L 1 RS 15/17

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
1. Instanz
SG Halle (Saale) (SAN)
Aktenzeichen
S 8 RS 21/15
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 1 RS 15/17
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Zuständig für die Feststellung der Rechtswidrigkeit eines Feststellungsbescheids nach dem AAÜG gemäß § 48 Abs 3 SGB X ist der Träger des Zusatzversorgungssystems. Dieser trägt die objektive Beweislast dafür, dass der von ihm beanstandete Feststellungsbescheid nach dem AAÜG iSv § 45 SGB X von Anfang an rechtswidrig war.

2. Es muss im Wege des Vollbeweises nachgewiesen sein, dass die Voraussetzungen für die erfolgte fiktive Einbeziehung in das AAÜG nicht vorlagen.

3. Wenn die vorliegenden Betriebsunterlagen nicht ausreichen, um bei einem aus mehreren unselbstständigen Teilbetrieben bestehenden Kombinat im Wege der "Gepräge-Prüfung" den Hauptzweck des VEB zum 30. Juni 1990 zu ermitteln, geht dies im Feststellungsverfahren nach § 48 Abs 3 SGB X zulasten des Zusatzversorgungsträgers.

4. Auf eine "Gepräge-Prüfung" kann nur verzichtet werden, wenn im Wege des Vollbeweises feststeht, dass keiner der Betriebsteile mit der industriellen Massenproduktion im Bauwesen beschäftigt war (hier: VEB Straßen-, Brücken- und Tiefbaukombinat Halle).

 

Das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 22. August 2017 und der Bescheid der Beklagten vom 20. Juli 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 3. November 2015 werden aufgehoben.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers für beide Rechtszüge.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand:

 

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte die erfolgte Feststellung von Entgelten für Zeiten der Zugehörigkeit zu einem Zusatzversorgungssystem nach dem Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz (AAÜG) für die Zeit vom 17. September 1973 bis 30. Juni 1990 als rechtswidrig feststellen durfte.

 

Der 1951 geborene Kläger hatte am 30. Oktober 1973 erfolgreich ein Hochschulstudium in der Fachrichtung Technologie der Bauproduktion abgeschlossen und den akademischen Grad „Diplom-Ingenieur“ erworben. Vom 17. September 1973 bis 30. Juni 1990 war er beim VEB S. in H. (im Folgenden: VEB S.) tätig. Er war zunächst als „Technologe BT III“ [Betriebsteil]“ bzw. später im Kombinatsbetrieb [KB] 3 beschäftigt. Zum 1. März 1980 erfolgte der Einsatz als Gruppenleiter Technologie Tiefbau. Ab dem 1. September 1982 war er als Abteilungsleiter Technologie im Kombinatsbetrieb Mitte tätig. Ausweislich der Dienstzeugnisse war er zunächst in der technologischen Bearbeitung von Brücken- und Tunnelbauwerken sowie Hallenbauten eingesetzt. Ab 1980 übernahm er die Gruppenleitung der Technologie-Tiefbau mit dem Schwerpunktvorhaben „HAN Erschließung des Wohnkomplexes S.“. Vom 1. Juli bis 31. August 1990 war der Kläger als Abteilungsleiter Technik bei der H GmbH beschäftigt.

 

Der Bruttoverdienst überstieg ab 1974 den Jahresbetrag von 7.200 M. Der Kläger entrichtete im Zeitraum vom 1. Juni 1974 bis 30. Juni 1990 Beiträge zur Freiwilligen Zusatzrentenversicherung (FZR). Er wurde nicht in die Zusätzliche Altersversorgung der technischen Intelligenz (AVItech) einbezogen.

 

Der VEB S. bestand ab 1979 aus juristisch unselbstständigen Betriebsteilen und der Kombinatsleitung. Die Kombinatsbetriebe waren: VEB Betonwerk  K., VEB Straßen- und Tiefbau W2., VEB Ingenieurtiefbau M1., VEB Straßenbau M2, VEB Ingenieurtiefbau N, VEB Landschaftsgestaltung N, VEB Ingenieurtief und -brückenbau W1, VEB Grünanlagenbau  Q., VEB Landschaftsgestaltung M1.

 

Das Statut des VEB S. liegt nicht vor. Dieser war nach dem Statistischen Betriebsregister der DDR dem wirtschaftsleitenden Organ „Rat des Bezirks Halle“ zugeordnet. Er gehörte nach der Systematik der Volkswirtschaftszweige der DDR zum Wirtschaftsbereich 2 (= Bauwirtschaft) und dort zur Wirtschaftsgruppe 20291 (= Tiefbaubetriebe).

 

Der VEB S. war im Rahmen der „Verfügung über die Erhöhung der Wirksamkeit der Angebots- und Wiederverwendungsprojektierung im Bauwesen“ (Nr. 3/76 des Ministeriums für Bauwesen) in folgenden Bereichen gelistet: Wohnungs- und Gesellschaftsbau sowie Straßen-, Ingenieur- und Tiefbau (u.a. bauliche Anlagen für Freiflächenbegrenzung und -gestaltung, Entwässerungs- und Fernwärmeleitungen, Kabelanlagen, Sammelkanäle, Wohnstraßen – Quelle: „Katalog Bauwesen der Bauakademie der DDR“, Stand 1980).

 

Die vorläufige Schlussbilanz des VEB S. zum 28. Februar 1990 wies nach der Mitteilung des Ministeriums der Finanzen und Preise vom 9. April 1990 eine Bilanzsumme von 282.929 TM und einen Gewinn von 5.538 TM aus. Laut Vermerk des ehemaligen Kombinatsdirektors F. und des Rev.-Oberinspektors R. vom 9. April 1990 genüge diese nicht den Anforderungen einer Bilanzprüfung. Eine Auflistung des Statistischen Amtes der DDR, Abteilung Rechnungswesen vom 6. April 1990 wies für die Betriebsteile die jeweilige Bilanzsumme zum 1. März 1990 aus. Auf die H GmbH entfielen 65.759 M Bilanzgewinn. Der VEB S. war am 27. April 1990 in 9 Kapitalgesellschaften in Form von GmbH umgewandelt worden. Diese waren am 3. und 9. Juli 1990 in das Handelsregister eingetragen worden. In den jeweiligen Gesellschaftsverträgen waren die Gegenstände der Unternehmen genannt. Nach dem Gesellschaftsvertrag des Unternehmens H GmbH war dies die „Vorbereitung und Ausführung von Bauvorhaben des Ingenieur- und Verkehrsbaus“.

