L 6 U 87/20

Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Unfallversicherung
1. Instanz
SG Halle (Saale) (SAN)
Aktenzeichen
S 23 U 88/18
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 6 U 87/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Will ein Unfallversicherungsträger künftige Leistungen nach § 48 Abs 3 Satz 1 SGB X verweigern, bedarf es einer Änderung, durch die der höhere Leistungsanspruch überhaupt erst begründet würde.
2. Die bloße Feststellung der Rechtswidrigkeit als Teil der Entscheidung nach § 48 Abs 3 Satz 1 SGB X setzt voraus, dass eine leistungserhöhende Änderung nach § 48 Abs 1 oder 2 SGB X in der Zukunft zumindest denkbar ist.
3. Die Ablehnung jeglicher künftiger Leistungen ist keine Rechtsfolge des § 48 Abs 3 Satz 1 SGB X, sondern eine gesetzessystematisch unzulässige Umgehung der Anforderungen des § 45 SGB X.

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Es wird festgestellt, dass der Kläger gegen die Beklagte Anspruch auf Hörgeräteversorgung hat.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte im Rahmen einer sogenannten Abschmelzung der Anerkennung einer Lärmschwerhörigkeit als Berufskrankheit Leistungen für die Zukunft allgemein ablehnen kann, insbesondere die Versorgung des Klägers mit Hörgeräten.

 

Mit Bescheid vom 13. Dezember 2007 erkannte die Rechtsvorgängerin der Beklagten (nachfolgend einheitlich Beklagte) beim Kläger eine beginnende Schwerhörigkeit beiderseits als Berufskrankheit nach Nr. 2301 der Berufskrankheiten-Liste – Lärmschwerhörigkeit – an. Grundlage waren Erhebungen des Präventionsdienstes zu Gehör gefährdendem beruflichen Lärm seit 1970 und eine Stellungnahme einer beratenden Arbeitsmedizinerin vom 26. Oktober 2007, wonach die festgestellten Hörverluste nicht auf lärmunabhängige Entstehung zurückzuführen waren. Bereits zu dieser Zeit war der Kläger nach Erstanpassung durch die Fa. H.-Z. GmbH am 22. September 2006 beidseits mit einem Hörgerät versorgt. Die Versorgung übernahm die Beklagte.

 

Im Jahr 2017 überprüfte die Beklagte den Fall im Hinblick auf eine Änderung. In seinem Gutachten auf die Untersuchung vom 20. November 2017 gelangte der Facharzt für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde L. vom Krankenhaus M. in H. zu dem Ergebnis, die beim Kläger vorliegende hochfrequenzbetonte Innenohrschwerhörigkeit sei nicht typisch für eine Lärmschwerhörigkeit. Das Ausmaß der Hörminderung liege auch außerhalb des nach ISO 1999 zu erwartenden Maßes.

 

Mit Bescheid vom 25. Januar 2018 „über die Feststellung der Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsaktes“ lehnte die Beklagte einen Anspruch auf Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung wegen der Berufskrankheit nach Nr. 2301 der Berufskrankheiten-Liste ab. Dazu führte sie aus, nach der gutachterlichen Untersuchung bei  L. sei der tonaudiometrische Kurvenverlauf im Tonaudiogramm nicht typisch für eine beruflich verursachte Lärmschwerhörigkeit. Zudem habe sich das Ausmaß der Hörstörung nach dem Ende der beruflichen Lärmexposition erheblich verschlechtert. Es liege daher kein zu erwartendes Krankheitsbild einer beruflich verursachten Lärmschwerhörigkeit vor. Die vorliegende Hörminderung könne nicht hinreichend wahrscheinlich auf die berufliche Lärmeinwirkung zurückgeführt werden. Der Erstanerkennungsbescheid vom 13. Dezember 2007 könne trotz seiner Rechtswidrigkeit nicht mehr aufgehoben werden, jedoch sei eine Aussparung im Sinne von § 48 Abs. 3 SGB X vorzunehmen, wonach Leistungen für die Zukunft wie Verletztenrente, Hörgeräteversorgung etc. in Zukunft nicht mehr erbracht werden könnten.

