L 4 KG 2/19

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Kindergeld-/Erziehungsgeldangelegenheiten
Abteilung
4.
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 3 KG 69/17
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 4 KG 2/19
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 10 KG 3/22 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Kenntnis vom Aufenthalt der Eltern i.S.v. § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BKGG hat ein Kind nicht schon dann, wenn  es weiß, dass sich „irgendwo auf der Welt“ zumindest ein Elternteil aufhält, mit dem es in sporadischem Kontakt steht.

2. Kenntnis vom Aufenthalt der Eltern i.S.v. § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BKGG hat ein Kind jedoch, wenn es deren verstetigten konkreten Aufenthaltsort kennt und die Eltern für das Kind postalisch erreichbar sind.

3. Zu den aufenthaltsrechtlichen Voraussetzungen des sozialrechtlichen Kindergelds.

 

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 20. Mai 2019 wird zurückgewiesen.

 

Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 

Die Revision wird zugelassen.

 

 

Tatbestand

 

 

Die Beteiligten streiten um Kindergeld für die Monate März bis September 2017.

 

Der Kläger – er besitzt die Staatsangehörigkeit Bangladeschs – ist ausweislich der Angaben in seinem Ausweis/Pass am 10. Juli 1995 geboren. Er absolvierte vom 18. Januar bis zum 27. Juli 2016 beim Berufsausbildungszentrum der D Gemeinnützige GmbH (im Folgenden: gGmbH) – wie von diesem bescheinigt – einen Vorbereitungskurs zur Ausbildung für unbegleitete jugendliche Flüchtlinge und junge Erwachsene. Unter dem 31. August 2016 schloss er mit der gGmbH einen „Vertrag über eine schulische Ausbildung mit externem Kammerabschluss“ nach § 43 Abs. 2 Berufsbildungsgesetz (BBiG) zur Erlangung des Berufsabschlusses als Fachkraft im Gastgewerbe. In beiden Unterlagen wird als Geburtsdatum des Klägers der 31. Dezember 1993 angegeben.

Der Vertrag regelte u.a. den Schulungsort (Standort des Vertragspartner), die Dauer der Ausbildung (1. September 2016 bis 31. August 2018), die wöchentliche Ausbildungszeit (40 Stunden), den Schülerstatus des Klägers, den Ausschluss arbeitsrechtlicher Grundsätze und die Übernahme des Schulgeldes durch das Land Berlin. Den schulischen Teil dieser Ausbildung absolvierte der Kläger ab dem 12. September 2016 in Teilzeit (40 Stunden Blockunterricht jede 4. Woche) an der B-Schule.

 

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erkannte dem Kläger weder die Flüchtlingseigenschaft noch den subsidiären Schutzstatus zu, lehnte seinen Antrag auf Asylanerkennung vom 7. November 2013 ab und stellte ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) fest (Bescheid vom 12. September 2016). Es ging hierbei u.a. davon aus, dass der Kläger am 31. Dezember 1993 geboren wurde und nach eigenen Angaben im November 2012 auf dem Landweg nach Deutschland eingereist ist. Der Bescheid enthält ferner folgende Aussage: „Die positive Feststellung zu § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG wird mit dem Zeitpunkt der Bekanntgabe der Entscheidung bestandskräftig.“ Wegen des weiteren Inhalts dieses Bescheids wird auf Bl. 128 ff. der Gerichtsakte verwiesen.

 

Für die Zeit vom 2. Februar 2017 bis zum 1. Februar 2020 verfügte der Kläger über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG, eine Erwerbstätigkeit war ihm gestattet. Unter seiner aktuellen Anschrift ist er seit dem 23. Februar 2017 gemeldet. Ab dem 1. März 2017 gewährte das Jobcenter Berlin Tempelhof-Schöneberg ihm Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

 

In seinem Antrag auf Kindergeld vom 8. März 2017 gab der Kläger an, ihm sei der aktuelle Aufenthalt seiner Eltern bekannt, und benannte als letzte bekannte Anschrift seines 1937 geborenen Vaters und seiner 1942 geborenen Mutter „P B, B“. Diesen Antrag lehnte die Beklagte ab, weil der Aufenthalt der Eltern bekannt sei (Bescheid vom 24. März 2017).

 

Zur Begründung seines Widerspruchs trug der Kläger vor, er halte sich seit 2012 rechtmäßig in Deutschland auf. Seine Eltern seien aufgrund ihres Alters und Gesundheitszustandes nicht in der Lage, ihn zu unterstützen, zumal sie auch keine Einnahmen hätten. Diesen Widerspruch wies die Beklagte mit unveränderter Begründung zurück (Widerspruchsbescheid vom 8. Mai 2017).

 

Im Klageverfahren hat der Kläger vorgebracht, er habe im Antragsformular lediglich die letzte ihm bekannte Anschrift seiner Eltern mitgeteilt. Seine Versuche, über diese Anschrift mit ihnen in Kontakt zu treten, seien jedoch erfolglos geblieben. Er habe den Kontakt zu seinen Eltern verloren und auch keine Möglichkeit, ihren Aufenthaltsort zu ermitteln. Eine nachträgliche Kenntniserlangung vom Aufenthaltsort der Eltern sei unschädlich.

Ferner hat der Kläger unter dem 13. September 2018 eine eidesstattliche Versicherung mit folgendem Inhalt abgegeben (und hierbei den 10. Juli 1995 als Geburtsdatum bezeichnet):

„Im April oder Mai dieses Jahres 2018 hat mein Bruder R angerufen, mir mitgeteilt, dass mein Vater sich einer schweren Krebsoperation unterziehen muss und mir die Telefonnummer meines Vaters mitgeteilt. Mein Bruder, der in Saudi-Arabien lebte, hatte bis dahin auch keinen Kontakt mehr zu meinen Eltern. Er konnte sie aber anlässlich einer Reise nach Bangladesch wieder ausfindig machen. Ich hatte seit meiner Ausreise 2007 bis 2015 keinerlei Kontakt mit anderen Familienmitgliedern und wusste nicht, wo diese sich aufhielten. Im Jahr 2015 kam ein Kontakt mit meinem Bruder zustande. Seit der Ausreise 2007 bis zu dem Anruf im April oder Mai dieses Jahres hatte ich keinerlei Kontakt zu meinen Eltern oder anderen Familienmitgliedern als meinem Bruder und wusste auch nicht, wo diese sich aufhielten. Meine Eltern leben heute zwar in der gleichen Gemeinde wie früher, sind aber innerhalb dieser umgezogen.“

 

Mit Schriftsatz vom 16. Oktober 2017 beantragte der Kläger auf Anregung des Sozialgerichts (Schreiben vom 18. September 2017) zur Herbeiführung einer Zäsur erneut Kindergeld. Diesen Schriftsatz übermittelte das Sozialgericht am Folgetag gemeinsam mit seinem o.g. Schreiben der Beklagten mit dem Hinweis, dass „aufgrund des gestellten Neuantrages […] zulässiger Streitgegenstand des hiesigen Verfahrens die Zeit von 03/17 bis einschließlich 09/17“ sei. Mit Bescheid vom 21. Dezember 2018 lehnte die Beklagten den „Antrag auf Kindergeld vom 28. Oktober 2018“ ab.