 

Mit Feststellungsbescheid vom 30. März 2004 in der Fassung des Änderungs-Feststellungsbescheids vom 4. Januar 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29. März 2012 hatte die Beklagte die Zugehörigkeit des Klägers zur AVItech und die im Zeitraum vom 17. September 1973 bis 30. Juni 1990 erzielten Entgelte festgestellt. Mit weiterem Bescheid vom 26. Juni 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24. September 2012 hatte die Beklagte die nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) beantragte weitere Feststellung von Jahresendprämien abgelehnt. Dagegen hat der Kläger erfolglos Klage beim Sozialgericht Halle erhoben (S 8 RS 36/12). Das Berufungsverfahren ist ausgesetzt worden (L 1 RS 20/14).

 

Die Beklagte kam am 6. Juli 2015 „nach weiteren Ermittlungen“ zu der „geänderten Rechtsauffassung“, dass der VEB S. nicht zu den versorgungsrelevanten Wirtschaftseinheiten gezählt habe. Dabei wurde ein Artikel „Die Entwicklung des VEB S.es und seine Perspektive“ von dem Genossen Ober-Ingenieur F. (veröffentlicht 1981) zu den Verwaltungsakten genommen. Dieser war Teil der Veröffentlichung „Der VEB S. H. zwischen dem VIII. und X. Parteitag der SED“ (Redaktionsschluss 30. April 1981).

 

Auf das Fehlen der betrieblichen Voraussetzungen für eine fiktive Einbeziehung wies die Beklagte in dem Verfahren L 1 RS 20/14 unter dem 13. Juli 2015 hin.

 

Mit Bescheid vom 20. Juli 2015 stellte die Beklagte fest, dass das AAÜG nicht anwendbar sei. Die am 30. Juni 1990 ausgeübte Beschäftigung beim VEB S. sei nicht in einem volkseigenen Produktionsbetrieb (industrielle Produktion oder Bauwesen) ausgeübt worden (Hinweis auf Bundessozialgericht [BSG], Urteile vom 8. Juni 2004, B 4 RA 57/03 R; vom 19. Juli 2011, B 5 RS 7/10 R). Hauptzweck des VEB S. seien Erschließungsarbeiten im Wohnungs- und Gesellschaftsbau sowie Tiefbauleistungen und Brückenbau gewesen (Hinweis auf HRB der Rechtsnachfolger). Die festgestellten Zeiten und Entgelte könnten aber nicht nach § 45 SGB X zurückgenommen werden. Es verbleibe bei den rechtswidrig festgestellten Pflichtbeitragszeiten nach dem AAÜG. Weitere Rechte (höhere Entgelte) könnten nicht hergeleitet werden.

 

In seinem dagegen gerichteten Widerspruch legte der Kläger dar, was zu den Hauptaufgaben des VEB S. gehört habe, u.a. die Fertigung von Fertigbauelementen für eine Sammelkanalbauweise, stadttechnische Erschließung von Wohnkomplexen (Bau von Straßen, Fußwegen, Entwässerungsleitungen und Grünflächen sowie gesellschaftlicher Einrichtungen), Brücken- und Tunnelbauwerke (z.B. Bahnhof Halle-Süd) in Fertigteilbauweise, Neubautrassen für die Straßenbahn, Herstellung und Lieferung von Transportbeton auf Baustellen, Herstellung und Lieferung glasfaserverstärkter Polyesterharzprodukte.

 

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 3. November 2015 zurück. Ergänzend führte sie aus, der Hauptzweck des juristisch rechtsfähigen Kombinats sei am 30. Juni 1990 nicht auf die massenhafte Produktion von Sachgütern und Bauwerken wie z.B. die Errichtung von Plattenbauten ausgerichtet gewesen.

 

Dagegen hat der Kläger am 3. Dezember 2015 Klage beim Sozialgericht Halle erhoben. Er hat ergänzend ausgeführt: Der VEB S. habe dazu beigetragen, einen schnelleren planmäßigen Aufbau der DDR zu ermöglichen. Die Tiefbauerschließung für den komplexen Wohnungsbau sei rationalisiert worden (Hinweis auf den o.g. Artikel). Für die Erschließungsarbeiten seien zahlreiche Fertigteile ausschließlich im VEB S. produziert worden.

 

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 22. August 2017 abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Die Beklagte habe zulässigerweise ihre Feststellungsbescheide überprüfen dürfen. Die Zuerkennung von Zusatzversorgungszeiten sei von Anfang an fehlerhaft gewesen. Es habe sich bei dem VEB S. nicht um einen industriellen Bau- oder Produktionsbetrieb nach dem fordistischen Modell gehandelt. Zu den Aufgaben hätten Leistungen im Straßenbau einschließlich Instandsetzungen, städtische Verkehrslösungen mit Tief- und Brückenbau, Versorgungsleitungen, Schächten und Anschlüssen gehört. Dies belege auch die Zuordnung des Betriebs über die Wirtschaftsgruppen-Schlüssel-Nr. 41180 zum Bereich 4 – „Verkehrswesen“. Es sei nicht nur der Einsatz standardisierter Bauteile erfolgt. Erschließungsleistungen für den komplexen Wohnungsbau seien keine „Bauwerke“. Damit seien erst die Voraussetzungen für die spätere massenhafte Errichtung von Wohnungen geschaffen worden. Eine Massenproduktion von Neubauten durch den VEB S. sei nicht erfolgt. Tiefbaumaßnahmen fänden nur angepasst an die örtlichen Gegebenheiten statt. Im Verkehrswegebau und im Tiefbau seien keine massenhaften, für die Endverbraucher gefertigten Sachgüter hergestellt worden. Schließlich habe auch die Produktion dem Betrieb nicht das Gepräge gegeben.