 

Gegen den Bescheid legte der Kläger am 23. Februar 2018 Widerspruch ein und machte geltend, der Eintritt einer nachberuflichen Verschlechterung rechtfertige nicht den Schluss auf eine außerberufliche Entstehung. Eine Verschlechterung nach dem Ende beruflichen Lärms erst im Jahr 2015 sei auch überhaupt nicht feststellbar.

 

In einer ergänzenden Stellungnahme vom 4. Mai 2018 ist L. bei seiner Auffassung geblieben.

 

Mit Schreiben vom 18. Mai 2018 hörte die Beklagte den Kläger an. Sie verwies auf das Begutachtungsergebnis von L., wonach das Ergebnis des Tonaudiogramms schon 2006 für eine Lärmschwerhörigkeit untypisch gewesen sei. Auch Audiogramme aus den Jahren 2015 und 2017 seien nicht typisch für eine Lärmschwerhörigkeit. Der Kläger habe sogar selbst ein erhebliches Fortschreiten der Schwerhörigkeit nach dem Ende der beruflichen Lärmeinwirkung angegeben, das aber bei einer Lärmschwerhörigkeit nicht wissenschaftlichen Erkenntnissen entspreche.

 

Da der rechtswidrige Bescheid vom 13. Dezember 2007 nicht mehr zurückgenommen werden könne, sei § 48 Abs. 3 SGB X anzuwenden. Danach könnten Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung in Zukunft nicht mehr erbracht werden.

 

Mit dem Widerspruchsbescheid vom 16. August 2018 wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten den Widerspruch zurück. Er führte aus, die Lärmschwerhörigkeit sei rechtswidrig anerkannt worden, ohne dass der Bescheid vom 13. Dezember 2007 aufgehoben werden könne. Er verwies weiterhin unter anderem auf eine Einschätzung L.s, der nun bestehende Hörverlust sei „nicht mehr“ auf die berufliche Lärmeinwirkung zurück zu führen.

 

Mit der noch im gleichen Monat beim Sozialgericht Halle erhobenen Klage hat der Kläger sein Anliegen weiter verfolgt und ergänzend geltend gemacht, bei einer langjährigen beruflichen Lärmeinwirkung unterliege die Hörkurve gewissen Veränderungen gegenüber der typischen Hochtonsenke. Da dieser Fall bei ihm schon 2006 vorgelegen habe, ergebe sich aus dem erweiterten Senkenverlauf kein Argument für eine fehlerhafte Anerkennung. Zudem solle die angewandte Aussparungsregelung einen weiteren Zuwachs der zu erbringenden Leistungen verhindern, nicht aber die weitere Erbringung bisheriger Leistungen wie der Hörgeräteversorgung.

 

Das Sozialgericht hat ein Gutachten des Facharztes für Hals-, Nasen-, Ohrenheilkunde P1 nach Aktenlage vom 11. Juni 2019 eingeholt, wegen dessen Einzelheiten auf Bl. 51 - 55 d. A. Bezug genommen wird. Er ist im Wesentlichen zu dem Ergebnis gelangt, eine Lärmschwerhörigkeit sei zwar nicht beweisbar, aber auch nicht auszuschließen. Er rate eine erneute Untersuchung an.

 

Das Gericht hat sodann ein Gutachten des Facharztes für Hals-, Nasen-, Ohrenheilkunde Dr. P2 vom 12. März 2020 eingeholt, wegen dessen Inhalt im Einzelnen auf Bl. 86 - 91 d. A. Bezug genommen wird. Er hat im Wesentlichen ausgeführt, in der Zusammenschau zeigten die Audiogramme den Verlauf eines Fortschreitens einer Lärmschwerhörigkeit bei weiterer Lärmeinwirkung.

