S 39 U 192/19

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
SG Dresden (FSS)
Sachgebiet
Unfallversicherung
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 39 U 192/19
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Nichtanwendbarkeit der kurzen Ausschlussfrist des § 111 Satz 1 SGB X auf vertragliche Auftragsverhältnisse der §§ 88, 91 SGB X

      1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 234,19 € zu zahlen.
      2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
      3. Die Berufung zum Landessozialgericht Chemnitz wird zugelassen.

 

T a t b e s t a n d :

Die Klägerin begehrt von der Beklagten Erstattung in einem Auftragsverhältnis.

Die Klägerin erbrachte auf der Grundlage der Verwaltungsvereinbarung Generalauftrag Verletztengeld (VV GV) als zuständige Krankenversicherungsträgerin (KV-Trägerin) an ihre Versicherte bei Erkrankung deren Kindes (geb. 2009) aufgrund eines Arbeitsunfalles vom 22.6.2017 Kinderpflege-Verletztengeld für die Zeit vom 22.6.2017 – 23.6.2017.

Ihre Auftragsleistung rechnete die Klägerin gegenüber der Beklagten als zuständiger Trägerin der Gesetzlichen Unfallversicherung (GUV) – UV-Trägerin - mit Erstattungsverlagen vom 28.9.2018 iHv insgesamt 234,19 € ab. Der Gesamtbetrag setzt sich wie folgt zusammen:

Kinderpflege-Verletztengeld                   92,88 €

RV Beitrag                                              16,92 €

AF Beitrag                                                2,70 €

Verwaltungskosten                                   1,69 €

Grundbeiträge insgesamt                      120,00 €

Gesamte Erstattungsforderung              234,19 €

Mit Schreiben vom 16.10.2018 lehnte die Beklagte Zahlung unter Verweis auf das Verstreichen der zwölfmonatigen Ausschlussfrist des § 111 Satz 1 SGB X ab.

In der Folge erreichten die Beteiligten dazu keine Verständigung. 2019 erhob die Klägerin vorliegende Klage.

Die Klägerin beantragt sinngemäß:

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 234,19 € zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage wird abgewiesen.

Die Beteiligten erklärten auf das gerichtliche Schreiben vom 21.2.2022 ihr Einverständnis zur Entscheidung ohne mündliche Verhandlung im schriftlichen Verfahren.

 

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:

Die Kammer kann nach § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Urteil im schriftlichen Verfahren nach § 124 Abs. 2 SGG entscheiden, nachdem die Beteiligten dazu unter dem 18.3.2022 und dem 21.3.2022 schriftlich ihr Einverständnis erklärt haben.

Die zulässige Leistungsklage (§ 54 Abs. 5 SGG) ist begründet.

Der Anspruch der klagenden Krankenkasse auf Zahlung von 234,19 € an Aufwendungen für Kinderpflege-Verletztengeld nebst RV- und AF-Beitrag, Verwaltungskosten und Grundbeiträgen (Grundbeitrag, Grundbeitrag RV/AF, Grundbeitrag KV/PV) ist voll begründet und nicht durch Ablauf der Ausschlussfrist nach § 111 Satz 1 SGB X ausgeschlossen.

Rechtsgrundlage für den Klageanspruch ist § 91 Abs. 2 Satz 1 SGB X i. V. m. VV GV (Verwaltungsvereinbarung über die generelle Beauftragung der Krankenkassen durch die Unfallversicherungsträger zur Berechnung und Auszahlung des Verletztengeldes nach § 189 SGB VII i. V. m. §§ 88 ff. SGB X).

Die sachlichen Voraussetzungen für die Entstehung des Anspruchs der Klägerin auf Zahlung von 234,19 € sind erfüllt. Die Klägerin erbrachte als zuständige KV-Trägerin an ihre Versicherte aufgrund einer ärztlichen Bescheinigung vom 23.6.2017 für den Bezug von Krankengeld bei Erkrankung des 2009 geborenen Kindes aufgrund Unfalles vom 22.6.2017 für die Zeit vom 22.6.2017 – 23.6.2017 mit dem bezeichneten Kostenträger B.... Kinderpflege-Verletztengeld (§ 45 Abs. 4 SGB VII iVm entsprechender Anwendung von § 45 SGB V). Der Höhe nach besteht zwischen den Beteiligten über die Höhe des Erstattungsanspruches kein Streit. Sachliche Fehler sind nach Prüfung nicht zu erkennen, so dass auf die Aufteilung der Klageforderung durch die Klägerin verwiesen werden kann.