 

Gegen das ihm am 4. September 2017 zugestellte Urteil hat der Kläger am 2. Oktober 2017 Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Sachsen-Anhalt eingelegt. Er hat ausgeführt: Der VEB S. sei dem Wirtschaftsbereich 2 (Bauwirtschaft) zugeordnet gewesen; dies sei maßgebliches Indiz für einen volkseigenen Produktionsbetrieb. Es sei auch eine Massenproduktion von Fertigbauteilen erfolgt. Unschädlich sei, dass jeweils die örtlichen Verhältnisse zu berücksichtigen gewesen seien. Auch komplexe Erschließungsarbeiten seien vom Begriff des „Bauwerks“ erfasst (Hinweis auf TGL 7798 DDR – Flächenberechnung Gebäude und bauliche Anlagen). Auch bauvorbereitende Tätigkeiten gehörten zur Produktionsvorbereitung und -realisierung (Hinweis auf BSG, Urteil vom 19. Juli 2011, B 5 RS 4/10 R). Aus der Veröffentlichung „Der VEB S. H. zwischen dem VIII. und X. Parteitag der SED“ ergebe sich, dass die Kombinatsbetriebe komplexe Tiefbaumaßnahmen und Erschließungsbauarbeiten im Wohnungsbau durchgeführt hätten.

 

Der Kläger beantragt,

Unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Halle vom 22. August 2017, Aktenzeichen: S 8 RS 21/15, wird der Bescheid der Beklagten vom 20. Juli 2015 in Gestalt der Widerspruchsentscheidung vom 3. November 2015 aufgehoben.

Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.

 

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

 

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Ergänzend hat sie ausgeführt: Brücken und Straßen seien nicht in einem automatisierten und standardisierten Herstellungsprozess serienmäßig wiederkehrend errichtet, sondern den geographischen Gegebenheiten angepasst worden. Erschließungsarbeiten seien bauvorbereitend und deshalb als bauliche Dienstleistung zu bewerten. Nicht jeder Betrieb des Wirtschaftsbereichs 2 (Bauwirtschaft) sei ein Produktionsdurchführungsbetrieb des Bauwesens gewesen. Aus der Veröffentlichung „Der VEB S. H. zwischen dem VIII. und X. Parteitag der SED“ ergebe sich ein sehr differenziertes Betriebsprofil des Kombinats.

 

Auf die Anforderung des Senats zur Übersendung von weiteren Betriebsunterlagen hat die Beklagte auf die Verwaltungsakte ab der roten Trennlasche verwiesen; ferner hat sie ein Konvolut Betriebsunterlagen vorgelegt. Weitere Unterlagen seien nicht vorhanden und weitere Ermittlungsmöglichkeiten könnten nicht aufgezeigt werden.

 

Der Senat hat die Gerichtsakte L 1 RS 20/14 beigezogen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der Entscheidungsfindung des Senats gewesen.

 

Entscheidungsgründe:

 

A.

 

Die Berufung des Klägers ist nach § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft und auch im Übrigen zulässig gemäß § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG, da die beabsichtigte Aussparung laufende Rentenleistungen für mehr als ein Jahr betreffen würde.

 

B.

 

Die Berufung des Klägers hat Erfolg.

 

Der Bescheid der Beklagten vom 20. Juli 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 3. November 2015 ist rechtswidrig und beschwert den Kläger i.S. der §§ 153 Abs. 1, 54 Abs. 2 Satz 1 SGG. Der Feststellungsbescheid vom 30. März 2004 in der Fassung des Änderungs-Feststellungsbescheids vom 4. Januar 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29. März 2012 durfte nicht als von Anfang an rechtswidrig festgestellt werden.

 

I.

 

Die Voraussetzungen des § 48 Abs. 3 Satz 2 SGB X liegen hier dem Grunde nach vor. Nach dieser Regelung darf, wenn einem rechtmäßigen begünstigenden Verwaltungsakt (=Rentenbescheid nach dem SGB VI) ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt (=Feststellungsbescheid nach dem AAÜG) zugrunde liegt, der nach § 45 SGB X nicht zurückgenommen werden kann, die neu festzustellende Leistung (=jährliche Rentenanpassung gemäß § 65 SGB VI) nicht über den Betrag hinausgehen, wie er sich der Höhe nach ohne Berücksichtigung der Bestandskraft ergibt.

 

Dadurch wird erreicht, dass ein - wegen der Unzulässigkeit der Rücknahme eines rechtswidrigen Bescheids - bestehender Bestandsschutz gewahrt bleibt. Jedoch wird durch die „Aussparung“ von künftigen Änderungen zugunsten des Begünstigten der zu Unrecht gewährte Vorteil im Laufe der Zeit abgeschmolzen (vgl. Schütze in: SGB X, Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz, 9. Aufl., § 48 SGB X, Rdnr. 34).

 

1.

 

Der Feststellungsbescheid vom 30. März 2004 in der Fassung des Änderungs-Feststellungsbescheids vom 4. Januar 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29. März 2012 durfte von der Beklagten nicht gemäß § 45 Abs. 1, 2 SGB X zurückgenommen werden. Insoweit fehlte schon die dafür erforderliche Bösgläubigkeit des Klägers sowie die einzuhaltende Frist von zwei Jahren.

 

2.

 

Die Beklagte war als Versorgungsträger für die Zusatzversorgungssysteme zuständig für die Entscheidung über die Rechtswidrigkeit des Feststellungsbescheids. Sie war als der Versorgungsträger für die Zusatzversorgungssysteme befugt, einen selbstständigen Feststellungsbescheid zu erlassen. Dieser stellte als Grundlagenbescheid für den Rentenversicherungsträger verbindlich die Zeiten der Zugehörigkeit zum AAÜG sowie die dort erzielten Entgelte fest (§ 8 Abs. 5 Satz 2 AAÜG). Zu den Aufgaben des Versorgungsträgers für die Zusatzversorgungssysteme gehören jedoch nicht die Rentenbewilligung sowie der Erlass von Rentenanpassungsbescheiden. Dies ist allein Aufgabe des Rentenversicherungsträgers. Dieser wiederum ist bei der Rentenbewilligung sowie der jährlichen Rentenanpassungen an die bestandskräftigen Feststellungsbescheide nach dem AAÜG gebunden.