 

Der Einschätzung hat P1 in einer ergänzenden Stellungnahme vom 6. April 2020 insoweit widersprochen, als er eine Erklärung der Hörmessungen von P2 als allein durch Berufslärm bedingt ausgeschlossen hat.

 

Mit Urteil vom 23. Oktober 2020 hat das Sozialgericht den Bescheid der Beklagten vom 25. Januar 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. August 2018 aufgehoben. Der Bescheid sei rechtswidrig, weil der Anerkennungsbescheid der Beklagten vom 13. Dezember 2007 nicht im Sinne von § 48 Abs. 3 SGB X rechtswidrig gewesen sei. Denn die Berufskrankheit nach Nr. 2301 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung habe vorgelegen. Die Innenohrschwerhörigkeit beim Kläger sei ursächlich auf die berufliche Tätigkeit des Klägers zurückzuführen. Maßgeblich sei das Tonaudiogramm vom 8. September 2006, das eine beiderseits hochfrequenzbetonte Innenohrschwerhörigkeit zeige. In der Beurteilung folge das Gericht P2, der zu Recht in dem unterschiedlichen Hörkurvenverlauf beider Seiten keinen maßgeblichen Grund gegen die Anerkennung einer Lärmschwerhörigkeit habe sehen können. Die rechtmäßige Anerkennung könne nicht dadurch ausgeschlossen werden, dass nach P1 nach 2015 auch altersbedingte Gesichtspunkte hinzugetreten sein könnten.

 

Gegen das ihr am 10. Dezember 2020 zugestellte Urteil hat die Beklagte am Folgetag Berufung eingelegt. Sie bezieht sich insbesondere auf eine beratungsärztliche Stellungnahme von M. vom 5. März 2021. Danach hätten bereits 2006 mehr Gründe gegen eine Lärmschwerhörigkeit gesprochen als dafür. Sie hat näher ausgeführt, welche medizinischen Überlegungen gegen das Gutachten von Dr. P. sprächen.

 

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 23. Oktober 2020 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

 

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen,

weiterhin festzustellen, dass der Kläger Anspruch auf Hörgeräteversorgung wegen der anerkannten Berufskrankheit einer Lärmschwerhörigkeit hat.

Er schließt sich den gerichtlichen Gutachten an und sieht insbesondere das Gutachten von P2 nicht als widerlegt an.

 

Die Beigeladene stellt keinen Antrag.

 

Das Gericht hat die Beteiligten darauf hingewiesen, dass der angefochtene Bescheid nicht auf § 48 Abs. 3 SGB X zu stützen sein dürfte.

Die Beteiligten haben einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung im Erörterungstermin vom 10. August 2021 zugestimmt.

Dem Gericht haben die Akten der Beklagten – Az. 412006010385 – in der mündlichen Verhandlung und bei der Entscheidung vorgelegen.

 

Entscheidungsgründe:

 

Die gem. §§ 143, 144 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte Berufung hat keinen Erfolg. Hingegen hat auch die Klage in der Form der vorgenommenen Erweiterung Erfolg.

 

Die mit dem Feststellungsantrag vorgenommene Erweiterung des Klageantrags ist gem. § 99 Abs. 3 Nr. 2 SGG zulässig. Mit ihr macht der Kläger unter genauerer Fassung seines Klagebegehrens ausdrücklich das Versorgungsinteresse geltend, dass mittelbar von vornherein Gegenstand des Streits zwischen den Beteiligten war.

