L 7 R 2211/20

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
7.
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 8 R 245/19
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 7 R 2211/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 26. Juni 2020 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.



Tatbestand

Zwischen den Beteiligten steht im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) ein Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben im Streit.

Der 1958 geborene Kläger hat nach eigenen Angaben in der Zeit von 1979 bis 1985 ein Studium der Erziehungswissenschaften/Pädagogik absolviert, arbeitet jedoch bereits seit 1985 im EDV-Bereich und war von 1987 bis 2001 als System Engineer bzw. DV-Organisator abhängig beschäftigt. Seit 2002 ist er als Systemadministrator selbständig tätig.

Nachdem die Bundesagentur für Arbeit einen Antrag nach §§ 81 ff. Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) auf Förderung der beruflichen Weiterbildung mit Bescheid vom 30. November 2016 abgelehnt hatte, beantragte der Kläger am 30. Januar 2017 bei der Beklagten Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. Mit Bescheid vom 8. Mai 2017 lehnte die Beklagte den Antrag ab und führte zur Begründung an, die Erwerbsfähigkeit des Klägers sei nicht erheblich gefährdet oder gemindert, weil der Kläger in der Lage sei, eine Beschäftigung als freiberuflicher Systemadministrator auszuüben. Den hiergegen erhobenen Widerspruch, zu dessen Begründung der Kläger vortrug, dass ihm Fortbildungen mangels finanzieller Ressourcen nicht möglich gewesen seien und die letzte Festanstellung bei der Stadt Schriesheim wegen mangelnder Kenntnisse zum 31. Oktober 2016 geendet habe, lehnte die Beklagte nach Einholung einer sozialmedizinischen Stellungnahme und unter Berücksichtigung des Befundberichtes des Arztes für Neurologie und Psychiatrie S. vom 16. August 2017 mit Widerspruchsbescheid vom 5. Januar 2018 ab. Im Rahmen der dagegen zum Sozialgericht Mannheim (SG) am 15. Februar 2018 erhobenen Klage (S 2 R 454/18) stellte der Kläger im Zusammenhang mit einer verfristeten Klageerhebung am 9. April 2018 einen Antrag nach § 44 SGB X und nahm die Klage in der Folge zurück.

Die Beklagte erhob sodann das Gutachten der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. L.-E. vom 27. Juni 2018, welche bei dem Kläger einen Diabetes mellitus und eine Insomnie diagnostizierte und zu dem Schluss kam, dass eine erhebliche Minderung oder Gefährdung der Erwerbsfähigkeit nicht vorläge. Entsprechend der sozialmedizinischen Stellungnahme der Beratungsärztin D. lehnte die Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 24. August 2018 ab.

Den hiergegen am 18. September 2018 erhobenen Widerspruch wies die Beklagte nach Einholung einer weiteren sozialmedizinischen Stellungnahme der beratenden Ärztin S. mit Widerspruchsbescheid vom 27. Dezember 2018 zurück.

Am 23. Januar 2019 hat der Kläger hiergegen Klage bei dem SG erhoben und zur Begründung im Wesentlichen vorgetragen, die Beklagte habe seine Leiden nicht ausreichend gewürdigt. Die Gutachterin im Verwaltungsverfahren sei fälschlich davon ausgegangen, dass das vorangegangene Klageverfahren in der Sache ablehnend entschieden worden sei, eine Entscheidung in der Sache sei jedoch nicht ergangen. Die Gutachterin habe damit eine nicht existente gerichtliche Meinung zur Entscheidungsfindung herangezogen. Der Kläger sei seit Jahren gesundheitlich angeschlagen und aus der Materie seiner Tätigkeit heraus. Seine Kenntnisse seien nicht mehr ausreichend, um auf dem Arbeitsmarkt zu bestehen, ferner stehe auch der Gesundheitszustand einem normalen Arbeitsverhältnis entgegen.