Der Zahlungsanspruch erlosch weder aufgrund der Regelung des § 111 S 1 SGB X noch aus anderem Grunde. § 111 SGB X (in der Fassung vom 18.1.2001) lautet:

Der Anspruch auf Erstattung ist ausgeschlossen, wenn der Erstattungsberechtigte ihn nicht spätestens zwölf Monate nach Ablauf des letzten Tages, für den die Leistung erbracht wurde, geltend macht. Der Lauf der Frist beginnt frühestens mit dem Zeitpunkt, zu dem der erstattungsberechtigte Leistungsträger von der Entscheidung des erstattungspflichtigen Leistungsträgers über seine Leistungspflicht Kenntnis erlangt hat.

Im Ausgangspunkt gilt, dass, weil nach § 37 SGB I das SGB I und das SGB X für alle Sozialleistungsbereiche des Sozialgesetzbuchs gelten, soweit sich aus den übrigen Büchern nichts Abweichendes ergibt, die kurze Ausschlussfrist in § 111 SGB X grundsätzlich auch für andere, in den besonderen Teilen des SGB geregelte Erstattungsansprüche gilt, soweit keine spezialgesetzlichen Sonderregelungen bestehen. Dementsprechend wird die Vorschrift auf folgende Erstattungsverhältnisse für anwendbar gehalten:

  • Erstattungsansprüche bei Funktionsnachfolge aufgrund von § 2 Abs. 3 Satz 2 SGB X;
  • Erstattungsansprüche aus öffentlich-rechtlichen Verträgen nach §§ 53 ff. SGB X, soweit die Beteiligten nichts Anderes vereinbaren, was grundsätzlich zulässig ist;
  • Erstattungsansprüche in der Jugendhilfe nach §§ 89 ff. SGB VIII;
  • Erstattungsansprüche in der Sozialhilfe nach §§ 106 bis 108 SGB XII;
  • Erstattungsansprüche nach § 10b AsylbLG

(vgl. dazu: Prof. Dr. Peter Becker in: Hauck/Noftz SGB X, § 111 Ausschlussfrist, Rn. 11).

Allgemein verneint wird demgegenüber eine Anwendbarkeit des § 111 SGB X auf den Rückerstattungsanspruch nach § 112 SGB X (Prof. Dr. Peter Becker, aaO, Rn. 17 mit Verweis auf: BSG vom 29. 11. 1990 - 2 RU 10/90; Mutschler in JurisPK-SGB X § 111 Rz 7; Roller in v. Wulffen, SGB X § 111 Rz 4).

Strittig ist die Anwendung auf Erstattungsansprüche im Rahmen eines Auftrags nach den §§ 88, 91, 93 SGB X für vertragliche und gesetzliche Auftragsverhältnisse und zu hinterfragen damit auch im vorliegenden Fall. Verneint wird die Anwendbarkeit der kurzen Ausschlussfrist damit, dass § 111 Satz 1 SGB X auf Erstattungsansprüche in einem Auftragsverhältnis (§§ 88 ff. SGB X) weder kraft ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung noch nach seinem Sinn und Zweck anwendbar sei (BSG, U. v. 12.11.2013 - B 1 KR 56/12 R - SozR 4-2500 § 264 Nr. 4; U. v. 18.11.2014 - B 1 KR 20/13 R; BSG v. 18.11.2014 - B 1 KR 12/14 R) bzw. dass es sich bei den Regelungen über den Auftrag in §§ 88 ff. SGB X, um ein in sich geschlossenes System handele, das lediglich gegenüber konkreten und abweichenden Vereinbarungen der beteiligten Leistungsträger offen sei (Roller in v. Wulffen, SGB X § 111 Rz 4; ebenso Steinbach in K § 91 Rz 12 ff.) Die Gegenauffassung begründet die Anwendbarkeit des § 111 SGB X für Auftragsverhältnisse damit, dass § 91 SGB X zwar in Abs. 1 Satz 2 eine Umrechnungsregelung wie in § 108 Abs. 1 SGB X und in Abs. 2 eine Regelung über die Verwaltungskosten wie in § 109 SGB X enthält, aber keine Regelung über eine Ausschluss- oder Verjährungsfrist für die in ihm geregelten Erstattungsansprüche und damit kein geschlossenes System darstelle. Durchgreifende Gründe, warum trotz § 37 SGB I § 111 SGB X für solche Erstattungsansprüche nicht gelten solle, seien nicht zu erkennen (Prof. Dr. Peter Becker in: Hauck/Noftz SGB X, § 111 Ausschlussfrist, Rn. 18; Mutschler in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl., § 111 SGB X [Stand: 22.05.2020], Rn. 11, jeweils m. w. N....).