 

Die Beklagte hatte daher als Versorgungsträger für die Zusatzversorgungssysteme auch die Entscheidung zur Rechtswidrigkeit des Feststellungsbescheids zu treffen (so auch: LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 25. Oktober 2012, L 22 R 58/12; Urteil vom 8. Juni 2020, L 16 R176/18; Thüringer LSG, Urteil vom 10. April 2013, L 12 R 109/10; Sächsisches LSG, Urteil vom 4. Juni 2020, L 7 R 658/19 ZV).

 

3.

 

Der streitige Bescheid vom 20. Juli 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 3. November 2015 ist in formeller Hinsicht nicht zu beanstanden.

 

a.

 

Der Bescheid ist hinreichend bestimmt im Sinne von § 33 Abs. 1 SGB X. Er enthält den eindeutigen Verfügungssatz, dass die zugrundeliegenden Feststellungsbescheide nicht zurückgenommen werden dürfen und die rechtswidrig festgestellten Zeiten und Entgelte verbleiben. Ausdrücklich ist auch angeführt worden, dass „weitere Rechte (höhere Entgelte)“ nicht hergeleitet werden können (anders für den Fall eines nicht eindeutig erkennbaren Verfügungssatzes: LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 25. Oktober 2012, a.a.O. Rn. 33).

 

b.

 

Die nach § 24 Abs. 1 SGB X vorgeschriebene Anhörung des Klägers war erfolgt. Auf das Fehlen der betrieblichen Voraussetzungen für eine fiktive Einbeziehung wies die Beklagte unter dem 13. Juli 2015 in dem Rechtsstreit L 1 RS 20/14 hin. Dieses an das Sozialgericht gerichtete Schreiben wurde dem Kläger zur Kenntnisnahme weitergeleitet.

 

II.

 

Der Senat konnte sich nicht davon überzeugen, dass der Feststellungsbescheid vom 30. März 2004 in der Fassung des Änderungs-Feststellungsbescheids vom 4. Januar 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29. März 2012 von Anfang an rechtswidrig gemäß § 45 SGB X war.

 

1.a.

 

Die objektive Beweis- und Feststellungslast für das Vorliegen von Rechtswidrigkeit von Anfang an des beanstandeten Bescheids liegt beim Feststellungsverfahren nach § 48 Abs. 3 SGB X bei der Beklagten. Diese beruft sich auf die Rechtswidrigkeit ihrer Bescheide und leitet daraus die Befugnis ab, die bestandskräftigen Feststellungen nach dem AAÜG für rechtswidrig zu erklären. Bei der Feststellung der Rechtswidrigkeit nach § 48 Abs. 3 SGB X gelten die gleichen Grundsätze wie bei einer Bescheidrücknahme nach § 45 Abs. 1 SGB X (vgl. etwa: BSG, Urteil vom 25. Juni 2015, B 14 AS 30/14 R [19] für das Vorliegen von Einkommen; BSG, Urteil vom 10. September 2013, B 4 AS 89/12 R [32] für das Vorliegen von Rechtswidrigkeit von Anfang an; BSG, Urteil vom 8. September 2010, B 11 AL 4/09 R [23] für eine Verletzung von Mitteilungspflichten; Sächsisches LSG, Urteil vom 4. Juni 2020, L 7 R 658/19 ZV [102]; so auch: Schütze in SGB X, a.a.O. § 48 Rdnr. 36 m.w.N.). Insoweit liegt nach dem Grundsatz der objektiven Beweislast das Risiko der Nichterweislichkeit der anfänglichen Rechtswidrigkeit der Feststellungen von Zeiten der Zugehörigkeit zum AAÜG sowie der dort erzielten Entgelte (§ 8 Abs. 5 Satz 2 AAÜG) bei der Beklagten.

 

Es handelt sich hier gerade nicht um einen Fall des erforderlichen Nachweises einer anspruchsbegründenden Tatsache durch einen Antragsteller, welcher die Einbeziehung in ein Zusatzversorgungssystem begehrt. Dieser würde in einem solchen Fall nach allgemeinen prozessualen Grundsätzen die Beweislast tragen (so BSG, Urteil vom 9. Mai 2012, B 5 RS 7/11 R [26] zum Inhalt der am 30. Juni 1990 ausgeübten Tätigkeit).

 

Eine Umkehr der Beweislast zulasten des Klägers scheidet hier aus. Dies ist insbesondere anzunehmen bei Beweisvereitelungen, etwa aufgrund fehlender Mitwirkung oder unterlassener Angaben von Tatsachen, die allein in dem Verantwortungsbereich des Leistungsbeziehers liegen. In diesen Fällen ist die fehlende Nichterweislichkeit einer Tatsache in der Sphäre des Antragstellers begründet, der die Sachverhaltsaufklärung in der Hand hätte (BSG, Urteil vom 15. Juni 2016, B 4 AS 41/15 R [30]). Ein solcher Fall liegt hier nicht vor.

 

b.

 

Der maßgebliche Maßstab des Vollbeweises verlangt die volle Überzeugung vom Vorliegen der Rechtswidrigkeit der erfolgten Einbeziehung in das AAÜG von Anfang an. Dabei ist allerdings keine absolute Gewissheit notwendig. Vielmehr reicht eine mit an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit. Restzweifel sind unschädlich, soweit sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (BSG; Urteil vom 5. Dezember 2016, B 9 V 3/15 R [26]).

 

2.

 

Im Rahmen der Beweiswürdigung kann sich der Senat nur auf die von der Beklagten und dem Kläger vorgelegten Betriebsunterlagen über den Beschäftigungsbetrieb VEB S. stützen. Beide Beteiligten haben erklärt, nicht über weitere Unterlagen zu verfügen.