Mit Bescheid vom 6. März 2019 hat die Bundesagentur für Arbeit die Übernahme der Kosten einer beruflichen Weiterbildung mittels Bildungsgutschein bewilligt. Der Kläger hat daraufhin in der Zeit vom 5. April 2019 bis 10. Juli 2019 an der Weiterbildung „Modulare Qualifizierung Netzwerk- und Datenbankadministration“ teilgenommen.  

Das SG hat Beweis erhoben durch schriftliche Befragung der behandelnden Ärzte des Klägers als sachverständige Zeugen. Hinsichtlich der Auskunft des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. M.-M. vom 17. Juli 2019 wird auf Bl. 31/40 d. SG-Akte, hinsichtlich der Auskunft des Arztes für Neurologie und Psychiatrie S. vom 23. Juli 2019 auf Bl. 41 d. SG-Akte Bezug genommen.

Mit Gerichtsbescheid vom 26. Juni 2020 hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass bei Erlass des Bescheides vom 8. Mai 2017 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 5. Januar 2018 die Erwerbsfähigkeit des Klägers weder erheblich gefährdet noch im Übrigen dergestalt gemindert gewesen sei, dass durch eine Leistung zur Teilhabe mit einer wesentlichen Besserung oder Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit oder Abwendung deren wesentlicher Verschlechterung zu rechnen gewesen wäre.

Gegen den seinen Prozessbevollmächtigten am 2. Juli 2020 zugestellten Gerichtsbescheid wendet sich der Kläger mit seiner am 15. Juli 2020 bei dem Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegten Berufung. Zur Begründung trägt er vor, das SG habe seinen gesundheitlichen Zustand nicht ausreichend gewürdigt. Er sei seit Jahren gesundheitlich beeinträchtigt und habe in der Zeit von Oktober 2016 bis Mai 2018 Krankengeld bezogen. Das vorangegangene Beschäftigungsverhältnis habe daher auch aus gesundheitlichen Gründen geendet. Die gesundheitlichen Beeinträchtigungen, insbesondere die schnelle Ermüdung sowie die Konzentrationsschwierigkeiten, führten dazu, dass er ohne die beantragte Maßnahme zur Teilhabe keinen Beruf erlangen könne. Zudem seien seine Kenntnisse nicht mehr ausreichend, um auf dem Arbeitsmarkt zu bestehen. Er habe jahrelang versucht, über die Agentur für Arbeit Maßnahmen zu erlangen, dort habe man ihn auf die Beklagte verwiesen.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 26. Juni 2020 sowie den Bescheid der Beklagten vom 24. August 2018 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 27. Dezember 2018 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm unter Rücknahme des Bescheides vom 8. Mai 2017 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 5. Januar 2018 Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält den angegriffenen Gerichtsbescheid und die streitbefangenen Bescheide für zutreffend.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakten der Beklagten sowie die Verfahrensakten des SG (S 2 R 454/18 und S 8 R 245/19) und des Senats Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die Berufung des Klägers hat keinen Erfolg.

Die Berufung des Klägers ist zulässig. Sie ist gemäß § 151 Abs. 1 und 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) form- und fristgerecht eingelegt worden sowie statthaft (§ 143 SGG), weil die Berufungsausschlussgründe des § 144 Abs. 1 Satz 1 SGG nicht entgegenstehen. Die Berufung ist jedoch nicht begründet.

Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 24. August 2018 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 27. Dezember 2018 (vgl. § 95 SGG), mit dem die Beklagte die Korrektur des Bescheides vom 8. Mai 2017 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 5. Januar 2018 abgelehnt hat, welcher wiederum Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben abgelehnt hat. Sein Überprüfungsbegehren verfolgt der Kläger zulässigerweise im Wege der kombinierten Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage nach §§ 54 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 4, 56 SGG (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 28. Februar 2013 – B 8 SO 4/12 R – juris Rdnr. 9).

Die Berufung des Klägers hat keinen Erfolg. Der Bescheid vom 24. August 2018 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 27. Dezember 2018 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Bescheid vom 8. Mai 2017 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 5. Januar 2018 war im Zeitpunkt seines Erlasses nicht rechtswidrig, so dass eine Rücknahme nicht in Betracht kommt.