Mit Gerichtsbescheid vom 20. Mai 2019 hat das Sozialgericht die Klage, bezogen auf die Monate März bis September 2017, abgewiesen, dem Klägerbevollmächtigten Gerichtskosten i.H.v. 150 € auferlegt und zur Begründung ausgeführt:

Die Voraussetzungen nach § 1 Abs. 2 BKGG seien weder hinreichend dargelegt noch nachgewiesen. Der Vortrag im Klageverfahren, der Kläger kenne den Aufenthalt seiner Eltern nicht, stehe im Widerspruch zu dessen Angaben im Antragsverfahren. Dort habe er eine Anschrift der Eltern mitgeteilt und zudem seinen Antrag darauf gestützt, dass seine Eltern finanziell nicht in der Lage seien, ihn zu unterstützen. Soweit nunmehr vorgetragen werde, der Kontakt zu den Eltern sei im Streitzeitraum abgebrochen, habe der Kläger schon keinen Nachweis erbracht, in welcher Form die Versuche der Kontaktaufnahme erfolgt und dass diese gescheitert seien.

Lebende Elternteile eines Kindes stünden mit den verstorbenen Eltern eines Waisen nicht gleich, nur weil sie an ihrem jeweiligen Aufenthaltsort keine dem deutschen Zustellungsrecht genügende Adresse hätten. Ebenso wenig reiche es aus, dass der Kläger „sozial wie eine Vollwaise“ dastehe. In dieser Lage seien viele Jugendliche, für die z.B. ihre Eltern „gestorben“ seien, weil sie vollständig und auf Dauer mit ihnen gebrochen hätten. Schließe ihre besondere familiäre Situation aus, dass andere Personen für sie Kindergeld erhielten, greife zwar grundsätzlich der Gesetzeszweck, elternlosen Kindern zur Vermeidung sozialer Härten die Leistung für sich selbst zu gewähren. Den Status der Elternlosigkeit i.S.v. § 1 Abs. 2 BKGG könnten sie aber – ebenso wie der Kläger – erst erwerben, wenn sie den Aufenthalt ihrer Eltern nicht (mehr) kennten. Diese eng gefasste Ausnahmeregelung lasse sich nicht entsprechend auf Kinder anwenden, für die kein Kindergeld gezahlt werden könne, weil ihre Eltern sich im Ausland aufhielten. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die gesetzliche Regelung bestünden nicht.

 

Gegen diesen ihm am 12. Juni 2019 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die Berufung des Klägers vom 12. Juli 2019, zu deren Begründung er vorträgt:

Er habe sieben Brüder und eine Schwester. Seine Eltern hätten ihn, zwei jüngere Bruder und seine Schwester zum Schutz vor Schlägereien in ihrem Dorf zu seinem Onkel gebracht. Dieser lebe in Indien und in Bangladesch und habe, während die anderen drei Geschwister in Bangladesch geblieben seien, ihn im Juli oder August 2007 nach Indien bringen lassen, wo er bei einer Schwester des Onkels und weiterer Verwandtschaft gelebt habe und ca. ein bis eineinhalb Jahre, vielleicht auch weniger als ein Jahr, zur Schule gegangen sei. Von anderen Bengalen in Indien sei 2008 organisiert worden, dass er mit fünf oder sechs anderen Personen aus der weiteren Verwandtschaft mit dem Bus nach Griechenland gebracht worden sei, wo er vier Jahre gelebt habe, jedoch nicht bei Verwandten, sondern bei Leuten, die er aus seinem Dorf oder der Nachbarschaft kannte oder die aus demselben Ort wie seine Großeltern stammten. Von diesen Leuten habe er gehört, dass seine Eltern in ein anderes Haus im selben Ort umgezogen sind. Als er 2007/2008 in Griechenland gewesen sei, habe er auch Kontakt zu seiner Familie gehabt. Von Griechenland sei er mit dem Schiff nach Italien und dann von dort nach Deutschland gelangt.

Als er nach Deutschland gekommen sei, habe es zunächst niemanden aus seiner Nachbarschaft oder seinem Dorf gegeben. Er habe von Deutschland aus nicht an seine Familie in Bangladesch geschrieben. Bis er Bangladesch verlassen habe, habe er niemanden in seinem Bekanntenkreis gekannt, der ein Handy genutzt habe. Er habe sich bei anderen erkundigt, wie er den Aufenthalt seiner Eltern herausfinden könnte. Andere Bemühungen um die Suche nach seinen Eltern habe er nicht unternommen. Er habe aber immer nach anderen Bengalen gesucht und sei dann in einem Laden auf jemanden aus Bangladesch gestoßen, habe ihn kennengelernt und festgestellt, dass sie aus demselben Ort stammten. Über dessen Bruder in Saudi-Arabien sei dann seine Telefonnummer an seinen Bruder G in Saudi-Arabien weitergegeben worden. Er könne sich allerdings an diesen Bruder nicht erinnern, weil er bei dessen Weggang nach Saudi-Arabien noch sehr klein gewesen sei.

Auch dieser Bruder habe 2015 keinen Kontakt zu seinen Eltern mehr gehabt, habe ihm aber im April oder Mai 2018 die Telefonnummer eines anderen noch in Bangladesch lebenden Bruders namens R gegeben. R habe ihm daraufhin berichtet, dass sein Vater schwer krank sei und seine Eltern wegen Streitereien um Land nicht mehr an der früheren Stelle wohnten, sondern innerhalb des Dorfes P B umgezogen seien. B sei eine Zusammenfassung von mehreren Dörfern. Ob der Umzug seiner Eltern schon absehbar gewesen sei, als sie ihn zu seinem Onkel gegeben hätten, wisse er nicht.

Nach seiner Ankunft in Deutschland habe er gegenüber den Behörden 1995 als Geburtsjahr angegeben. Die Behörden hätten ihm dies jedoch nicht geglaubt und gemeint, er sei mindestens 18 Jahre alt. Deswegen stehe in einige Unterlagen, er sei 1993 geboren.

Beim Ausfüllen des Kindergeldantrages habe ihm ein Betreuer (Herr B) geholfen; dieser habe nicht bengalisch schreiben können. In seinem Büro habe es jedoch Freiwillige gegeben, die bengalisch konnten. Hätte er damals an seine Eltern in Bangladesch geschrieben, hätten die Mitarbeiter des dortigen Postamtes möglicherweise die Post an seine Eltern weiterleiten können.

Wenn das Sozialgericht Zweifel an der Glaubhaftigkeit der in der eidesstattlichen Erklärung bezeugten Tatsachen gehabt habe, hätte es mitteilen können, dass die – auf seine Initiative hin zustande gekommene – eidesstattliche Erklärung nicht geeignet sei, eine Beweisaufnahme in der mündlichen Verhandlung zu vermeiden. Das Sozialgericht dürfe eine Tatsache nicht einfach als unzutreffend behandeln, ohne eine Beweisaufnahme in der mündlichen Verhandlung durchzuführen.

 

Der Kläger beantragt,

 

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 20. Mai 2019, soweit darin die Klage abgewiesen und eine Kostenerstattung abgelehnt wurde, und den Bescheid der Beklagten vom 24. März 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Mai 2017 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm Kindergeld für die Monate März bis September 2017 zu zahlen.

 

Die Beklagte beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend und trägt ergänzend vor:

Der Kläger habe im Klageverfahren keinen Nachweis erbracht, wie er (erfolglos) versucht habe, über die Familie „mütterlicherweise und/oder väterlicherweise“, über Nachbarn, Bekannte und Freunde oder Behörden den Aufenthalt der Eltern herauszufinden. Er habe seine durchgeführten erfolglosen Bemühungen zum Auffinden der Eltern nicht glaubhaft dargelegt und nicht detailliert erläutert.