Die Kammer folgt der erstgenannten Auffassung und hält die Vorschrift des § 111 SGB X auf Auftragsverhältnisse iSv §§ 88, 91 SGB X weder für direkt noch entsprechend anwendbar.

Im Ausgangspunkt kann im Hinblick auf die aufgezeigten Rechtsunsicherheiten in der Anwendbarkeit für das Auftragsverhältnis und dem daraus resultierenden Klärungsbedürfnis angenommen werden, dass im Rahmen der VV GV eine Regelung getroffen worden wäre, hätte § 111 SGB X im Erstattungsverhältnis gelten sollen. Das ist aber nicht erfolgt. Die teils differenzierten Regelungen der VV GV enthalten zur kurzen Ausschlussfrist in Bezug auf das Erstattungsverhältnis keine Regelung und erklären sie weder direkt noch entsprechend für anwendbar.

Gegen die Geltung von § 111 SGB X für Auftragsverhältnisse sprechen systematische Gesichtspunkte. Die Vorschrift des § 111 SGB X befindet sich im Zweiten Abschnitt des Dritten Kapitels des SGB X, der in den §§ 102 – 114 SGB X Erstattungsansprüche der Leistungsträger untereinander regelt, wohingegen sich die §§ 88, 91 SGB X im Zweiten Titel des Ersten Abschnittes des Dritten Kapitels des SGB X befinden, der in den §§ 87 – 96 SGB X die Zusammenarbeit der Leistungsträger untereinander bzw. in den §§ 86 – 101a SGB X (Erster Abschnitt) die Zusammenarbeit der Leistungsträger untereinander und mit Dritten regelt. Nachdem § 111 SGB X im Ersten Abschnitt weder direkt noch entsprechend für anwendbar erklärt ist, sprechen systematische Zusammenhänge eher gegen die Geltung der Vorschrift auf vertragliche oder gesetzliche Auftragsverhältnisse. Nichts Gegenteiliges oder Weiterführendes ergibt sich insoweit aus § 37 Satz 1 Hs. 1 SGB I, wonach das Erste und Zehnte Buch für alle Sozialleistungsbereiche des SGB I gelten, soweit sich aus den übrigen Büchern nichts Abweichendes ergibt. Denn dieses allgemeine Anwendungsgebot sagt nichts über das materielle Regelungsverhältnis innerhalb der vorgenannten Regelungen des SGB X, einerseits § 111 SGB X, andererseits die §§ 88, 91 SGB X, bringt also nichts Weiterführendes zu der Frage, ob sich "aus den übrigen Büchern nichts Abweichendes" (§ 37 SGB I) entnehmen lässt.

