentren gefunden. Visuelle Reize würden in der primären Sehrinde verarbeitet, eine doppelseitige Zerstörung der gesamten primär-visuellen Rinde bedinge eine visuelle Agnosie oder kortikale Blindheit. Sowohl im neurologischen Status als auch in der neurophysiologischen Untersuchung sei eine inkomplette Läsion des visuellen Systems beidseits zu finden gewesen, d.h. ein nahezu vollständiger Ausfall der Sehrinde liege nicht vor.
Die Beteiligten haben schriftsätzlich ihr Einverständnis zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch die Berichterstatterin als Einzelrichterin erklärt.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte des Beklagten ergänzend verwiesen. Diese sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte den Rechtsstreit nach § 155 Abs. 3 und 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sowie §§ 124 Abs. 2, 153 Abs. 1 SGG durch die Berichterstatterin als Einzelrichterin durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben und keine Umstände vorliegen, die gleichwohl eine Entscheidung durch den gesamten Senat gebieten.
Die Berufung des Beklagten ist nach § 143 SGG statthaft und auch im Übrigen zulässig; insbesondere ist sie gemäß § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegt.
Gegenstand der Berufung ist das Urteil des SG vom 25. November 2019 und der Ablehnungsbescheid des Beklagten vom 22. September 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. November 2016. Der Kläger erstrebt mit seiner Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 SGG) unter Aufhebung der Ablehnungsentscheidung die Verpflichtung des Beklagten, mit Wirkung ab dem 4. Juli 2016 (Antragstellung) die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs Blindheit festzustellen, was das SG dem Klagebegehren entsprechend ausgesprochen hat. Dagegen wendet sich der Beklagte mit seiner Berufung. Maßgeblich ist der Sach- und Streitstand im Zeitpunkt der Entscheidung des Senats (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Auflage 2020, § 54 Rn. 34).
Die Berufung des Beklagten ist begründet. Der Ablehnungsbescheid vom 22. September 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. November 2016 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 54 Abs. 2 SGG). Das SG hat den Bescheid zu Unrecht aufgehoben. Der Kläger, bei dem die Schwerbehinderteneigenschaft vorliegt, hat keinen Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs Blindheit.
Rechtsgrundlage für die Feststellung der gesundheitlichen Merkmale als Voraussetzung für die Inanspruchnahme eines Nachteilsausgleichs sind § 152 Abs. 1 und 4 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch – Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen (SGB IX) in der ab dem 1. Januar 2018 geltenden Fassung (inhaltsgleich dazu § 69 Abs. 1 und 4 SGB IX in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung) und die hierzu ergangenen versorgungsmedizinischen Vorschriften. Nach § 152 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4 SGB IX stellen die zuständigen Behörden auf Antrag neben einer Behinderung auch weitere gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für behinderte Menschen sind. Zu diesen Merkmalen gehören diejenigen für den Nachteilsausgleich Blindheit nach Teil A der als Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) erlassenen „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ (VMG) (in der Fassung vom 10. Dezember 2008; zuletzt geändert am 12. Dezember 2019), für die im Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen Bl einzutragen ist (§ 3 Abs. 1 Nr. 3 Schwerbehindertenausweisverordnung). Ermächtigungsgrundlage insbesondere zum Erlass von Vorgaben für die Beurteilung von Nachteilsausgleichen durch Rechtsverordnung ist § 153 Abs. 2 SGB IX (bzw. § 70 Abs. 2 SGB IX aF). Die bereits zuvor auf Grundlage des damaligen § 30 Abs. 17 Bundesversorgungsgesetz erlassene VersMedV bleibt weiterhin anwendbar, vgl. § 241 Abs. 5 SGB IX.