 

Dieser Feststellungsantrag auf einen dem Grunde nach bestehenden Anspruch auf Versorgung mit einem Hörgerät gegen die Beklagte stellt gem. § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG auch einen der Art nach statthaften Antrag dar. Insbesondere besteht das gem. § 55 Abs. 1 SGG erforderliche Feststellungsinteresse. Denn mit der Ablehnung jeglicher weiterer Leistungen in dem angefochtenen Bescheid hat die Beklagte auch – beispielhaft ausdrücklich benannt – die Hörgeräteversorgung ausgeschlossen. Zwar kann die Beklagte diese nach der Aufhebung des Bescheides und der dafür tragenden Begründung nicht mehr wegen Fehlens einer Lärmschwerhörigkeit ablehnen; an der Aussage, die Lärmschwerhörigkeit sei gegenüber nicht lärmbedingter Hörschädigung nicht wesentlich, ist sie aber dadurch rechtlich nicht gehindert. Eine entsprechende neue Bescheidung muss der Kläger anlässlich eines auftretenden Versorgungsbedarfs bezüglich eines Hörgeräts hier nicht abwarten, weil die Beklagte diesen Gedanken mit ihren Ausführungen im angefochtenen Bescheid bereits zum Ausdruck gebracht hat. Sie hat nämlich dort eine erhebliche Verschlechterung des Hörvermögens außerhalb einer Erklärung in einer Lärmschwerhörigkeit dargelegt. Diese Überlegungen hat die Beklagte im Widerspruchsbescheid vom 16. August 2018 dahin zusammengefasst, der nun bestehende Hörverlust sei „nicht mehr“ auf die berufliche Lärmeinwirkung zurück zu führen. Denn einer entsprechenden Einschätzung  L.s in seinem Gutachten hat sie sich ausdrücklich als zutreffend angeschlossen.

 

Insofern hat der Kläger Interesse an einer Abgrenzung der Schuldnerschaft für seine Hörgeräteversorgung anhand des aufrecht erhaltenen Bescheides vom 13. Dezember 2007 oder einer medizinischen Gewichtung, die allein mit dem Begehren auf Aufhebung des Bescheides vom 25. Januar 2018 nicht verfolgt werden kann. Hier besteht auch kein Vorrang einer Leistungsklage, weil der Kläger damit lediglich die Versorgung mit Batterien für die Hörgeräte geltend machen könnte, im laufenden Verfahren aber keinen gegenwärtigen Bedarf auf Versorgung mit einem neuen Hörgerät geltend gemacht hat. Gleichwohl ist es im Hinblick auf die seit der letzten Versorgung bereits verstrichene Zeit rechtlich klärungsbedürftig, an welchen Leistungsträger mit welchem Leistungsumfang sich der Kläger ggf. wenden kann.

 

Die Klage ist insgesamt begründet.

 

Der Bescheid der Beklagten vom 25. Januar 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. August 2018 beschwert den Kläger im Sinne von § 157 S. 1, § 54 Abs. 2 S. 1 SGG, weil er rechtswidrig ist.

 

Es fehlt an einer Rechtsgrundlage für die ausgesprochene Verweigerung zukünftiger Leistungen ebenso wie für die verbleibende Feststellung der Rechtswidrigkeit der Anerkennung der Lärmschwerhörigkeit.

 

Die im angefochtenen Bescheid ausgesprochene, nicht näher bestimmte Ablehnung zukünftiger Leistungen einschließlich der ausdrücklich benannten Hörgeräteversorgung ist nicht Rechtsfolge der allein in Frage kommenden Ermächtigung in § 48 Abs. 3 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X – i. d. F. d. G. v. 18.1.01). Regelungsgegenstand des § 48 SGB X ist ausweislich seiner Überschrift eine Änderung der Verhältnisse, die Grundlage einer Aufhebung eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung sein könnte. Darum geht es bei einer beliebigen Ablehnung jeglicher weiterer Leistungen ebenso wenig wie bei der Versorgung mit einem Hörgerät in der Nachfolge einer früheren Versorgung. Denn beide knüpfen nicht daran an, dass zwischen dem Erlass des Bescheides vom 13. Dezember 2007 und dem Bescheid vom 25. Januar 2018 irgendeine leistungserhöhende Änderung gegenüber der anspruchsbegründenden Sachlage des früheren Bescheides eingetreten ist. Dies lässt sich für die mit dem früheren Bescheid anerkannte Lärmschwerhörigkeit nicht feststellen, wird auch von keinem Beteiligten behauptet, und eine solche Änderung ist auch nicht Teil der Begründung des angefochtenen Bescheides. Insbesondere stellt es keine Änderung einer Lärmschwerhörigkeit dar, wenn ggf. die Schwerhörigkeit insgesamt durch nicht lärmbedingte Umstände zugenommen hat.