Die Beklagte war als erstangegangener Träger im Sinne des § 14 Abs. 1 Satz 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) zur Entscheidung über den Antrag des Klägers auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben berufen und bleibt daher auch für das Verfahren nach § 44 SGB X zuständig. Nach § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IX stellt der Rehabilitationsträger, sofern Leistungen zur Teilhabe beantragt werden, innerhalb von zwei Wochen nach Eingang des Antrags bei ihm fest, ob er nach dem für ihn geltenden Leistungsgesetz für die Leistung zuständig ist. Stellt er bei der Prüfung fest, dass er für die Leistung nicht zuständig ist, leitet er den Antrag unverzüglich dem nach seiner Auffassung zuständigen Rehabilitationsträger zu (§ 14 Abs. 1 Satz 2 SGB IX). Wird der Antrag nicht weitergeleitet, stellt der Rehabilitationsträger den Rehabilitationsbedarf unverzüglich fest (§ 14 Abs. 2 Satz 1 SGB IX). Nach § 14 Abs. 2 Satz 1 SG IX verliert der materiell-rechtlich (eigentlich) zuständige Rehabilitationsträger (§ 6 SGB IX) im Außenverhältnis zum Versicherten oder Leistungsempfänger seine Zuständigkeit für eine Teilhabeleistung, sobald der zuerst angegangene Rehabilitationsträger eine nach § 14 Abs. 1 SGB IX fristgerechte Zuständigkeitsklärung versäumt hat und demzufolge die Zuständigkeit nach allen in Betracht kommenden rehabilitationsrechtlichen Rechtsgrundlagen auf ihn übergegangen ist (BSG, Urteil vom 24. Januar 2013 – B 8 KR 5/12 R – juris Rdnr. 16). Sinn dieser Regelung ist es, zwischen den betroffenen behinderten Menschen und Rehabilitationsträgern schnell und dauerhaft die Zuständigkeit zu klären und so Nachteilen des gegliederten Systems entgegenzuwirken; diese Zuständigkeit ist ausschließlicher Natur (BSG, Urteil vom 24. Januar 2013 – B 3 KR 5/12 R – juris Rdnr. 16). Erstangegangener Rehabilitationsträger i.S. von § 14 SGB IX ist derjenige Träger, der von dem Versicherten bzw. Leistungsbezieher erstmals mit dem zu beurteilenden Antrag auf Bewilligung einer Leistung zur Teilhabe befasst worden ist. Diese Befassungswirkung fällt nach der Rechtsprechung des BSG grundsätzlich auch nach einer verbindlichen abschließenden Entscheidung des erstangegangenen Trägers nicht weg. Vielmehr behält der erstmals befasste Rehabilitationsträger seine Zuständigkeit nach § 14 Abs. 2 Satz 1 SGB IX im Außenverhältnis zum Antragsteller regelmäßig auch dann weiter bei, wenn er, ohne den Antrag an den aus seiner Sicht zuständigen Rehabilitationsträger weitergeleitet zu haben, das Verwaltungsverfahren durch Erlass eines Verwaltungsakts abschließt (vgl. § 8 SGB X), selbst wenn dieser bindend wird. Er bleibt deshalb auch für ein mögliches Verfahren nach § 44 SGB X zuständig (BSG, Urteil vom 24. Januar 2013 – B 3 KR 5/12 R – juris Rdnr. 17).

Verfahrensrechtliche Grundlage für das Überprüfungsbegehren des Klägers ist die Bestimmung des § 44 SGB X. Hiernach ist, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind, der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen (§ 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X). Ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden, werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht (§ 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X). Dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird; erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraumes, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag (§ 44 Abs. 4 Sätze 2 und 3SGB X).

Grundlage der Beurteilung ist die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Widerspruchsbescheides (da der ursprüngliche Bescheid durch diesen erst seine abschließende Gestalt gefunden hat), bewertet aus heutiger Sicht (vgl. BSG, Urteil vom 4. November 1998 – B 13 RJ 27/98 R – juris Rdnr. 15).

Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe liegen die Voraussetzungen für die Rücknahme des Bescheides vom 8. Mai 2017 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 5. Januar 2018 nicht vor. Die Ablehnung von Leistungen der Teilhabe am Arbeitsleben im Bescheides vom 8. Mai 2017 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 5. Januar 2018 war im Zeitpunkt des Erlasses nicht rechtwidrig.

Der Kläger erfüllte schon nicht die persönlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach dem SGB VI.


Gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 SGB VI erbringt die Rentenversicherung u.a. Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, um (1.) den Auswirkungen einer Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung auf die Erwerbsfähigkeit der Versicherten entgegenzuwirken oder sie zu überwinden und (2.) dadurch Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit der Versicherten oder ihr vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben zu verhindern oder sie möglichst dauerhaft in das Erwerbsleben wiedereinzugliedern. Die Leistungen können erbracht werden, wenn die persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen dafür erfüllt sind (§ 9 Abs. 2 SGB VI).

Nach § 10 Abs. 1 SGB VI haben Versicherte die persönlichen Voraussetzungen für Leistungen zur Teilhabe erfüllt, (1.) deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung erheblich gefährdet oder gemindert ist und (2.) bei denen voraussichtlich (a) bei erheblicher Gefährdung der Erwerbsfähigkeit eine Minderung der Erwerbsfähigkeit durch Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben abgewendet werden kann, (b) bei geminderter Erwerbsfähigkeit diese durch Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben wesentlich gebessert oder wiederhergestellt oder hierdurch deren wesentliche Verschlechterung abgewendet werden kann, (c) bei teilweiser Erwerbsminderung ohne Aussicht auf eine wesentliche Besserung der Erwerbsfähigkeit der Arbeitsplatz durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erhalten werden kann.

Leistungen zur Teilhabe setzen nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI voraus, dass die Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung erheblich gefährdet oder gemindert ist. Erwerbsfähigkeit im Sinne dieser Regelung ist die Fähigkeit des Versicherten, seinen bisherigen Beruf oder seine bisherige Tätigkeit weiter ausüben zu können (ausführlich hierzu BSG, Urteil vom 12. März 2019 – B 13 R 27/17 R – juris Rdnr. 17 ff. m. w. N.). Dagegen sind nicht die Kriterien anwendbar, die für die Erfüllung der Leistungsvoraussetzungen einer Rente wegen Erwerbsminderung maßgebend sind (BSG, Urteil vom 17. Oktober 2006 – B 5 RJ 15/05 R – juris Rdnr. 17 m. w. N.; BSG, Urteil vom 11. Mai 2011 – B 5 R 54/10 R – juris Rdnr. 46 m. w. N.). Entscheidend ist vielmehr, ob der Versicherte unabhängig von den Besonderheiten des gerade innegehabten Arbeitsplatzes den typischen Anforderungen des ausgeübten Berufs noch nachkommen kann (BSG, Urteil vom 20. Oktober 2009 – B 5 R 44/08 R – juris Rdnr. 29). Eine Minderung der Erwerbsfähigkeit ist zu bejahen, wenn die Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben nicht unwesentlich eingeschränkt ist und der Versicherte daher nicht mehr in der Lage ist, seinen Beruf „normal“ auszuüben (Kater in Kasseler Kommentar, SGB VI, 110. EL Juli 2020, § 10 Rdnr. 23). Der rentenrechtlich geforderte Grad der Erwerbsminderung braucht weder bereits vorzuliegen noch zu befürchten sein (Luthe in jurisPK-SGB VI, 2. Auflage 2013, Stand 4. Februar 2019, § 10 Rdnr. 42 m. w. N.).