An die Glaubhaftmachung der Nichtkenntnis des Aufenthalts der Eltern seien strengste Maßstäbe anzulegen und es dürften keinerlei ernstzunehmenden Zweifel an dieser bestehen. Der Kläger müsse konkret darlegen, warum er im streitigen Zeitraum davon ausgegangen sei, dass seine Eltern nicht mehr an der ihm zuletzt bekannten Adresse gelebt hätten. Selbst wenn davon ausgegangen werde, dass ihm der Aufenthalt seiner Eltern im hier zu entscheidenden Zeitraum nicht bekannt gewesen sei, würde ein Anspruch auf Kindergeld für sich selbst ausscheiden, da jedenfalls bezüglich des Merkmals der Kenntnis vom Aufenthalt seiner Eltern von einer missbräuchlichen Nichtkenntnis auszugehen sei. Zumindest ein missbräuchliches „Sich verschließen“ stehe der Kenntnis des Aufenthalts der Eltern gleich. Konkrete Bemühungen, den Aufenthalt der Eltern ausfindig zu machen, habe der Kläger weder vorgetragen noch nachgewiesen. Insbesondere müsse er sich dazu äußern, ob er versucht habe, seine Verwandtschaft in Indien und Bangladesch nach dem Aufenthalt der Eltern zu befragen, und hierfür jeweils Nachweise vorlegen. Wer Kindergeld für sich selbst begehre, müsse die in seiner Lebenssphäre liegenden günstigen Umstände für seine Unkenntnis vom tatsächlichen Aufenthaltsort der Eltern darlegen und beweisen. Des Weiteren müsse er auch objektive Anhaltspunkte gehabt haben, dass seine Eltern nicht mehr an dem ihm zuletzt bekannten Ort sich aufhielten.

Mit ihrem – nicht angefochtenen – Bescheid vom 21. Dezember 2018 habe sie über den bei ihr in Verstoß geratenen Antrag des Klägers aus Oktober 2017 entschieden.

Der Kläger habe sich vor der Antragstellung nicht mindestens drei Jahre rechtmäßig, gestattet oder geduldet im Inland aufgehalten.

 

Der Berichterstatter hat die Sach- und Rechtslage am 7. Januar 2022 mit den Beteiligten erörtert.

 

In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat der Dolmetscher (A S) angegeben, im Jahr 2017 sei Post in Bangladesch an ein Postamt im Ort gesandt worden. Dort habe es Mitarbeiter gegeben, die gewusst hätten, wo die jeweiligen Leute wohnten, oder die nach den Adressaten gesucht hätten. In Bangladesch gebe es nur in Städten Straßenbezeichnungen, nicht aber in ländlichen Regionen.
 

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat den o.g. Gerichtsbescheid mit der Beschwerde angefochten, soweit er verurteilt wurde, Gerichtskosten zu tragen (L 4 KG 1/21 B). Hierüber hat der Senat mit Beschluss vom 22. September 2022 entschieden.

 

Wegen des Sach- und Streitstandes im Einzelnen sowie wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten sowie die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, verwiesen.

 

 

 

 

Entscheidungsgründe

 

 

Die zulässige Berufung ist unbegründet. Der o.g. Gerichtsbescheid des Sozialgerichts ist, soweit er Gegenstand dieses Berufungsverfahrens ist, im Ergebnis nicht zu beanstanden. Denn die Bescheide der Beklagten vom 24. März und 8. Mai 2017 sind rechtmäßig. Im Ergebnis zu Recht hat sie einen Anspruch des Klägers auf Kindergeld an sich selbst für den streitigen Zeitraum verneint.

 

A. Streitgegenstand sind neben dem o.g. Gerichtsbescheid des Sozialgerichts (soweit er vom Kläger angefochten ist) die Bescheide der Beklagten vom 24. März und 8. Mai 2017 sowie das Begehren des Klägers auf Kindergeld an sich selbst für die Zeit von März bis Oktober 2017. Dieses Begehren verfolgt er in statthafter Weise mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4 SGG).

 

I. Zutreffend macht der Kläger nur Kindergeld für den o.g. Zeitraum geltend.

 

Zwar wird – einerseits – Kindergeld gemäß § 5 Abs. 1 BKGG auch rückwirkend für sechs Monate vor Beginn des Monats gezahlt, in dem der Antrag auf Kindergeld eingegangen ist. Ausgehend von dem im März 2017 gestellten Antrag des Klägers erfasst der Ablehnungsbescheid vom 24. März 2017 – mangels entgegenstehender Anhaltspunkte – die Zeit ab September 2016. Das Sozialgericht hat indes nur über die Zeit ab März 2017 entschieden; dass diese Beschränkung dem klägerischen Anliegen widersprach hat, ist nicht ersichtlich. Da das Landessozialgericht gemäß § 29 Abs. 1 SGG im zweiten Rechtszug entscheidet, daher grundsätzlich über den Streitgegenstand, der der angefochtenen sozialgerichtlichen Entscheidung zugrunde liegt, nicht hinausgehen darf (BSG, Urteil vom 23. April 2015 – B 5 RE 23/14 R –, juris; Stotz, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2.A., § 29 SGG (Stand: 15.06.2022), Rn. 27, 87; jeweils m.w.N.; vgl. auch Landessozialgericht - LSG - Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 21. No­­vember 2006 – L 10 B 1061/06 AS ER –, juris), ist der Senat an diese Beschränkung gebunden.

 

Andererseits wurde durch den Bescheid vom 21. Dezember 2018 eine zeitliche Zäsur bewirkt (vgl. BSG, Urteil vom 2. Oktober 2010 – B 8 SO 21/08 R –, juris, Rn. 9 m.w.N.), sodass die Wirkung der angefochtenen Bescheide auf die Zeit bis September 2017 beschränkt ist. Dem Bescheid vom 21. Dezember 2018 ist zwar eine diesbezügliche Begrenzung nicht ausdrücklich zu entnehmen. Da er jedoch auf den neuen Antrag vom Oktober 2017 reagiert und dieser vom Kläger gestellt wurde in der auch der Beklagten bekannten Absicht, eine zeitliche Zäsur herbeizuführen, kann er aus der Sicht eines objektiven, mit den Zusammenhängen vertrauten Empfängers (zur Maßgeblichkeit dieser Sichtweise: Engelmann, in: Schütze, SGB X, 9.A., § 31 Rn. 43 m.w.N.) nur dahin verstanden werden, dass Leistungen ab dem Monat des neuen Antrags, d.h. ab Oktober 2017, abgelehnt werden sollten.

 

II. Ebenso zutreffend hat der Kläger den Gerichtsbescheid nicht angefochten, soweit darin seinem Prozessbevollmächtigten Gerichtskosten auferlegt werden. Denn hierdurch wird nur dieser, nicht aber der Kläger beschwert.

 

B. Die Berufung ist unbegründet. Der Kläger hatte im streitigen Zeitraum keinen Anspruch auf Kindergeld an sich selbst.

 

I. Kindergeld für sich selbst erhält gemäß § 1 Abs. 2 Satz 1 BKGG, wer

1. in Deutschland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat,

2. Vollwaise ist oder den Aufenthalt seiner Eltern nicht kennt und

3. nicht bei einer anderen Person als Kind zu berücksichtigen ist.