 

Die im angefochtenen Bescheid ausgesprochene Rechtsfolge ordnet § 48 Abs. 3 S. 1 SGB X in unmittelbarer Anwendung mit dem Abstellen auf einen Betrag nicht an. Vielmehr schließt die Vorschrift die Erhöhung von Geldleistungen über deren zuvor bestandskräftig festgestellte Höhe hinaus aus. Zu dem Anspruch des Klägers auf irgendwelche Naturalleistungen und insbesondere denjenigen auf Versorgung mit einem Hörgerät trifft die angeordnete Rechtsfolge der Vorschrift hingegen keine Aussage.

 

Die dazu in Widerspruch stehende Vorgehensweise der Beklagten findet auch keine Stütze in der dazu von ihr angegebenen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts. Beziehen sich die von ihr angegebenen früheren Entscheidungen (Urt. v. 31.1.1989 – 2 RU 16/88; Urt. v. 18.3.1997 – 2 RU 19/96, beide zitiert nach juris) schon nur auf die Veränderung laufender Geldleistungen, erfasst die spätere Entscheidung (Urt. v. 20.3.2007 – B 2 U 38/05 R, zitiert nach juris) nicht die Rechtsfolge einer schon ohne Berücksichtigung einer Verschlimmerung erforderlichen Naturalleistung. Denn das Gericht stützt (a.a.O., Rn. 20) den Ausschluss des Heilbehandlungsanspruchs tragend auf die insoweit nur vorliegende Behandlungsbedürftigkeit des verschlimmerten Zustandes. So liegt der Fall aber hier bezüglich der Versorgung mit einem Hörgerät nicht, weil der Kläger seinen Anspruch allein auf den schon bei Erlass des Grundanerkennungsbescheides bestehenden Zustand stützen kann, der bereits damals zur Versorgung mit einem Hörgerät geführt hat. Bezüglich der pauschal und unbestimmt ausgesprochenen allgemeinen Ablehnung von Leistungen gilt dies ebenso, weil eine Unterscheidung von Leistungen, die sich nur aus einer Verschlimmerung ergeben würden, und anderen mangels tatsächlicher Anknüpfungspunkte der Ablehnung nicht vorgenommen werden kann.

 

Auch bei der Anwendung des § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X auftretende Überschneidungen zwischen Änderung und anfänglicher Fehlerhaftigkeit (vgl. dazu BSG, Urt. v. 8.12.2021 – B 2 U 10/20 R, zitiert nach juris) bieten keine Grundlage für das Vorgehen der Beklagten im vorliegenden Fall. Denn sie setzen jedenfalls eine Änderung in den Verhältnissen gegenüber dem vorausgehenden Verwaltungsakt voraus, der ggf. lediglich die Wesentlichkeit abzusprechen ist (a.a.O., Rn. 13, 15 ff.). Dies ist hier nicht der Fall, weil eine Änderung der bei Erlass des Bescheides vom 13. Dezember 2007 als lärmbedingt eingeschätzten Schwerhörigkeit nicht festgestellt werden kann. Sie würde sich bei einer Verschlechterung der Schwerhörigkeit ohne genaue Klärung einer lärmunabhängigen Ursache dennoch nicht einmal daraus ergeben, dass damals die gesamte Schwerhörigkeit als lärmbedingt anerkannt worden ist. Denn eine unterstellte weitere Verschlechterung wäre nach allgemeinen medizinischen Grundsätzen typischerweise als unbeachtlicher Nachschaden einzuordnen, wie dies durch die „Königsteiner Empfehlung“ in der Fassung von 2012, Abschnitt 2.4, vorgegeben wird. Denn danach gilt dies für eine Hörverschlechterung, die sich zeitlich nach Aufgabe der Gehör schädigenden Tätigkeit einstellt, wie dies beim Kläger nur in Betracht kommt.