 

Welche „weiteren Ermittlungen zum Hauptzweck“ (so der Schriftsatz der Beklagten vom 13. Juli 2015) und/oder welche dabei neu aufgefundenen Unterlagen des VEB S. zu der im Juli 2015 geänderten Rechtsauffassung der Beklagten geführt haben, hat sich nicht abschließend klären lassen. Die Verwaltungsakte (ab rotem Trennblatt) ist insoweit erkennbar unvollständig und teilweise nachträglich eingeheftet worden. So fehlt u.a. Bl. 214, auf dem die Feststellung der fehlenden Betriebseigenschaft festgehalten worden sein soll. Zu den Verwaltungsakten genommen wurde nur der Artikel des Genossen Ober-Ingenieur F., der allgemeine Ausführungen für die Zeit bis 1980 enthält. Die aufgeführten 6 Zeugenerklärungen aus März 2013 betreffen lediglich die Frage der Zahlung von Jahresendprämien. Sie enthalten keine Aussagen, die Rückschlüsse auf die Betriebseigenschaft des VEB zuließen (vgl. Bl. 27 f. Gerichtsakte L 1 RS 20/14).

 

Die Beteiligten haben auch auf Nachfrage des Senats keine Möglichkeiten einer anderweitigen Ermittlung gemäß § 103 SGG aufzeigen können. Insbesondere hat die mit der Archivierung betraute Firma R. Logistics der Beklagten unter dem 14. August 2009 die ihr vorliegenden Unterlagen zum VEB S. vorgelegt. Danach seien keine Gründungsberichte bei der Umwandlung in Kapitalgesellschaften aufgefunden worden.

 

3.

 

Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 AAÜG gilt dieses Gesetz für Ansprüche und Anwartschaften, die aufgrund der Zugehörigkeit zu Zusatz- und Sonderversorgungssystemen im Beitrittsgebiet erworben worden sind. Der Kreis der potentiell vom AAÜG erfassten Personen umfasst diejenigen Personen, die entweder (1.) durch einen nach Art. 19 Einigungsvertrag (EVertr) bindend gebliebenen Verwaltungsakt der DDR oder einer ihrer Untergliederungen oder (2.) später durch eine Rehabilitierungsentscheidung oder (3.) nach Art. 19 Satz 2 oder 3 EVertr (wieder) in ein Versorgungssystem einbezogen waren (BSG, Urteil vom 9. April 2002, B 4 RA 31/01 R).

 

a.

 

Der Kläger erfüllt keine dieser Voraussetzungen in dem streitigen Zeitraum. Ihm war keine originäre Versorgung nach der AVItech zugesagt worden. Er ist auch nicht aufgrund einer Rehabilitierungsentscheidung nachträglich in ein Versorgungssystem einbezogen worden. Auch ein rechtsstaatswidriger Entzug einer Versorgungsanwartschaft hat in seinem Fall nicht stattgefunden.

 

b.

 

Eine fiktive Einbeziehung in ein Zusatzversorgungssystem kommt nach der Rechtsprechung des BSG in Betracht. Wenn aber die Zugehörigkeit nach § 1 Abs. 1 S. 1 AAÜG im Wege der Unterstellung vorliegen soll, müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein. Danach hängt der Anspruch auf eine fiktive Einbeziehung des Klägers gemäß § 1 der Verordnung über die zusätzliche Altersversorgung der technischen Intelligenz in den volkseigenen und ihnen gleichgestellten Betrieben vom 17. August 1950 (GBl. DDR I, Nr. 93 S. 844, im Folgenden: VO-AVItech) i.V.m. § 1 Abs. 1 Satz 1 2. DB von drei Voraussetzungen ab, die alle zugleich am 30. Juni 1990 vorgelegen haben müssen.

 

Generell war dieses Versorgungssystem eingerichtet für

 

Personen, die berechtigt waren, eine bestimmte Berufsbezeichnung zu führen (persönliche Voraussetzung), und

 

die entsprechende Tätigkeiten tatsächlich ausgeübt haben (sachliche Voraussetzung), und zwar

 

in einem volkseigenen Produktionsbetrieb im Bereich der Industrie oder des Bauwesens oder einem gleichgestellten Betrieb (betriebliche Voraussetzung).

 

Versorgungsrechtlich relevant ist allein die Tätigkeit in einem Produktionsdurchführungsbetrieb der Industrie oder des Bauwesens. An dieser Rechtsprechung des früheren 4. Senats des BSG hat der jetzt zuständige 5. Senat festgehalten (so etwa BSG, Urteile vom 19. Juli 2011, B 5 RS 7/10 R [24] und B 5 RS 4/10 R; Urteile vom 9. Oktober 2012, B 5 RS 5/12 R [23] und B 5 RS 5/11 R; Urteile vom 20. März 2013, B 5 RS 3/12 R [24, 25] und B 5 RS 27/12 R [14]).

 

c.

 

Ob es sich bei dem VEB. S. um einen volkseigenen Produktionsbetrieb im Bereich des Bauwesens handelte, entscheidet sich nach der insoweit maßgeblichen Rechtsprechung des BSG. Denn nur diese vermag den Begriff des „volkseigenen Produktionsbetriebs im Bereich des Bauwesens“ zu konkretisieren. Im Bereich des Bauwesens erfasst der Begriff des Produktionsbetriebs nur solche Betriebe, deren Hauptzweck in der Massenproduktion von Bauwerken lag. Diese mussten standardisierte Produkte massenhaft ausstoßen und eine komplette Serienfertigung von gleichartigen Bauwerken zum Gegenstand gehabt haben. Nur eine unmittelbare industrielle Massenproduktion im Bereich des Bauwesens und nicht schon das Erbringen von Bauleistungen jeglicher Art soll für die Einbeziehung in die AVItech von Bedeutung gewesen sein (BSG, Urteil vom 8. Juni 2004, B 4 RA 57/03 R ]23]).