Diese Voraussetzungen erfüllte der Kläger im streitigen Zeitraum nur teilweise.

 

1. Der Kläger hatte in diesem Zeitraum seinen Wohnsitz in Deutschland.

 

Der Kläger hat spätestens seit Anfang des Jahres 2017 seinen Wohnsitz in Deutschland (§ 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BKGG). Einen Wohnsitz hat jemand gemäß § 30 Abs. 3 Satz 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) – diese Vorschrift gilt gem. § 68 Nr. 9 SGB I auch für das BKGG – dort, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung beibehalten und benutzen wird. Der Kläger lebte im streitgegenständlichen Zeitraum in einer Wohnung, ohne dass Umstände erkennbar waren, er werde diese nicht mehr beibehalten oder nicht mehr benutzen.

 

Soweit nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 5. Mai 2015 – B 10 KG 1/14 R –‍‍, juris, Rn. 15) besondere Maßstäbe gelten sollen, wenn der Gesetzgeber anhand einer speziellen Vorschrift konkrete Maßstäbe zur Beurteilung der Bleibeprognose eines Ausländers vorgegeben hat, sind auch diese Voraussetzungen im Falle des Klägers erfüllt. Nach dieser Rechtsprechung des BSG ist die Klärung der Frage, ob ein nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer voraussichtlich auf Dauer in Deutschland bleibt, dann nicht mehr Bestandteil der nach der allgemeinen Vorschrift des § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BKGG vorzunehmenden Prüfung von Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Bundesgebiet. Sie ist vielmehr allein anhand der Maßstäbe zu beurteilen, die sich aus der hierzu erlassenen spezielleren Regelung ergeben, hier des § 1 Abs. 3 BKGG (zu dessen weiteren Voraussetzungen s. II.). Nach diesen Vorgaben erfüllt die Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BKGG, wer ein reales Verhalten in Bezug auf einen Lebensmittelpunkt gezeigt hat, also erkennbar gewillt ist, an einem bestimmten Ort in Deutschland zu wohnen. Dies war beim Kläger der Fall. Er lebte und wohnte seit Ende 2013 in Deutschland und brachte seither den Willen, langfristig in Deutschland zu wohnen, u.a. dadurch zum Ausdruck, dass er einen Vorbereitungskurs zur Ausbildung für unbegleitete jugendliche Flüchtlinge und junge Erwachsene absolvierte und anschließend eine schulische Ausbildung zur Erlangung eines anerkannten Berufsabschlusses begann.

 

2. Der Kläger kannte jedoch den Aufenthalt seiner Eltern. Den von der Beklagten und vom Sozialgericht angelegten Maßstab für die Unkenntnis eines Kindes vom Aufenthalt der Eltern i.S.v. § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BKGG teilt der Senat zwar nicht, weil er weder mit dem Gesetzeszweck noch mit der Rechtsprechung des BSG zu § 1 Abs. 2 BKGG in Einklang zu bringen ist. Allerdings erfüllt der Kläger die vom Senat für maßgeblich erachteten Voraussetzungen für die Unkenntnis eines Kindes vom Aufenthaltsort seiner Eltern nicht.

 

a. Grundsätzlich werden nach dem Kindergeldrecht Zahlungen nicht den Kindern selbst, sondern den Eltern und solchen Personen, die elternähnlich mit dem Unterhalt von Kindern belastet sind, geleistet. Nachdem mehrere Fälle, in denen alleinstehenden Vollwaisen nach dem Tod der Eltern lediglich Kindergeld für ihre jüngeren Geschwister gewährt wurde, den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages beschäftigt hatten, räumte das 11. Gesetz zur Änderung des BKGG vom 27. Juni 1985 (BGBl I 1251) mit Wirkung vom 1. Januar 1986 auch diesem Personenkreis eine Anspruchsberechtigung für die eigene Person ein. Die neu eingefügten Vorschriften begünstigen jedoch nicht nur Kinder, die bei ihren Geschwistern quasi-elterliche Funktionen wahrnehmen, sondern vielmehr allgemein "alleinstehende Kinder" (so die Bezeichnung des Kreises der Anspruchsberechtigten nach § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BKGG in § 14 BKGG in der bis zum 31. Dezember 1995 geltenden Fassung; vgl. Conradis, in: Rancke/Pepping, Mutterschutz |‌ Elterngeld | Elternzeit | Betreuungsgeld, 6.A., BKGG § 1 Rn. 4); die Gesetzgebungsmaterialien (BT-Drs. 10/3369 S. 11) sprechen insoweit von Kindern, "bei denen nach dem Tode oder der Verschollenheit ihrer Eltern niemand die Elternstelle iS des Kindergeldrechts eingenommen hat".

 

b. Hieraus ergibt sich jedoch kein Maßstab für die Anforderungen, die an die Unkenntnis vom Aufenthalt der Eltern i.S.d. § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BKGG zu stellen sind. Schon nach dem deutlich abweichenden Gesetzeswortlaut kann insoweit nicht der Verschollenheitsbegriff nach § 1 Verschollenheitsgesetz (VerschG) maßgebend sein. Hiernach ist verschollen, "wessen Aufenthalt während längerer Zeit unbekannt ist, ohne dass Nachrichten darüber vorliegen, ob er in dieser Zeit noch gelebt hat oder gestorben ist, sofern nach den Umständen hierdurch ernstliche Zweifel an seinem Fortleben begründet werden". Auf diesen Verschollenheitsbegriff nehmen diejenigen Regelungen Bezug, nach denen ausnahmsweise Hinterbliebenenleistungen auch ohne Nachweis des Todes erbracht werden (so § 49 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch, § 63 Abs. 4 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch, § 16 Gesetz über die Alterssicherung der Landwirte, § 52 Abs. 1, § 78a Bundesversorgungsgesetz, § 44 Soldatenversorgungsgesetz). Für diese Fallkonstellationen eignet sich der strenge Maßstab nach § 1 VerschG, da hier der Nachweis des Todes durch eine naheliegende Vermutung seines Eintritts ("ernsthafte Zweifel an seinem Fortleben") ersetzt wird. Dementsprechend dient das Verfahren nach dem VerschG der Vorbereitung der Todeserklärung (BSG, Urteil vom 8. April 1992 – 10 RKg 12/91 –‍, juris, Rn. 14 ff.).

 

c. Das hier begehrte Kindergeld ist jedoch keine Leistung an Hinterbliebene. Es steht vielmehr im Regelfall allen Einwohnern der Bundesrepublik Deutschland für ihre hier lebenden Kinder zu und soll nach der Neuregelung des § 1 Abs. 2 BKGG nicht nur erweiternd auch Waisen gewährt werden, sondern allgemein in jenen Fällen nicht verloren sein, in denen kein Leistungsberechtigter für das Kind vorhanden ist (BSG a.a.O.). Aus welchen Gründen die Beklagte in ihren Dienstanweisungen (DA-BKGG 101.73 Abs. 3 Satz 4) gleichwohl einen „Nachweis der Verschollenheit der Eltern“ verlangt, ist nicht nachvollziehbar.

 

d. Mangels sonstiger näherer Anhaltspunkte bleiben für die Auslegung der Formulierung "den Aufenthalt seiner Eltern nicht kennt" in § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BKGG allein der Wortlaut und die allgemein mit dem Kindergeld verfolgten Zwecke maßgebend.