Im letztgenannten Sinn sprechen jedenfalls bezogen auf die VV GV und das Erstattungsverhältnis des Trägers der GKV zum UV-Träger nach Sinn und Zweck der einschlägigen Regelungen die maßgeblichen Gesichtspunkte gegen die Anwendbarkeit der kurzen Ausschlussfrist des § 111 SGB X auf diese Auftragsverhältnisse iSd §§ 88, 91 SGB X. Nach Dafürhalten der Kammer sind die Regelwerke der VV GV iVm § 189 SGB VII, §§ 88, 91 SGB X einerseits und der Erstattungsansprüche nach den §§ 102 ff. SGB X andererseits inhaltlich schon nicht zu vergleichen (vgl. Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 11. Juli 2012 – L 2 SO 2371/11 –, Rn. 30, juris). Es besteht auch unter Beachtung von § 37 SGB I kein stichhaltiger Grund für die Anwendung von § 111 SGB X auf die §§ 88, 91 SGB X. Dabei führt die Beantwortung der in dem Zusammenhang vieldiskutierten Frage nicht weiter, ob es sich bei den Vorschriften der §§ 88 ff. SGB X um ein abgeschlossenes Regelwerk handelt. Denn auch wenn das verneint wird, bleibt es dabei, dass ein überzeugender Grund für die Geltung der kurzen Ausschlussfrist in – vereinbarten oder gesetzlichen (§ 93 SGB X) – Auftragsverhältnissen fehlt. Auftragsverhältnisse bedürfen der 1-jährigen Ausschlussfrist nicht, sondern es kann für sie bei der regelmäßigen Verjährungsfrist von 4 Jahren bleiben, da gleichermaßen ein Interesse der Beteiligten an rechtzeitiger Abrechnung erbrachter Leistungen besteht. Das gilt auch vorliegend. Die Beklagte als erstattungspflichtige UV-Trägerin muss stets und grundsätzlich mit Erstattungsansprüchen der Krankenkassen aus Versicherungsfällen in der GUV rechnen. Grundsätzlich anders ist die Sachlage bei Erstattungsansprüchen nach den §§ 102 ff SGB X. Solche Erstattungsansprüche sind nicht regelhaft zwischen bestimmten Leistungsträgern zu erwarten, weshalb demjenigen, der auf Erstattung in Anspruch genommen wird, ein besonderes Interesse daran zukommen wird, möglichst bald Klarheit über solche Ansprüche zu erreichen. Er soll nicht nach langer Zeit noch durch Erstattungsansprüche überrascht werden, bei denen die zugrundeliegenden Verhältnisse Jahre zurückliegen und ggfs. nur noch erschwert aufklärbar sind. Diese Gesichtspunkte gelten nicht vergleichbar für die Dauerrechtsbeziehung zwischen Krankenkassen und UV-Trägern als Grundlage für Erstattungsansprüche aus § 189 SGB VII iVm VV GV. Die Krankenkasse wird in den Fällen nicht gelegentlich, wie in den Fällen der §§ 102 ff SGB X, für den erstattungspflichtigen Leistungsträger tätig, sondern übernimmt ständig und laufend dessen Pflichten in einem bestimmten Bereich. Der UV-Träger muss deshalb stets mit Erstattungsansprüchen aus der VV GV rechnen (vgl. für gesetzliches Erstattungsverhältnis nach dem BVG: BSG, Urteil vom 31. Mai 1989 – 9/9a RV 12/87 –, Rn. 16, juris). Unbenommen bleibt es den Beteiligten der VV GV, § 111 SGB X für anwendbar zu erklären (§ 91 Abs. 4 SGB X). Das ist aber vorliegend im Rahmen der VV GV, trotz ihrer teils ausdifferenzierten Regelungen, nicht geschehen, so dass es auch unter dem Gesichtspunkt der Kostenzuweisung gerechtfertigt erscheint, dass der Auftraggeber grundsätzlich innerhalb der gesetzlichen Verjährungsfrist zur Erstattung verpflichtet bleibt.

Der Klageanspruch ist daher nicht nach § 111 Satz 1 SGB X ausgeschlossen. Anderweitige rechtsvernichtende oder –hemmende Einwendungen sind weder geltend gemacht noch erkennbar einschlägig.

Die Klage war daher nach Grund und Höhe begründet.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG iVm entsprechender Anwendung von § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Zulassung der Berufung beruht auf § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG. Der Sache kommt grundsätzliche Bedeutung zu, weil die Frage der Anwendung des § 111 SGB X für vertragliche Auftragsverhältnisse wie aufgezeigt umstritten ist und in der Rechtsprechung bislang nicht geklärt erscheint.

Rechtskraft
Aus
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