 

Der Gesetzgeber der DDR hatte im Bauwesen zwischen massenhafter Neubauproduktion und sonstiger Bautätigkeit differenziert. Deshalb wurde ausdrücklich zwischen der Erstellung von Bauwerken in Massenproduktion einerseits und den Baureparaturbetrieben andererseits unterschieden. Letztere sollten im Wesentlichen für die Erhaltung der Bausubstanz, die Durchführung von Um- und Ausbauten sowie von kleineren Neubauten zuständig sein. Dies ergibt sich insbesondere aus dem „Beschluss über die Anwendung der Grundsätze des neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft im Bauwesen“ vom 14. Juni 1963 (GBl. II Nr. 63 S. 437). Mit der Konzentration der Baukapazitäten in großen Bau- und Montagekombinaten sollte ein neuer selbstständiger Zweig der Volkswirtschaft geschaffen werden. Dieser sollte die Organisierung und Durchführung der kompletten Serienfertigung von gleichartigen Bauwerken zum Gegenstand haben. Dafür war u.a. die Fertigung von standardisierten, austauschbaren und hochgradig komplettierten Bauelementen und -gruppen im Bauwesen vorgesehen (Beschluss, S. 438). Die Baumaterialindustrie sollte auf die bedarfsgerechte Massenproduktion standardisierter Erzeugnisse ausgerichtet werden. Die Standardisierung von Bauelementen sollte nach einem einheitlichen Baukastensystem erfolgen. Diese sollten verbindlich als Wiederverwendungsprojekte bestätigt werden (Beschluss, S. 443). Den Bau-Montage-Kombinaten waren spezialisierte Produktionsabteilungen für die Montage, den Tief- und den Ausbau zuzuordnen (Beschluss S. 446). Dazu zählten auch die Vorfertigungsindustrie und die Baumaterialienindustrie (Beschluss S. 448). Die für den komplexen Wohnungsbau zuständigen Wohnungsbaukombinate sollten als Hauptauftragnehmer die Wohngebäude und gesellschaftlichen Bauten einschließlich der Außenanlagen herstellen (Beschluss S. 447).

 

Dabei sind nach Auffassung des BSG solche Betriebe nicht erfasst, die nur vorgelagerte Aufgaben erfüllt hatten. Wenn dem Betrieb bloße Vorbereitungshandlungen zur eigentlichen Bautätigkeit das Gepräge gegeben haben, sollen sie nicht unmittelbar mit Massenproduktion beschäftigt und damit nicht erfasst gewesen sein (BSG, Urteil vom 28. September 2011, B 5 RS 8/10 R für „Projektierungsbetriebe“).

 

Auch wenn individuelle Kundenwünsche in den Vordergrund traten, soll der Bezug zur industriellen Massenproduktion entfallen sein. Dies soll etwa dann gelten, wenn die Produktionsweise eines Betriebs von vornherein darauf angelegt war, nach den Vorgaben des Auftraggebers Einzelstücke herzustellen, die in einer vorgegebenen Produktpalette so nicht enthalten waren (BSG, Urteil vom 9. Mai 2012, B 5 RS 8/11 [23]). Wurden jedoch Produkte zwar nach individuellen Vorgaben gefertigt, waren aber in einer vom Hersteller vorgegebenen Produktpalette enthalten, soll die Eigenschaft als Produktionsbetrieb der Industrie oder des Bauwesens nicht gefährdet sein (BSG, Urteil vom 9. Oktober 2012, B 5 RS 5/11 R [24]; Urteil vom 9. Oktober 2012, B 5 RS 5/12 R [27]).

 

d.

 

Für die Frage der Einordnung als Produktionsbetrieb im Sinne der genannten Rechtsprechung des BSG ist auf den rechtsfähigen Beschäftigungsbetrieb abzustellen (vgl. BSG, Urteil vom 18. Dezember 2003, B 4 RA 20/03 R). Unselbstständige Teile eines Betriebs oder Kombinats können keine Arbeitgeber im Sinne der AVItech sein (BSG, Urteil vom 7. September 2006, B 4 RA 39/05 R [26]).

 

Deshalb war nicht der Betriebsteil Kombinatsbetrieb Mitte des VEB maßgeblich, bei dem der Kläger am 30. Juni 1990 eingesetzt war. Zurecht hat die Beklagte im Widerspruchsbescheid vom 3. November 2015 darauf abgestellt, dass das juristisch rechtsfähige Kombinat - einschließlich seiner Betriebsteile - zu prüfen ist.

 

e.

 

Hat ein VEB am Stichtag 30. Juni 1990 - wie hier - verschiedene Sparten und Produktionsgruppen gehabt, so sind der Hauptzweck des Betriebs und der Schwerpunkt der betrieblichen Tätigkeit zu ermitteln. Im Rahmen einer „Gepräge-Prüfung“ sind die jeweiligen Sparten oder Produktionsgruppen nach jeweils einheitlichen Maßstäben zu bewerten und zueinander in Beziehung zu setzen.

 

Dies können etwa Umsatz und Ertrag in den jeweiligen Tätigkeitsbereichen sein (BSG, Urteil vom 9. Oktober 2012, B 5 RS 5/11 R [27]). Bei dem Kriterium der Kopfzahl der Mitarbeiter ist zu beachten, dass diese nicht automatisch auf ein entsprechendes Arbeitsvolumen und einen Anteil an der Wertschöpfung schließen lässt (BSG, Urteil vom 20. März 2013, B 5 RS 3/12 R [26]).

 

4.

 

Bei Anlegung der genannten Beweismaßstäbe konnte sich der Senat nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon überzeugen, dass der Feststellungsbescheid vom 30. März 2004 in der Fassung des Änderungs-Feststellungsbescheids vom 4. Januar 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29. März 2012 über die Einbeziehung des Klägers in die AVItech für den Zeitraum vom 17. September 1973 bis 30. Juni 1990 nach § 8 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 und § 1 Abs. 1 Satz 1 AAÜG von Anfang an rechtswidrig i.S.v. § 45 Abs. 1 SGB X war. Es steht für den Senat nicht ohne vernünftige Restzweifel fest, dass die Voraussetzungen für eine Einbeziehung des Klägers in das AAÜG nach der Rechtsprechung des BSG von Anfang an nicht vorlagen. Dies betrifft insbesondere den hier allein zwischen den Beteiligten streitigen Begriff des Produktionsbetriebs des Bauwesens.

