S 6 R 181/19

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Frankfurt (HES)
Sachgebiet
Rentenversicherung
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 6 R 181/19
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 2 R 9/22
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 5 R 130/22 AR
Datum
Kategorie
Gerichtsbescheid


Die Klage wird abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.


Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.

Der 1975 geborene Kläger ist von Beruf Flugzeugabfertiger und war in diesem Beruf bis zum 31. März 2002 tätig. Die Tätigkeit endete durch einen gerichtlichen Vergleich vor dem Arbeitsgericht Frankfurt am Main. Von 2004 bis 2012 befand sich der Kläger in Haft in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Butzbach. Er verfügt über einen Grad der Behinderung (GdB) von 70. 

Der Versicherungsverlauf des Klägers weist bis zum Jahr 2004 Zeiten mit Pflichtbeiträgen aus und dann erst wieder in den Jahren 2011/12. In den Jahren 2013 bis 2015 enthält der Versicherungsverlauf des Klägers Versicherungszeiten in der Türkei, die nach zwischenstaatlichem Abkommen vom 30. April 1964 berücksichtigt werden. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Versicherungsverlauf des Klägers (Bl. 112 der Verwaltungsakte) Bezug genommen.

Am 20. März 2018 stellte er einen Antrag auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Zur Begründung gab er an, er sei im Jahr 1994 durch einen Schuss verletzt worden und habe seitdem Schmerzen und keine Kraft mehr.

Mit Bescheid vom 21. Januar 2019 lehnte die Beklagte den Antrag auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung ab. Zur Begründung gab sie an, dass der Kläger die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfülle. Bei einem möglichen Versicherungsfall bei Antragstellung sei der maßgebliche Zeitraum vom 1. Oktober 2012 bis zum 19. März 2018 festzulegen. Das Versicherungskonto des Klägers verfüge im genannten Zeitraum jedoch nur über 25 Monate mit Pflichtbeiträgen.

Der Kläger legte hiergegen am 28. Januar 2019 Widerspruch ein. Er begründete seinen Widerspruch damit, dass er seit einer Schussverletzung im Jahr 1994 arbeitsunfähig sei, wobei ein Arbeitsunfall vorliege. Er habe bereits im Jahr 1995 eine Rente wegen Erwerbsminderung beantragt, die aber an seine Eltern ausgezahlt worden sei. Er sei wegen Krankheit im Jahr 2002 von seinem Arbeitgeber entlassen worden. Während seiner Haft in der JVA Butzbach habe man Splitter in seinem Körper festgestellt. Der Kläger legte einen ärztlichen Bericht der Radiologie H. vom 4. Februar 2019 vor. Danach finde sich kein Nachweis von Infiltraten oder tumorösen Raumforderungen. Es läge kein Anhalt für metalldichte Fremdkörper vor.
Mit Widerspruchsbescheid vom 11. April 2019 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen seien letztmalig erfüllt, wenn die Erwerbsminderung im Jahr 2007 eingetreten sei. Die Ausübung der Beschäftigung in Vollzeit bis März 2002 stehe der Annahme einer Erwerbsminderung in dieser Zeit entgegen. Unterlagen, die den Eintritt einer Erwerbsminderung im Jahr 2007 oder früher belegten, lägen nicht vor.

Hiergegen hat der Kläger am 15. April 2019 Klage zum Sozialgericht Frankfurt am Main erhoben.

Er begründet seine Klage wie im Widerspruchsverfahren und trägt vor, er sei auf einem Betriebsausflug in Spanien im Jahr 1994 angeschossen worden. Ihm habe bereits seit dem Jahr 2002 eine Rente wegen Erwerbsminderung zugestanden. 

Der Kläger beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 21. Januar 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11. April 2019 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger eine Erwerbsminderungsrente nach den gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie verweist zur Begründung auf die angefochtenen Bescheide. Ergänzend trägt sie vor, dass die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nur dann erfüllt seien, wenn die Erwerbsminderung bis spätestens 31. Januar 2007 eingetreten sei. Dann umfasse der maßgebliche 5-Jahres-Zeitraum die Zeit vom 31. Januar 2002 bis 30. Januar 2007. In dieser Zeit weise der Versicherungsverlauf des Klägers in der Zeit vom 31. Januar 2002 bis zum 31. Dezember 2004 die erforderlichen 36 Monate mit Pflichtbeiträgen auf. Bei Eintritt der Erwerbsminderung am 2. Dezember 2015 würden auch unter Berücksichtigung der Beiträge, die der Kläger in den Jahren 2011 bis 2015 in die türkische Rentenversicherung gezahlt habe, nur 35 Monate mit Pflichtbeiträgen erreicht.