 

aa. Für das Verständnis des Wortlauts ist die hiervon abweichende Fassung der Vorschriften über die öffentliche Zustellung (vgl. u.a. § 185 Nr. 1 Zivilprozessordnung - ZPO -, § 15 Abs. 1 lit. 1 Verwaltungszustellungsgesetz) oder die Abwesenheitspflegschaft (vgl. u.a. § 15 SGB X, § 1911 Bürgerliches Gesetzbuch) bedeutsam. Dort ist jeweils Voraussetzung, dass "der Aufenthalt[sort] [...] unbekannt ist", also von niemandem, weder der antragstellenden Person noch der Behörde, zu ermitteln ist; in diesen Fällen ist also ein objektiver Maßstab anzulegen. Demgegenüber ist § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BKGG erkennbar subjektiv ausgerichtet und stellt auf die Unkenntnis des das Kindergeld beanspruchenden Kindes ab (BSG a.a.O.).

 

bb. Kindergeld bezweckt einen typisierten Ausgleich für die finanzielle Mehrbelastung durch die Kindererziehung bzw. die besonderen Bedürfnisse von Kindern und Heranwachsenden ("Kinder kosten"). Im Fall von alleinstehenden Kindern (Quasi-Vollwaisen) dient es diesen selbst als Ausgleich für die eigenen Belastungen, die damit gleichzeitig anerkannt und gewürdigt werden. Das Kindergeldrecht geht dabei typisierend von durch die Gewährung von Kindergeld abzumildernden kindbedingten Belastungen bis zum 18. Lebensjahr aus (vgl. § 2 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 BKGG), weil – so die Vorstellung des Gesetzes – das Kind sich frühestens nach Eintritt der Volljährigkeit selbst unterhalten kann. Wird es nach Erreichen der Volljährigkeit für einen Beruf ausgebildet, kann der Anspruch unter bestimmten Voraussetzungen (vgl. § 2 Abs. 2 BKGG) sogar noch länger bestehen. Unabhängig vom Alter des Kindes dient das Kindergeld bei gering oder gar nicht mit Einkommenssteuer Belasteten in vollem Umfang der Familienförderung und stellt sich unter dem Regime des BKGG als reine Sozialleistung dar (BSG, Urteil vom 5. Mai 2015 – B 10 KG 1/14 R –, Rn. 27, 31 f.; SG Dortmund, Urteil vom 29. Juli 2020 – S 58 KG 7/19 –, Rn. 39 ff.; SG Landshut, Beschluss vom 17. April 2012 – S 10 KG 1/12 ER –, Rn. 29; LSG Niedersachsen, Urteil vom 20. Februar 2001 – L 8/3 KG 5/00 –, Rn. 29; jeweils juris). Auf Kindergeld in besonderem Maß angewiesen sind somit gerade solche (elternlose) Kinder, denen ihre Eltern oder Verwandte nicht mehr helfen können (vgl. BSG a.a.O., Rn. 38; ähnlich SG Fulda, Urteil vom 27. Oktober 2020 – S 4 KG 1/20 –, juris, Rn. 29).

 

e. Diese Zwecke werden verfehlt, legt man den Maßstab der Beklagten an die Unkenntnis vom Aufenthalt der Eltern zugrunde. Das von § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BKGG verfolgte Ziel, dem Kind den Kindergeldanspruch zu erhalten, solange keine Leistungsberechtigten (Eltern oder Verwandte) vorhanden sind, die die kindbedingten Belastungen tragen können, entfällt grundsätzlich nur bei – von der Beklagten festzustellender (BSG, Urteil vom 8. April 1992, a.a.O., Rn. 18) – positiver Kenntnis des Kindes vom konkreten Aufenthalts(ort) der Eltern (SG Düsseldorf, Urteil vom 20. Juli 2020 – S 19 KG 5/20 –, juris, Rn. 31 m.w.N.), nicht jedoch bereits dann, wenn das Kind weiß, dass sich „irgendwo auf der Welt“ zumindest ein Elternteil aufhält (vgl. SG Gießen, Urteil vom 7. Mai 2021 – S 12 KG 2/18 –, juris, Rn. 26), und mit dem es in sporadischem Kontakt steht (so aber SG Hamburg, Urteil vom 15. Januar 2020 – S 38 KG 5/17 –, unveröffentlicht).

Soweit die Beklagte meint, mit der Situation von Vollwaisen vergleichbar sei nur, wenn ein Kind nicht wisse, ob seine Eltern noch lebten, d.h. ob jemand künftig die Elternstelle einnehmen könne, findet diese einer „Verschollenheit light“ nahekommende Rechtsauffassung (vgl. die o.g. Legaldefinition der Verschollenheit in § 1 Abs. 1 VerschG) im Wortlaut von § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BKGG keine Stütze. Hätte der Gesetzgeber dieselbe Zielgruppe wie die Beklagte vor Augen gehabt, hätte er dies entsprechend formulieren können (z.B. „wer Vollwaise ist oder nicht weiß, ob seine Eltern noch leben.“). Auf der Grundlage dieser Rechtsauffassung hätte das BSG in seinem o.g. Urteil aus 1992 keinen Anspruch auf Kindergeld bejahen dürfen; denn dort stand nicht in Zweifel, dass die Mutter des Klägers noch lebte.

 

In sozialer Hinsicht steht ein Kind vielmehr schon dann einer Vollwaisen gleich, wenn es nicht weiß, wo sich zumindest ein Elternteil regelmäßig aufhält (vgl. Palsherm, in: Schlegel/Voelz­ke, jurisPK-SGB I, 3.A., § 25 SGB I [Stand: 21.07.2021], Rn. 26 m.w.N.; ähnlich Irmen, in: Hambüchen, BEEG, EStG, BKGG, Stand: Dezember 2009, § 1 BKGG Rn. 49). Solange nicht wenigstens ein Elternteil für das Kind „greifbar“ bzw. erreichbar ist, wird es die durch das Kindergeld abzumildernden kindbedingten Belastungen selbst zu tragen haben. Eine Erreichbarkeit in diesem Sinne (s. zu diesem Kriterium auch SG Dortmund, Urteil vom 29. Juli 2020 – S 58 KG 7/19 –, juris, Rn. 34 ff.) erfordert daher zweierlei: einen Aufenthalt der Eltern, der nicht nur absehbar vorübergehenden Charakter hat (wie z.B. während einer Flucht oder bei bürgerkriegsbedingtem häufigem Ortswechsel), sondern mit einer gewissen Verstetigung verbunden ist, und die postalischen Determinanten dieses Aufenthalts, wie sie typischerweise in einer zustellungsfähigen Anschrift zum Ausdruck kommen (vgl. zum Kriterium der ladungsfähigen Anschrift: BSG, Urteil vom 8. April 1992, a.a.O., Rn. 19; SG Gießen, Urteil vom 7. Mai 2021 – S 12 KG 2/18 –‍, juris, Rn. 26; SG Düsseldorf, Urteil vom 20. Juli 2020 – S 19 KG 5/20 –, juris, Rn. 36; a.A. Dau jurisPR-SozR 11/2016). Soweit demgegenüber vertreten wird, Unkenntnis liege nicht vor, wenn das Kind „zum Zeitpunkt der Antragstellung gerade nicht weiß, wo sich seine Eltern befinden“ (Seewald, in: Seewald/Felix, Kindergeldrecht, Stand: 2015, § 1 BKGG Rn. 123), überzeugt dies den Senat nicht. Denn weder § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BKGG noch dem Kindergeldrecht im Übrigen sind Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, auf welche räumliche Ebene (Kontinent, Staat, Region, Kommune o.ä.) sich die Kenntnis des Kindes vom Aufenthalts(ort) mindestens eines Elternteils beziehen müsste, um einen Anspruch auf Kindergeld auszuschließen.