 

a.

 

Ein Statut des VEB, das Auskünfte über die Aufgabenbereiche und -verteilung der Betriebsteile des Kombinats zum 30. Juni 1990 geben könnte, liegt nicht vor. Es sind ebenfalls keine Gründungsberichte über die zum 1. Juli 1990 gegründeten GmbH vorhanden.

 

Die in den Gesellschaftsverträgen zu den neun gegründeten GmbH formulierten Geschäftszwecke können allenfalls Hinweise darauf geben, welchen Tätigkeitsbereich der umgewandelte Betreibsteil bis zum 30. Juni 1990 hatte. Denn es ist nicht auszuschließen, dass sich der Geschäftszweck änderte, etwa wegen des Wegfalls bestimmter Geschäftsfelder.

 

Sämtliche vorgelegten Veröffentlichungen aus 1980 oder 1981 sind nicht als Beweismittel für den Hauptzweck des Betriebs geeignet, weil sie die tatsächlichen Gegebenheiten am 30. Juni 1990 nicht wiedergeben können. Sie sind allenfalls Indizien für die von dem Kombinat am 30. Juni 1990 abgedeckten Geschäftsfelder. Das gleiche gilt für die vom Kläger vorgelegten Arbeitsverträge und -zeugnisse, die aus den achtziger Jahren stammen.

 

b.

 

Für das Vorliegen der betrieblichen Voraussetzung ist es unerheblich, wie der Betrieb am Stichtag 30. Juni 1990 organisatorisch der DDR-Planwirtschaft zugeordnet war. Dieser Umstand ist allenfalls als bestätigendes Hilfskriterium heranzuziehen (BSG, Urteil vom 20. März 2013, B 5 RS 3/12 R [25]).

 

Unrichtig ist allerdings die Auffassung des Sozialgerichts, die Zuordnung des VEB sei zum Bereich “Verkehrswesen“ erfolgt. Die Betriebsnummer des VEB (04118000) sagt nichts über die zugeordnete Wirtschaftsgruppe (WG) aus. Es handelte sich insoweit um die WG 20291 mit der Zuordnung zu „Bauwirtschaft“ bzw. „Tiefbau“. Diese Zuordnung ergibt sich aus der Schlussbilanz zum 31.12.1989, den Eintragungen im volkseigenen Register und der Betriebsliste der Beklagten. Diese selbst hat im Berufungsverfahren die Zuordnung bestätigt.

 

Die erfolgte Zuordnung zu einer WG „Bauwirtschaft“ bzw. „Tiefbau“ würde dennoch - wenigstens als Hilfskriterium - gegen die Auffassung der Beklagten sprechen.

 

c.

 

Darüber hinaus hat sich nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausschließen lassen, dass zum Stichtag 30. Juni 1990 die industrielle (Massen-) Bauproduktion dem VEB S. das Gepräge gegeben hatte.

 

a.a.

 

Die „Gepräge-Prüfung“ mit dem Ziel der Ermittlung des Hauptzwecks des VEB S. war in vorliegendem Fall erforderlich. Denn der VEB bestand aus verschiedenen Betriebsteilen, die am 30. Juni 1990 unterschiedlichste Produkte in den Bereichen Betonerzeugung, Straßen- und Tiefbau, Ingenieurleistungen, Grünanlagen sowie Landschaftsgestaltung anboten. Im Rahmen der durchzuführenden „Gepräge-Prüfung“ waren die jeweiligen Sparten oder Produktionsgruppen der verschiedenen Betriebsteile nach einheitlichen Maßstäben zu bewerten und zueinander in Beziehung zu setzen. Eine solche Prüfung ist von der Beklagten nicht nachvollziehbar dargelegt worden.

 

Soweit diese in der mündlichen Verhandlung des Rechtsstreits dargelegt hat, der Aufgabenbereich des VEB S. sei allein auf den Straßen- und Tiefbau sowie den Brückenbau beschränkt gewesen, überzeugt dies den Senat nicht. Denn aus den vorliegenden Betriebsunterlagen und auch den Arbeitszeugnissen des Klägers ergibt sich, dass zum Leistungsumfang weitere Leistungen im Bauwesen gehörten. So erfolgte etwa die Herstellung von Fertigbauelementen für Sammelkanäle, der Bau gesellschaftlicher Einrichtungen und Hallen, die Herstellung von Transportbeton oder die Herstellung glasfaserverstärkter Polyesterharzprodukte.

 

b.b.

 

Auf die Gepräge-Prüfung könnte verzichtet werden, wenn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststünde, dass sämtliche Produktionssparten des VEB von vornherein nicht den Hauptzweck in der Massenproduktion von Bauwerken hatten. Für diesen Fall würde sich die Ermittlung des Schwerpunkts des Produktionsbereichs erübrigen. Davon konnte sich der Senat jedoch nicht überzeugen.

 

Die Auffassung der Beklagten, Arbeiten im Tiefbaubereich gehörten nach der Rechtsprechung des BSG zu den nicht erfassten, sog. bauvorbereitenden Maßnahmen, überzeugt auch nicht uneingeschränkt. Denn während eine „Projektierung“ von baulichen Anlagen der eigentlichen Errichtung von Bauwerken vorgelagert sein kann (so: BSG, Urteil vom 28. September 2011, a.a.O.), könnte der Tiefbau - etwa in Form der Erstellung der Fundamente oder der Errichtung von Versorgungszuleitungen - vor dem eigentlichen Errichten von Gebäuden durchaus als unmittelbare bauliche Tätigkeit anzusehen sein.

 

Schon der „Beschluss über die Anwendung der Grundsätze des neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft im Bauwesen“ legt nahe, dass zu den Bau- und Montagekombinaten auch die Erbringung von Tiefbauleistungen im Zusammenhang mit dem komplexen Wohnungsbau gehören konnte. Denn den Bau-Montage-Kombinaten sollten spezialisierte Produktionsabteilungen für die Montage, den Tief- und den Ausbau zugeordnet werden (Beschluss S. 446). Die Wohnungsbaukombinate sollten als Hauptauftragnehmer die Wohngebäude und gesellschaftlichen Bauten einschließlich der Außenanlagen herstellen (Beschluss S. 447).