Der Kläger hat ärztliche Berichte der Lungenärztlichen Gemeinschaftspraxis, Frau Dr. med. E., vom 27. Februar 2019 und der Radiologie H., Herr Dr. med. S., vom 11. November 2019 vorgelegt. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Befundberichte (Bl. 47f. und 63 d. A.) ausdrücklich Bezug genommen.

Am 7. Januar 2021 ist ein Erörterungstermin durchgeführt worden. Im Rahmen des Erörterungstermins sind die Beteiligten zur Entscheidung durch Gerichtsbescheid nach § 105 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) angehört worden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte des Klägers bei der Beklagten, die Gegenstand der Entscheidung war, Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Das Gericht kann ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist, der Sachverhalt geklärt ist und die Beteiligten zuvor gehört worden sind (§ 105 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGG).

Die zulässige Klage ist nicht begründet. 

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente. Er wird durch den angefochtenen Bescheid vom 21. Januar 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11. April 2019 nicht in seinen Rechten verletzt. 

Gemäß § 43 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser bzw. voller Erwerbsminderung, wenn sie

1.    teilweise bzw. voll erwerbsgemindert sind,
2.    in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und
3.    vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.

Teilweise erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Voll erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI demgegenüber Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 2 Satz 3 SGB VI auch

1.    Versicherte nach § 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können, und
2.    Versicherte, die bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit voll erwerbsgemindert waren, in der Zeit einer nicht erfolgreichen Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt.

Erwerbsgemindert ist der Vorschrift des § 43 Abs. 3 SGB VI zufolge nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

Bei Annahme eines Leistungsfalles zum Zeitpunkt der Antragstellung am 20. März 2018 lagen die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen gemäß § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 bzw. Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB VI nicht vor. Danach muss der Versicherungsverlauf des Klägers in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung mindestens drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben. Der Zeitraum von fünf Jahren war daher zunächst vom 20. März 2013 bis zum 19. März 2018 festzulegen. In diesem Zeitraum weist der Versicherungsverlauf des Klägers nur 20 Monate mit Pflichtbeiträgen auf. Dieser Zeitraum war gemäß § 43 Abs. 4 Nr. 1 Alt. 1 SGB VI zu verlängern da Anrechnungszeiten vorliegen. Nach § 58 Abs. 1 S. 1 Nr. 6 SGB VI sind Anrechnungszeiten Zeiten, in denen Versicherte nach dem 31. Dezember 2010 Arbeitslosengeld II bezogen haben. Gemäß § 58 Abs. 1 S. 1 Nr. 6 SGB VI sind dem Kläger die Zeiten des Bezugs von Arbeitslosengeld II für den Zeitraum 1. Juni 2013 bis 31. Oktober 2013 anzurechnen. In diesem Zeitraum ergibt sich insgesamt eine anrechenbare Zeit von fünf Monaten, sodass sich der maßgebliche Zeitraum von fünf Jahren bis zum 1. Oktober 2012 verlängert. In diesem Zeitraum weist der Versicherungsverlauf des Klägers weitere fünf Monate auf, sodass sich die Zahl von 25 Monaten mit Pflichtbeiträgen ergibt.
Der Kläger war zum Zeitpunkt, zu dem letztmalig die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen gemäß § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 bzw. Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB vorlagen, weder teilweise noch voll erwerbsgemindert. Die erforderlichen 36 Monate mit Pflichtbeiträgen weist der Versicherungsverlauf des Klägers zuletzt im Zeitraum 31. Januar 2002 bis 31. Januar 2007 auf. Der Eintritt des Leistungsfalls bis spätestens 31. Januar 2007 ist jedoch nicht hinreichend belegt. Der Nachweis für die den Anspruch begründenden Tatsachen muss im Wege des Vollbeweises erfolgen. Dies erfordert, dass die Tatsachen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorliegen (vgl. BSG, Urteil vom 14. Dezember 2006, B 4 R 29/06 R, juris). Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bedeutet, dass bei vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens der volle Beweis für das Vorliegen der genannten Tatsachen als erbracht angesehen werden kann. Es darf kein vernünftiger, in den Umständen des Einzelfalles begründeter Zweifel mehr bestehen (Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 9. Mai 2011, L 6 R 145/09, juris). Können die genannten Tatsachen trotz Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten nicht im erforderlichen Vollbeweis nachgewiesen werden, so geht dies nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast zulasten des Beteiligten, der aus diesem Sachverhalt Rechte herleiten möchte. Für das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen der Erwerbsminderung trägt insoweit der Versicherte die Darlegungs- sowie die objektive Beweislast (Bayerisches Landessozialgericht, aaO). Nach dem Vorstehenden finden sich in den ärztlichen Berichten keine Hinweise auf das Vorliegen einer Erwerbsminderung. So hat Frau Dr. med. E. bei ihrer ärztlichen Untersuchung festgestellt, dass weder im MRT noch bei multiplen Voraufnahmen einschließlich CT-Untersuchungen ein pathologischer Befund finden lasse. Metalldichte Rückstände nach einer Schussverletzung stellten sich nicht da. Herr Dr. med. S. konnte im Rahmen einer Röntgendiagnostik ebenfalls keinen Hinweis auf Folgen einer Schussverletzung feststellen und bescheinigte einen altersentsprechenden Lungen- und Herzbefund. Danach lassen sich die Aussagen des Klägers, er leide unter den Folgen einer im Jahr 1994 erlittenen Schusswunde, nicht belegen. Anhaltspunkte hierfür liegen nicht vor, sodass kein Anlass für weitere diesbezügliche Ermittlungen bestand. 