Unabhängig von den beiden o.g. Kriterien fehlt es an der Erreichbarkeit jedenfalls auch, wenn die Eltern bzw. der verbliebene Elternteil sich dem Kind entziehen und es im Stich lassen. Denn auch dann muss das Kind mangels nahestehender Erwachsener, die die Elternstelle einnehmen, die kindbedingten Belastungen selbst tragen.

 

f. Hieran gemessen kannte der Kläger den Aufenthalt seiner Eltern.

 

Denn er wusste während des streitigen Zeitraums, dass seine Eltern im Ort P B im Upazila (Verwaltungseinheit in Bangladesch) B (H Distrikt, S Division, vgl. http://www.bangladesh.gov.bd/site/view/upazila-list) lebten. Dass sie, nachdem er Bangladesch verlassen hatte, aufgrund von örtlichen Auseinandersetzungen innerhalb dieses Ortes umgezogen waren – wie er während seines Aufenthalts in Griechenland erfuhr–, wirkte sich auf ihre Erreichbarkeit im streitigen Zeitraum nicht aus. Denn Anhaltspunkte für einen weiteren Wohnungswechsel sind nicht ersichtlich, sodass ihr Aufenthalt in PB verstetigt war. Außerdem kannte der Kläger mit diesem Ort auch die wesentlichen postalischen Determinanten, um seine Eltern erreichen zu können. Den glaubhaften Angaben des in der mündlichen Verhandlung vom 22. September 2022 in die bengalische Sprache übersetzenden Dolmetschers S entnimmt der Senat, dass in den ländlichen Gebieten Bangladeschs keine Straßennamen verwendet werden und die postalische Übermittlung dadurch sichergestellt wird, dass Post zunächst an das lokale Postamt gesandt wird und von dort aus durch dessen Mitarbeiter, die die Adressaten entweder kennen oder durch Recherchen vor Ort ausfindig machen, weitergeleitet wird. Diese Angaben werden nicht durch die Äußerung des Klägers, Briefe an seine Eltern würden diese (nur) möglicherweise, somit ggf. auch nicht erreichen, in Frage gestellt. Denn zum einen hat der Kläger nach eigenen Angaben keine Versuche unternommen, seine Eltern postalisch zu erreichen, kann also nicht über eigene vergebliche Zustellungsbemühungen berichten. Zum anderen hat er – nach seinen weiteren Angaben, die aus Sicht des Senats keinen Anlass zu Zweifeln geben – sein Heimatland im Alter von zwölf Jahren verlassen und seither nicht wieder aufgesucht, sodass nicht erkennbar ist, woher er nähere Kenntnis von der (Un-‍)Zuverlässigkeit des Postsystems Bangladeschs hat.

 

II. Als nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer erfüllte der Kläger darüber hinaus nicht die Voraussetzungen nach § 1 Abs. 3 BKGG (in der 2017 geltenden, hier maßgeblichen alten Fassung – aF).

 

Nach dieser Vorschrift galt:

 

„Ein nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer erhält Kindergeld nur, wenn er

1.      eine Niederlassungserlaubnis besitzt,

2.      eine Aufenthaltserlaubnis besitzt, die zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigt oder berechtigt hat, es sei denn, die Aufenthaltserlaubnis wurde

a) nach § 16 oder § 17 des Aufenthaltsgesetzes erteilt,

b) nach § 18 Absatz 2 des Aufenthaltsgesetzes erteilt und die Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit darf nach der Beschäftigungsverordnung nur für einen bestimmten Höchstzeitraum erteilt werden,

c) nach § 23 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes wegen eines Krieges in seinem Heimatland oder nach den §§ 23a, 24, 25 Absatz 3 bis 5 des Aufenthaltsgesetzes erteilt

oder

3.      eine in Nummer 2 Buchstabe c genannte Aufenthaltserlaubnis besitzt und

a) sich seit mindestens drei Jahren rechtmäßig, gestattet oder geduldet im Bundesgebiet aufhält und

b) im Bundesgebiet berechtigt erwerbstätig ist, laufende Geldleistungen nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch bezieht oder Elternzeit in Anspruch nimmt.“

 

Der Kläger verfügte seit Februar 2017 über eine auf § 25 Abs. 3 AufenthG beruhende, zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigende Aufenthaltserlaubnis, sodass ein Anspruch auf Kindergeld nicht gem. § 1 Abs. 3 Nr. 2, sondern nur nach § 1 Abs. 3 Nr. 3 BKGG aF in Frage kommt. Dessen Anforderungen erfüllte der Kläger nicht.

 

1. Der Kläger hielt sich nicht seit mindestens drei Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet auf. Rechtmäßig ist der Aufenthalt, wenn der Ausländer mit seinem Aufenthalt nicht gegen eine Rechtsvorschrift verstößt (Kluth/Hornung/Koch ZuwanderungsR-HdB, § 4 Aufenthalt [Voraussetzungen, Aufenthaltszwecke, Integration] Rn. 85). Für die Rechtmäßigkeit genügen ein Aufenthaltstitel i.S.v. § 4 Abs. 1 AufenthG, das fiktive Aufenthaltsrecht nach § 81 Abs. 3 Satz 1 und Abs. 4 AufenthG und die Befreiung vom Erfordernis des Aufenthaltstitels (Bergmann/Dienelt Ausländerrecht, 14.A. 2022, AufenthG § 37 Rn. 7). Weil keine dieser Fallgruppen im Falle des Klägers einschlägig ist, verstieß er im streitgegenständlichen Zeitraum gegen § 4 AufenthG aF.

 

a. Nach dieser Vorschrift bedurften Ausländer für die Einreise und den Aufenthalt im Bundesgebiet eines Aufenthaltstitels, sofern nicht durch Recht der Europäischen Union oder durch Rechtsverordnung etwas anderes bestimmt ist oder auf Grund des Abkommens vom 12. September 1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei (BGBl. 1964 II S. 509) (Assoziationsabkommen EWG/Türkei) ein Aufenthaltsrecht besteht. Die Aufenthaltstitel werden erteilt als

1. Visum im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 3,

2. Aufenthaltserlaubnis (§ 7),

2a. Blaue Karte EU (§ 19a),

3. Niederlassungserlaubnis (§ 9) oder

4. Erlaubnis zum Daueraufenthalt – EU (§ 9a).

Mit Wirkung zum 1. August 2017 wurden gem. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 lit. b) und c) AufenthG als weitere Aufenthaltstitel die ICT-Karte (§ 19b) und die Mobiler-ICT-Karte (§ 19d) eingeführt.

Über keine dieser Aufenthaltstitel verfügte der Kläger im streitigen Zeitraum.

 

b. Es lag aber auch keiner der Sachverhalte vor, nach denen der Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet im Übrigen als rechtmäßig zu qualifizieren gewesen wäre (vgl. Kluth/Hornung/Koch ZuwanderungsR-HdB, § 4 Aufenthalt [Voraussetzungen, Aufenthaltszwecke, Integration] Rn. 85).