 

Eine noch weitere Ausdehnung der Aufhebungsmöglichkeiten durch entsprechende Anwendung des § 48 Abs. 3 SGB X im Sinne der Entscheidung der Beklagten kommt nicht in Betracht, weil es sich der Sache nach um eine Umgehung des § 45 Abs. 1 - 4 SGB X handelt. Denn der Ausschluss aller Leistungen für die Zukunft ist die alleinige Rechtsfolge der Aufhebung eines begünstigenden Verwaltungsaktes für die Zukunft, die nur in § 45 SGB X geregelt ist. Das in dieser Vorschrift geregelte Vertrauensschutzsystem gegen eine Aufhebung eines Verwaltungsaktes – hier die Feststellung des Versicherungsfalles – schließt die Ausdehnung von Rechtsfolgen des § 48 Abs. 3 SGB X aus, die der Herbeiführung des gleichen Zieles dient. Dies gilt umso mehr, als die formal erhaltene Rechtsposition – Anerkennung des Versicherungsfalles – einerseits für den Betroffenen eine entleerte Rechtsposition ist, aus der keinerlei Leistungsansprüche mehr abzuleiten sind. Andererseits ist aber die Feststellung als Ausgangsposition für die gleichen Folgen formal sogar geringer, als die Voraussetzung in § 45 SGB X, der die Aufhebung der Feststellung erfordert.

 

Der angefochtene Bescheid ist auch nicht insoweit aufrechtzuerhalten, als er die Feststellung der Rechtswidrigkeit des Erstanerkennungsbescheides enthält. Insoweit fehlt es an der Aussicht einer künftigen Änderung im Sinne von § 48 Abs. 1, 2 SGB X. Diese macht nämlich § 48 Abs. 3 SGB X zumindest zur Voraussetzung jeden Verwaltungshandelns angesichts erkannter Rechtswidrigkeit unaufhebbarer begünstigender Verwaltungsakte. Ein Verzicht auf diese Voraussetzung folgt aus der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur Möglichkeit einer isolierten Feststellung der Rechtswidrigkeit eines bestandskräftigen Verwaltungsaktes nicht. Denn die dazu getroffenen Entscheidungen beziehen sich auf Leistungsfälle, in denen der Eintritt einer grundsätzlich begünstigenden Änderung – etwa durch die Leistung anpassungsfähiger Renten – erwartbar, jedenfalls aber nicht auszuschließen ist (z. B. BSG, Urt. v. 15.8.1996 – 9 RV 22/95 – juris, Rn. 24, Urt. v. 4.2.1998 – B 9 V 24/96 – juris, Rn. 24, Urt. v. 17.4.2013 – B 9 SB 6/12 R – juris, Rn. 40). Ein solcher Fall liegt hier nach der insoweit zutreffenden Einschätzung der Beklagten nicht vor. Mit der tragenden Begründung des angefochtenen Bescheides hat sie sich nämlich gerade auf die wissenschaftliche Erkenntnis gestützt, dass eine Hörstörung durch Lärm nicht weiter fortschreitet, wenn die Lärmexposition wegfällt. Die nach ihrer Meinung vom Kläger behauptete und messbare Veränderung danach wertet sie als Argument für eine nicht beruflich verursachte Schwerhörigkeit. Dieses Argument greift der Widerspruchsausschuss ausdrücklich auf. Damit bringt die Beklagte hinreichend zum Ausdruck, dass eine Änderung, für deren sozialrechtliche Abgeltung es auf die festgestellte Rechtswidrigkeit ankommen könnte, nach ihrer Auffassung überhaupt nicht eintreten kann. Damit befindet sie sich auch in Einklang mit der von beiden Beteiligten als maßgeblich herangezogenen „Königsteiner Empfehlung“, wie oben bereits dargestellt.