Der Kläger hat die allgemeine Wartezeit nicht vorzeitig erfüllt, sodass eine Pflichtbeitragszeit nach § 43 Abs. 5 SGB VI nicht mehr erforderlich wäre. Gemäß § 43 Abs. 5 SGB VI ist die Pflichtbeitragszeit von drei Jahren für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit nicht erforderlich, wenn die Erwerbsminderung aufgrund eines Tatbestandes eingetreten ist, durch den die allgemeine Wartezeit vorzeitig erfüllt ist. Die allgemeine Wartezeit beträgt gemäß § 50 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB VI für eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit fünf Jahre. Eine vorzeitige Wartezeiterfüllung nach § 53 SGB VI liegt nicht vor. Die allgemeine Wartezeit ist nach § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Alt. 1 SGB VI vorzeitig erfüllt, wenn Versicherte wegen eines Arbeitsunfalls vermindert erwerbsfähig geworden sind. Der Kläger hat vorgetragen, die Schussverletzung sei im Jahr 1994 im Rahmen eines Betriebsausfluges geschehen, sodass es sich um einen Arbeitsunfall handele. Da jedoch bereits die Schussverletzung nicht nachgewiesen ist, scheidet auch die Annahme eines Arbeitsunfalls als Ursache einer möglichen Erwerbsminderung aus.

Ein Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit besteht ebenfalls nicht. Der Kläger gehört auf Grund seines Geburtsjahrganges 1975 nicht zu dem von § 240 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI grundsätzlich erfassten Personenkreis. Anspruchsberechtigt hierfür sind nur noch Versicherte, die vor dem 2. Januar 1961 geboren sind.

Das Vorliegen der notwendigen Anzahl von Pflichtbeiträgen entfällt auch nicht nach § 241 Abs. 2 SGB VI, da der Kläger bereits die allgemeine Wartezeit vor dem 1. Januar 1984 nicht erfüllt hat. 

Der nach dem Schwerbehindertenrecht festgestellte Grad der Behinderung (GdB) hat keinen Einfluss auf die Anspruchsvoraussetzungen für eine Rente wegen Erwerbsminderung. Die Einschätzung des GdB ist ein Maß für die Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft. Demgegenüber ist die Frage der Erwerbsminderung ausschließlich unter Zugrundelegung der in § 43 SGB VI gesetzten Leistungsgrenzen zu beurteilen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 105 Abs. 1 S. 3 i.V.m. § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens.
 

Rechtskraft
Aus
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