 

aa. Nach § 1 Abs. 2 AufenthG findet dieses Gesetz findet keine Anwendung auf Ausländer,

1.    deren Rechtsstellung von dem Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern geregelt ist, soweit nicht durch Gesetz etwas anderes bestimmt ist,

2.    die nach Maßgabe der §§ 18 bis 20 des Gerichtsverfassungsgesetzes nicht der deutschen Gerichtsbarkeit unterliegen,

3.    soweit sie nach Maßgabe völkerrechtlicher Verträge für den diplomatischen und konsularischen Verkehr und für die Tätigkeit internationaler Organisationen und Einrichtungen von Einwanderungsbeschränkungen, von der Verpflichtung, ihren Aufenthalt der Ausländerbehörde anzuzeigen und dem Erfordernis eines Aufenthaltstitels befreit sind und wenn Gegenseitigkeit besteht, sofern die Befreiungen davon abhängig gemacht werden können.

 

Zu keiner dieser Personengruppen zählte der Kläger.

 

bb. Soweit nach §§ 27 bis 29 Aufenthaltsverordnung aF (AufenthV aF) Personen bei Vertretungen ausländischer Staaten, freizügigkeitsberechtigte Schweizer und oder in Rettungsfällen nach § 14 AufenthG (Ausländer, die bei Unglücks- oder Katastrophenfällen Hilfe leisten oder in Anspruch nehmen wollen oder die die zum Flug- oder Begleitpersonal von Rettungsflügen gehören) vom Erfordernis eines Aufenthaltstitel befreit waren, traf auch dies auf den Kläger nicht zu.

 

cc. Auch die Anwendung von §§ 39 bis 41 AufenthV aF schied im Falle des Klägers aus.

 

(1) Nach § 39 AufenthV aF („Verlängerung eines Aufenthalts im Bundesgebiet für längerfristige Zwecke“) in der seit dem 5. August 2017 geltenden Fassung (die zuvor geltende Fassung enthielt lediglich die Nrn. 8 bis 11 von Satz 1 noch nicht) galt:

 

„Über die im Aufenthaltsgesetz geregelten Fälle hinaus kann ein Ausländer einen Aufenthaltstitel im Bundesgebiet einholen oder verlängern lassen, wenn

1.  er ein nationales Visum (§ 6 Absatz 3 des Aufenthaltsgesetzes) oder eine Aufenthaltserlaubnis besitzt,

2. er vom Erfordernis des Aufenthaltstitels befreit ist und die Befreiung nicht auf einen Teil des Bundesgebiets oder auf einen Aufenthalt bis zu längstens sechs Monaten beschränkt ist,

3. er Staatsangehöriger eines in Anhang II der Verordnung (EG) Nr. 539/2001 aufgeführten Staates ist und sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält oder ein gültiges Schengen-Visum für kurzfristige Aufenthalte (§ 6 Absatz 1 Nummer 1 des Aufenthaltsgesetzes) besitzt, sofern die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach der Einreise entstanden sind, es sei denn, es handelt sich um einen Anspruch nach den §§ 16, 17b oder 18d des Aufenthaltsgesetzes,

4. er eine Aufenthaltsgestattung nach dem Asylgesetz besitzt und die Voraussetzungen des § 10 Abs. 1 oder 2 des Aufenthaltsgesetzes vorliegen,

5. seine Abschiebung nach § 60a des Aufenthaltsgesetzes ausgesetzt ist und er auf Grund einer Eheschließung oder der Begründung einer Lebenspartnerschaft im Bundesgebiet oder der Geburt eines Kindes während seines Aufenthalts im Bundesgebiet einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erworben hat,

6. er einen von einem anderen Schengen-Staat ausgestellten Aufenthaltstitel besitzt und auf Grund dieses Aufenthaltstitels berechtigt ist, sich im Bundesgebiet aufzuhalten, sofern die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung eines Aufenthaltstitels erfüllt sind; § 41 Abs. 3 findet Anwendung,

7. er seit mindestens 18 Monaten eine Blaue Karte EU besitzt, die von einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union ausgestellt wurde, und er für die Ausübung einer hochqualifizierten Beschäftigung eine Blaue Karte EU beantragt. Gleiches gilt für seine Familienangehörigen, die im Besitz eines Aufenthaltstitels zum Familiennachzug sind, der von demselben Staat ausgestellt wurde wie die Blaue Karte EU des Ausländers. 3Die Anträge auf die Blaue Karte EU sowie auf die Aufenthaltserlaubnisse zum Familiennachzug sind innerhalb eines Monats nach Einreise in das Bundesgebiet zu stellen,

8. er die Verlängerung einer ICT-Karte nach § 19b des Aufenthaltsgesetzes beantragt,

9. er

a) einen gültigen Aufenthaltstitel eines anderen Mitgliedstaates besitzt, der ausgestellt worden ist nach der Richtlinie 2014/66/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen im Rahmen eines unternehmensinternen Transfers (ABl. L 157 vom 27.5.2014, S. 1), und

b) eine Mobiler-ICT-Karte nach § 19d des Aufenthaltsgesetzes beantragt oder eine Aufenthaltserlaubnis zum Zweck des Familiennachzugs zu einem Inhaber einer Mobiler-ICT-Karte nach § 19d des Aufenthaltsgesetzes beantragt,

10. er

a) einen gültigen Aufenthaltstitel eines anderen Mitgliedstaates besitzt, der ausgestellt worden ist nach der Richtlinie (EU) 2016/801 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2016 über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zu Forschungs- oder Studienzwecken, zur Absolvierung eines Praktikums, zur Teilnahme an einem Freiwilligendienst, Schüleraustauschprogrammen oder Bildungsvorhaben und zur Ausübung einer Au-pair-Tätigkeit (ABl. L 132 vom 21.5.2016, S. 21), und

b) eine Aufenthaltserlaubnis nach § 20b des Aufenthaltsgesetzes beantragt oder eine Aufenthaltserlaubnis zum Zweck des Familiennachzugs zu einem Inhaber einer Aufenthaltserlaubnis nach § 20b des Aufenthaltsgesetzes beantragt oder

11. er vor Ablauf der Arbeitserlaubnis oder der Arbeitserlaubnisse zum Zweck der Saisonbeschäftigung, die ihm nach § 15a Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 der Beschäftigungsverordnung erteilt wurde oder wurden, einen Aufenthaltstitel zum Zweck der Saisonbeschäftigung bei demselben oder einem anderen Arbeitgeber beantragt; dieser Aufenthaltstitel gilt bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde als erteilt.

Satz 1 gilt nicht, wenn eine ICT-Karte nach § 19b des Aufenthaltsgesetzes beantragt wird.“

 

Auch keine dieser Konstellationen traf auf den Kläger zu. Bangladesch gehört nicht zu den in Anhang II der Verordnung (EG) Nr. 539/2001 aufgeführten Staaten. Über einen schon während des Asylverfahrens erteilten Aufenthaltstitel (§ 10 AufenthG) verfügte der Kläger nicht. Alle anderen Fallgruppen waren offenkundig nicht einschlägig.

 

(2) Auch § 40 AufenthV aF setzt die – dem Kläger fehlende – Staatsangehörigkeit eines der in Anhang II der Verordnung (EG) Nr. 539/2001 aufgeführten Staaten voraus.