Die Grundsätze für die Feststellung der gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs der Blindheit werden in Teil A Nr. 6 Buchst. a), b) und c) VMG verbindlich festgelegt. Nach Buchst. a) ist blind ein behinderter Mensch, dem das Augenlicht vollständig fehlt. Als blind ist auch ein behinderter Mensch anzusehen, dessen Sehschärfe auf keinem Auge und auch nicht beidäugig mehr als 0,02 (1/50) beträgt oder wenn andere Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad vorliegen, dass sie dieser Beeinträchtigung der Sehschärfe gleichzustellen sind. Eine gleichzusetzende Sehbehinderung liegt nach den Richtlinien der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG) bei bestimmten Einengungen des Gesichtsfeldes, großen Skotomen sowie homonymen, bitemporalen und binasalen Hemianopsien vor (siehe Buchst. b). Blind ist nach Buchst. c) schließlich auch ein behinderter Mensch mit einem nachgewiesenen vollständigen Ausfall der Sehrinde (Rindenblindheit), nicht aber mit einer visuellen Agnosie oder anderen gnostischen Störungen.
Blindheit im Sinne von Teil A Nr. 6 Buchst. a) bis c) VMG ist danach beschränkt auf Störungen des Sehapparates. Gnostische – neuropsychologische – Störungen des visuellen Erkennens führen nicht zur Blindheit. Der Begriff der Blindheit im Schwerbehindertenrecht braucht nicht zwangsläufig deckungsgleich zu sein mit dem der Blindheit in anderen Gesetzen, insbesondere in einigen landesrechtlichen Vorschriften zum Blindengeld (zum Ganzen siehe: BSG, Urteil vom 24. Oktober 2019 – B 9 SB 1/18 R – juris Rn. 14 ff.).
Durch ihre wörtliche Bezugnahme auf die Richtlinien der DOG beschreiben die VMG Defekte im Funktionssystem des optischen Apparates bzw. in der Verarbeitung optischer Reize in der Sehrinde. Andere cerebrale Störungen wie eine "visuelle Agnosie oder andere gnostische Störungen" genügen nicht (so ausdrücklich Teil A Nr. 6 Buchst. c VMG), was Folge der durch die VMG vorgenommenen Differenzierung nach einzelnen Funktionssystemen – hier Auge bzw. Gehirn einschließlich Psyche – ist. Als Folge dieser Systematik setzt das Merkzeichen Bl Störungen des Sehapparats im organischen Sinn voraus. Für gnostische – neuropsychologische – Störungen des visuellen Erkennens, die schwerpunktmäßig anderen Funktionsbereichen zuzuordnen sind, stehen im Schwerbehindertenrecht dagegen andere Nachteilsausgleiche passgenau zur Verfügung, um die gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern (BSG, Urteil vom 24. Oktober 2019, a.a.O., juris Rn. 19 f., mit weiteren Ausführungen zur visuellen Agnosie [Seelenblindheit] als neuropsychologische Störung). Eine Gleichstellung ophthalmologischer und neurologischer Beeinträchtigungen bei den gesundheitlichen Merkmalen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens Bl ist weder allgemein unter Gleichbehandlungsgesichtspunkten noch aus Gründen der Einheit der Rechtsordnung geboten (zum Ganzen siehe: BSG, Urteil vom 24. Oktober 2019, a.a.O., juris Rn. 24 ff.).
Die von der Klägerseite herangezogene Entscheidung des BSG vom 11. August 2015 (B 9 BL 1/14 R) beschreibt dagegen blindengeldrelevante Störungen des Sehvermögens nach dem – zu einigen anderen Blindengeldgesetzen inhaltsgleichen – Art. 1 des Bayerischen Blindengeldgesetzes; die Differenzierung zwischen „Erkennens- und Benennungsstörungen“ habe hier keinen normativen Niederschlag gefunden (BSG, Urteil vom 11. August 2015, a.a.O., juris Rn. 19; dem folgend BSG, Urteil vom 14. Juni 2018 – B 9 BL 1/17 R – juris Rn. 13 f.: der medizinische Begriff der Blindheit aus Teil A Nr. 6 VMG sei keine Voraussetzung für die „Blindheit“ im Sinne des Bayerischen Blindengeldgesetzes). Die Bewertung nach den VMG unterscheide sich aber von den landesrechtlichen Vorschriften zum Blindengeld, die keine Bezugnahme auf die ophthalmologischen Grundsätze enthalten (so ausdrücklich: BSG, Urteil vom 24. Oktober 2019, a.a.O., juris Rn. 15).