 

Auch das vom Kläger vorgelegte Dokument TGL 7798 über eine „Flächenberechnung Gebäude und bauliche Anlagen“ lässt es zumindest für möglich erscheinen, dass der Tiefbau in der DDR Teil einer seriellen Massenproduktion von Bauwerken gewesen sein konnte. Denn nach der dortigen Definition waren „Bauwerke“ ein Sammelbegriff für Gebäude und bauliche Anlagen. Zu den baulichen Anlagen konnten Verkehrs-, Tief- und Wasserbauten sowie alle sonstigen Bauwerke, die nicht zu den Gebäuden zählen, gehören.

 

Die vorgesehene Fertigung von standardisierten Bauelementen und -gruppen im Bauwesen (Beschluss, S. 438) kann etwa in der vom Kläger genannten Sammelkanal-Bauweise umgesetzt worden sein. Nach seiner Darstellung wurden die dafür benötigten Fertigteile im VEB S. selbst und massenhaft angefertigt. Es ist auch nicht fernliegend, dass dieser eine Standardisierung von Bauelementen nach einem einheitlichen Baukastensystem durchführte, die als Wiederverwendungsprojekte bestätigt wurden (Beschluss, S. 443). Denn aus dem vom Kläger vorgelegten „Katalogwerk Bauwesen“ der Bauakademie der DDR ergibt sich, dass bestimmte Produkte des VEB S. in den Bereichen Wohnungs- und Gesellschaftsbau sowie Straßen-, Ingenieur- und Tiefbau gelistet waren (u.a. bauliche Anlagen für Freiflächenbegrenzungen und -gestaltung, Entwässerungs- und Fernwärmeleitungen, Kabelanlagen, Sammelkanäle, Wohnstraßen).

 

Es ist auch nicht eindeutig erkennbar, dass der VEB mit seinen Betriebsteilen nur oder im Schwerpunkt als Baureparaturbetrieb für die Erhaltung der Bausubstanz, die Durchführung von Um- und Ausbauten sowie von kleineren Neubauten zuständig sein sollte. Schon die in den Dienstzeugnissen des Klägers genannten Aufgabenbereiche sprechen dagegen.

 

c.c.

 

Es lässt sich auch nicht mit der erforderlichen mit an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit feststellen, dass die Tätigkeitsfelder des VEB schon nach den in ständiger Rechtsprechung des BSG entwickelten Kataloggruppen ausgeschlossen gewesen wären.

 

Der Auffassung der Beklagten, die Tätigkeitsfelder des VEB schieden von vornherein als Produktionsbetriebe des Bauwesens aus, kann der Senat nicht zweifelsfrei zustimmen. Denn während eine „Projektierung“ von baulichen Anlagen der eigentlichen Errichtung von Bauwerken vorgelagert sein mag (so: BSG, Urteil vom 28. September 2011, a.a.O.), könnten zumindest Teile der Produktionsbereiche des Kombinats - so etwa die massenhafte Herstellung von Beton und Betonfertigteilen sowie deren Verbau - einen unmittelbaren Bezug zu einer baulichen Massenproduktion aufweisen.

 

Die vorliegenden Betriebsunterlagen lassen auch nicht den zwingenden Schluss zu, dass für die gesamte Produktpalette des VEB individuelle Kundenwünsche in den Vordergrund getreten oder allein nach den Vorgaben des Auftraggebers Einzelstücke herzustellen gewesen wären. Nur dann würde der Bezug zur industriellen Massenproduktion - ohne weitere Prüfungspflichten - entfallen (BSG, Urteil vom 9. Mai 2012, B 5 RS 8/11 [23]).

 

d.

 

Auch der Senat ist - unter Zugrundelegung sämtlicher vorliegender Betriebsunterlagen - nicht in der Lage, festzustellen, welche Produktion dem VEB am 30. Juni 1990 das Gepräge gegeben hatte. Denn die nach Maßgabe des BSG zu prüfenden Kriterien konnten hier nicht ermittelt werden.

 

Im Rahmen einer „Gepräge-Prüfung“ sind die jeweiligen Sparten oder Produktionsgruppen nach jeweils einheitlichen Maßstäben zu bewerten und zueinander in Beziehung zu setzen. Tatsachenfeststellungen zu den einzelnen Betriebsteilen des VEB zum Umsatz und Ertrag oder auch zu der Kopfzahl der Mitarbeiter fehlen aber.

 

Die vorläufige Schlussbilanz des VEB vom 28. Februar 1990 (Bilanzsumme 282.929 TM und Gewinn von 5.538 TM) ist nicht geeignet, irgendeine Aussage zu den Schwerpunkten und dem Hauptzweck des VEB am 30. Juni 1990 zu treffen. Gleiches gilt für die den jeweiligen Gesellschaftsverträgen der GmbH beigefügten Bilanzsummen. Diese enthalten nur Angaben über das Anlage- und Umlaufvermögen, das Eigenkapital, Rückstellungen, Verbindlichkeiten, Rechnungsabschlussposten und den Bilanzgewinn. Die Bilanzsummen der einzelnen Betriebsteile ließen sich zwar gegenüber der Gesamtbilanzsumme ins Verhältnis setzen. Rückschlüsse auf den Hauptzweck des VEB wären jedoch schon deshalb nicht möglich, weil der Inhalt der in den verschiedenen Betriebsteilen angebotenen Produktpaletten nicht hinreichend feststeht.

 

Die Ausführungen in den vorgelegten Druckerzeugnissen zu den Aufgabenbereichen des VEB sind schon deshalb keine geeigneten Mittel zur Gepräge-Prüfung, weil diese aus 1980/1981 stammen.

 

C.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.

 

Die Revision war nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe i. S. von § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen. Insbesondere weicht der Senat nicht von der Rechtsprechung des BSG ab.

Rechtskraft
Aus
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