 

(3) § 41 AufenthV aF galt nur für Staatsangehörige von Australien, Israel, Japan, Kanada, der Republik Korea, von Neuseeland, des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland, Andorra, Brasilien, El Salvador, Honduras, Monaco und San Marino, aber nicht für den Kläger.

 

2. Der Kläger hielt sich auch nicht seit mindestens drei Jahren gestattet im Bundesgebiet auf. Gemäß § 55 Abs. 1 Satz 1 Asylgesetz (AsylG) aF ist einem Ausländer, der um Asyl nachsucht, zur Durchführung des Asylverfahrens der Aufenthalt im Bundesgebiet ab Ausstellung des Ankunftsnachweises gemäß § 63a Abs. 1 AsylG gestattet (Aufenthaltsgestattung). In den Fällen, in denen kein Ankunftsnachweis ausgestellt wird, entsteht die Aufenthaltsgestattung mit der Stellung des Asylantrags (§ 55 Abs. 1 Satz 3 AsylG aF).

 

a. Zwar lässt die Aufenthaltsgestattung den Aufenthalt im Bundesgebiet rechtmäßig werden (Bergmann/Dienelt a.a.O.). Dies kann für einen rechtmäßigen Aufenthalt i.S.v. § 1 Abs. 3 Nr. 3 lit. a) BKGG aF nicht genügen, weil es andernfalls der Tatbestandsalternative des gestatteten Aufenthalts nicht bedurft hätte.

 

b. Ausschlaggebend ist daher, dass, soweit der Erwerb oder die Ausübung eines Rechts oder einer Vergünstigung von der Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet abhängig ist, die Zeit eines Aufenthalts nach § 55 Abs. 1 AsylG nur angerechnet wird, wenn der Ausländer als Asylberechtigter anerkannt ist oder ihm internationaler Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG zuerkannt wurde (§ 55 Abs. 3 AsylG aF). Da der Kläger nicht als Asylberechtigter anerkannt und ihm auch kein internationaler Schutz i.S.v. § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG, d.h. nach der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes – dieser umfasst den dem Kläger jeweils verweigerten Flüchtlings- bzw. subsidiären Schutz (Mantel, in: Huber/Mantel, Aufenthaltsgesetz/Asylgesetz, 3.A., AsylG § 1 Rn. 5) – zuerkannt wurde, hielt er sich nicht gestattet im Bundesgebiet auf.

 

Dem kann nicht entgegen gehalten werden, § 55 Abs. 3 AsylG aF sei im Rahmen von § 1 Abs. 3 Nr. 3 lit. a) BKGG aF nicht anwendbar, weil andernfalls das Tatbestandsmerkmal „gestattet“ obsolet würde. Zwar ist einem Ausländer nach einer Anerkennung als Asylberechtigter oder nach Zuerkennung internationalen Schutzes i.S.v. § 1 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. §§ 3 ff AsylG eine Aufenthaltserlaubnis gem. § 25 Abs. 1 Satz 1 bzw. Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu erteilen, wobei der Aufenthalt bis zur Erteilung der Aufenthaltserlaubnis als erlaubt gilt (§ 25 Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Aufgrund dessen dürfte der gesamte Aufenthalt seit Beginn des Asylverfahrens als rechtmäßig i.S.v. § 1 Abs. 3 Nr. 3 lit. a) BKGG zu qualifizieren sein, ohne dass es auf die Frage eines gestatteten Aufenthalts noch ankäme. Gleichwohl verbleibt – auch bei Anwendung von § 55 Abs. 3 AsylG aF im Rahmen von § 1 Abs. 3 Nr. 3 lit. a) BKGG aF – für das Tatbestandsmerkmal „gestattet“ ein eigener Anwendungsbereich für Fallkonstellationen, in denen das Asylverfahren noch nicht abgeschlossen ist.

 

3. Außerdem hielt sich der Kläger nicht seit mindestens drei Jahren geduldet in Deutschland auf. Er verfügte über keine der in §§ 60a bis 60d AufenthG aF als solche bezeichneten Duldungen (vorübergehende Aussetzung der Abschiebung).

 

4. Ob § 1 Abs. 3 Nr. 3 lit. a) BKGG aF deshalb analog anzuwenden ist, weil das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG aF grundsätzlich auf unbestimmte Zeit festgestellt wird – so geschehen auch im Falle des Klägers – und somit weiter reicht als eine Duldung, die nach ihrer Legaldefinition die Abschiebung nur vorübergehend verhindert, kann offen bleiben. Denn die Wirkung des im o.g. Bescheid des BAMF festgestellten Abschiebungsverbots tritt erst mit dessen Bekanntgabe ein.

 

a. Dies bringt der o.g. Bescheid des BAMF mit der Formulierung „Die positive Feststellung zu § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG wird mit dem Zeitpunkt der Bekanntgabe der Entscheidung bestandskräftig“ zum Ausdruck. Dieser Satz weist nicht nur auf den generellen Ausschluss des Widerspruchs gegen Maßnahmen und Entscheidungen nach dem AsylG hin, sondern macht zugleich – bei der gebotenen Auslegung aus der Sicht eines objektiven Empfängers (Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 9.A. 2018 § 35 Rn. 71, 147 m.w.N.) – deutlich, dass die Feststellung des Abschiebungsverbots erst mit der Bekanntgabe des Bescheids Wirkung entfaltet.

Diese eingeschränkte Wirkung ist auch sachgerecht. Ein Bedürfnis, im Falle des Klägers ein Abschiebungsverbot mit Wirkung für die Vergangenheit festzustellen, ist nicht erkennbar. Denn für die Dauer des Asylverfahrens ist sein Aufenthalt im Bundesgebiet – wie bereits dargelegt – gemäß § 55 Abs. 1 Satz 1 AsylG gestattet und daher rechtmäßig.

 

b. Die nur auf die Zukunft gerichtete Wirkung des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG ergibt sich auch aus dessen Eigenart. Nach dieser Regelung soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht (Satz 1). Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden (Satz 3).

Die Voraussetzungen dieses Abschiebungsverbots lassen sich demnach nur auf der Grundlage von aktuellen Ermittlungen einerseits zum Gesundheitszustand der ausländischen Person und andererseits zu den Behandlungsmöglichkeiten im Herkunftsstaat prüfen. Denn die Feststellung eines Abschiebungsverbots gem. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG verlangt die Erstellung einer zukunftsbezogenen Gefahrenprognose. Hierfür sind auf der Basis von Erkenntnissen, die aus Vergangenheit und Gegenwart gewonnen werden, zukunftsorientierte Schlussfolgerungen zu ziehen (BVerwG, Beschluss vom 8. Februar 2011 − 10 B 1/11 –, juris, Rn. 7 f.).

 

II. Angesichts dessen kann dahinstehen, dass § 1 Abs. 3 Nr. 3 lit. b BKGG aF nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts zur wortgleichen Regelung in § 62 Abs. 2 Nr. 3 lit. b Einkommenssteuergesetz (i.d.F. vom 13. Dezember 2006) mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar ist (BVerfG, Beschluss vom 28. Juni 2022 – 2 BvL 9/14 –, juris; zur verfassungskonformen Einschränkung von § 1 Abs. 3 Nr. 3 lit. b BKGG <i.d.F. vom 13. Dezember 2006> für minderjährige Kinder s. BSG, Urteil vom 5. Mai 2015 – B 10 KG 1/14 R –, juris).

 

C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits.

 

Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).

Rechtskraft
Aus
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