Der Kläger ist nicht blind nach Teil A Nr. 6 Buchst. a) VMG und gehört auch nicht zum Personenkreis mit einer dieser Sehbeeinträchtigung gleichzusetzenden Sehbeeinträchtigung nach Teil A Nr. 6 Buchst. b) VMG. Solche Beeinträchtigungen sind nicht bewiesen. Bei fehlender Reaktion auf visuelle Reize und fehlender Kommunikationsfähigkeit kann bei dem Kläger weder eine Sehschärfe noch die Gesichtsfeldfunktion überprüft werden, was auch die behandelnde Fachärztin für Augenheilkunde Dipl.-Med. W1 in den Befundberichten bestätigt hatte. Die von ihr diagnostizierte „massive“ Optikusatrophie beidseitig (Schwund des Sehnervs), welche eine Erblindungsursache darstellen kann, genügt nicht zum Nachweis einer Sehbeeinträchtigung im Sinne von Teil A Nr. 6 Buchst. a) oder b) VMG. Sie selbst hält eine Blindheit lediglich für „wahrscheinlich“. Die ärztliche Gutachterin des Beklagten Dipl.-Med. H2, gleichfalls Fachärztin für Augenheilkunde, hat hierzu nachvollziehbar angegeben, dass allein die Diagnose einer Optikusatrophie keine Rückschlüsse auf das Ausmaß einer eventuell daraus resultierenden Sehbehinderung zulasse. Jedenfalls würden die mehrfach dokumentierten beidseitigen prompten Pupillenreaktionen auf Licht Schwarzblindheit allein aufgrund einer Sehnervenschädigung ausschließen. Auch der vom Senat beauftragte Sachverständige PD Dr. med. W2 geht in seinem Gutachten vom 14. Juli 2021 davon aus, dass ein Restsehvermögen vorhanden ist. Bei der Begutachtung habe er gezielte Augenfolgebewegungen des Klägers feststellen können, was bereits Angehörige und Pflegedienstmitarbeiter mehrfach angegeben hatten. Weder die konkrete Sehschärfe noch Gesichtsfeldeinengungen bzw. -ausfälle (Skotome, Hemianopsien) lassen sich bei dem Kläger bestimmen, was die Mediziner durchgehend bestätigen. Weitere Ermittlungen dahingehend sind dem Senat demnach nicht möglich. Die Beweislosigkeit geht zu Lasten des Klägers, da diesem als Anspruchsteller die Darlegungs- und Beweislast obliegt (vgl. BSG, Urteil vom 24. Oktober 2019, a.a.O., juris Rn. 29).
Der Kläger ist nicht blind im Sinne von Teil A Nr. 6 Buchst. c) VMG. Danach ist blind auch ein behinderter Mensch mit einem nachgewiesenen vollständigen Ausfall der Sehrinde (Rindenblindheit), nicht aber mit einer visuellen Agnosie oder anderen gnostischen Störungen. Diese spezielle Form der Blindheit infolge beidseitiger Zerstörung der Sehzentren in den Hinterhauptlappen des Gehirns liegt bei dem Kläger nicht vor. Der Senat stützt sich auch hier auf das Gutachten von PD Dr. med. W2 vom 14. Juli 2021 und die ergänzende gutachterliche Stellungnahme vom 29. Dezember 2021. Danach habe mittels einer Blitzbrille zumindest eine gewisse strukturelle Integrität der Sehbahnen nachgewiesen werden können, ebenfalls hätten sich Hinweise auf eine Verarbeitung visueller Reize in höheren kognitiven Zentren ergeben. Ein vollständiger Ausfall der Sehrinde im Sinne einer Rindenblindheit könne nicht festgestellt werden. Vielmehr handele es sich um eine inkomplette Schädigung der Sehbahnen beidseits, eine komplette Läsion erachtet der Gutachter aufgrund der vorhandenen reproduzierbaren blitzlichtevozierten VEP als ausgeschlossen. Nach Überzeugung des Senats ist damit ein vollständiger Ausfall der Sehrinde nicht nachgewiesen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.