 

Es ist auch festzustellen, dass der Kläger dem Grunde nach gegen die Beklagte Anspruch auf Versorgung mit Hörgeräten hat. Der Anspruch auf Versorgung mit einem Hörgerät als Hilfsmittel zur Milderung der Folgen von Gesundheitsschäden im Sinne von § 31 Abs. 1 S. 1 des Siebten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VII – Fassung d. G. v. 19.6.2001, BGBl. I S. 1046) richtet sich als Teil der Heilbehandlung im Sinne des Zweiten Unterabschnitts des Dritten Kapitels, Erster Abschnitt SGB VII nach § 26 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Nr. 1 SGB VII. Der danach gegebene Anspruch setzt voraus, dass damit der durch den Versicherungsfall verursachte Gesundheitsschaden – hier – in seinen Folgen gemildert werden kann. Dies ist für die mit Bescheid vom 13. Dezember 2007 bindend anerkannte beginnende Lärmschwerhörigkeit beiderseits durch die Verwendung eines Hörgeräts der Fall. Das ergibt sich aus den Messungen des Hörgewinns anlässlich der Erstanpassung eines Hörgeräts durch die Z GmbH am 22. September 2006. Sowohl die Anerkennung als auch die Messungen beziehen sich auch auf die gesamte damals nachgewiesene messbare Schwerhörigkeit, ohne dass davon berufsunabhängige Anteile abgegrenzt worden sind.

 

Eine etwaige Verschlechterung der Hörleistung des Klägers, wie sie die Beklagte nach ihren Bescheiden als nachgewiesen ansieht, führt nicht zum Wegfall des Anspruchs auf die Versorgung mit einem Hörgerät durch die Beklagte. Denn es dient weiterhin der Milderung der Folgen des durch den Versicherungsfall der Lärmschwerhörigkeit verursachten Gesundheitsschadens. Die Lärmschwerhörigkeit ist wesentlich für den Bedarf nach Milderung der Folgen, die in Form verminderter Wahrnehmung von Lauten vorliegen. Die Feststellung der Ursachen des Gesundheitsschadens und seiner Folgen unterliegt auch bei Berufskrankheiten der Prüfung der Wesentlichkeit (vgl. BSG, Urt. v. 29.11.2011 – B 2 U 26/10 R – juris, Rn. 31 f.). Danach bleibt die Lärmschwerhörigkeit im anerkannten Ausmaß wesentliche Ursache für den Versorgungsbedarf nach Hörgeräten, weil sie nach den schon dargelegten Umständen allein bereits eine hinreichende Ursache dafür darstellt. Dies lässt den Umkehrschluss zu, dass einer vom Versicherungsfall unabhängigen Änderung keine überragende Bedeutung für eine Hörgeräteversorgung zukommen kann. Es ist für die Wesentlichkeit nicht mehr von Bedeutung, ob im Rahmen einer außerberuflichen Verschlechterung des Hörvermögens auch der darauf entfallende Anteil die Notwendigkeit einer solchen Versorgung begründet. Bei der wertenden Entscheidung, ob die Lärmschwerhörigkeit für den Versorgungsbedarf wesentlich ist, kommt es nämlich nicht darauf an, ob ihre Bedeutung mindestens gleichwertig gegenüber anderen Ursachen ist (vgl. BSG, a.a.O., Rn. 32, 34). Insofern kann der Umfang einer ggf. eingetretenen Verschlechterung hier offen bleiben. Denn der darin ggf. liegende Nachschaden führt als solcher jedenfalls nicht zum Wegfall bereits entstandener Entschädigungsansprüche (vgl. Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand: 4. Lieferung 2021, § 48 SGB X Anm. 5.10 für Dauerleistungen).

 

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG nach dem Unterliegen der Beklagten.

 

Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nach § 144 Abs. 2 Nr. 1, 2 SGG nicht, weil die Entscheidung auf der Grundlage der zur Klärung von Rechtsfragen bereits vorliegenden Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ergeht.

Rechtskraft
Aus
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