Liegen die persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen vor, so bestimmt der Träger der Rentenversicherung nach § 13 Abs. 1 Satz 1 SGB VI im Einzelfall unter Beachtung der Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit Art, Dauer, Umfang, Beginn und Durchführung dieser Leistungen sowie die Rehabilitationseinrichtung nach pflichtgemäßem Ermessen. Dabei unterliegt die Entscheidung über die Voraussetzungen, das „ob“ der Leistung, der uneingeschränkten gerichtlichen Kontrolle, während das „wie“ der Leistung im pflichtgemäßen Ermessen der Beklagten steht (BSG, Urteil vom 12. März 2019 – B 13 R 27/17 R – juris Rdnr. 12). Dem Gericht ist es verwehrt, an die Stelle des vom Versicherungsträger auszuübenden Verwaltungsermessens sein eigenes Ermessen zu setzen (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 54 SGG, Rdnr. 28; Kater in Kasseler Kommentar, § 13 SGB VI, Rdnr. 8 ff.). Eine Ausnahme kann allenfalls dann bestehen, wenn eine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt, d. h. das Ermessen nur in einem bestimmten Sinne ausgeübt werden kann und jede andere Entscheidung fehlerhaft wäre (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 54 SGG, Rdnr. 29).

In Anwendung der dargestellten Maßstäbe ist Bezugsberuf für die Prüfung der Erwerbsfähigkeit eine Tätigkeit als IT-Systemadministrator, in dem der Kläger seit 1985 (zunächst auch versicherungspflichtig) tätig ist. Nichts anderes gilt nach Ablauf einer bestimmten Zeit, in der dieser Beruf nicht ausgeübt wurde. Insbesondere führt eine längere Zeit der Arbeitslosigkeit nicht dazu, dass kein Berufsbezug mehr gegeben ist und immer sämtliche Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes als „Bezugsberuf“ gelten. Für eine zeitliche Begrenzung, nach der nicht mehr auf einen zuvor ausgeübten Beruf oder eine zuvor ausgeübte Tätigkeit abgestellt werden kann, ist ein Anknüpfungspunkt im Gesetz nicht zu finden (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 10. März 2016 – L 2 R 712/15 – juris Rdnr. 20 mwN.).


Mit den Anforderungen der vorgenannten Tätigkeit ließ sich das gesundheitliche Leistungsvermögen des Klägers zum hier maßgeblichen Zeitpunkt (Erlass des Widerspruchsbescheides im Januar 2018) jedoch vereinbaren. Eine Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung ist im Hinblick auf den genannten Bezugsberuf nicht festzustellen.

Bei dem Kläger bestand eine Insomnia, eine depressive Erschöpfung, ein Diabetes mellitus Typ II und eine Frozen Shoulder rechts.

Bei der Untersuchung durch Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. L.-E. am 27. Juni 2018 war der Kläger zeitlich, örtlich und situativ uneingeschränkt orientiert, die Psychomotorik war spontan und aktiv. Im Kontaktverhalten zeigte sich der Kläger lebhaft, locker, mimisch moduliert, redegewandt, zugewandt, offen, mitteilungsbereit und den Blickkontakt haltend. Es zeigten sich keine manifesten formalen/inhaltlichen Denkstörungen und auch keine Denkverlangsamung. Auffassungs- und Konzentrationsvermögen waren altersentsprechend unauffällig. Es fanden sich keine mnestischen Funktionsdefizite in Bezug auf Kurz- und Langzeitgedächtnis und auch keine kognitiven Ermüdungszeichen im Explorationsverlauf. Der Affekt war situationsangepasst, gut gestimmt, gut schwingungs- und introspektionsfähig. Der Antrieb war spontan, eine erkennbare Antriebsminderung zeigte sich nicht.

Dem Verwaltungsgutachten, welches der Senat im Wege des Urkundenbeweises (§ 118 Abs. 1 SGG i. V. m. §§ 415 ff. Zivilprozessordnung [ZPO], vgl. BSG, Beschluss vom 30. März 2017 – B 2 U 181/16 B – juris Rdnr. 9 m.w.N.) verwertet, lässt sich damit kein psychischer Befund entnehmen, der einer Tätigkeit des Klägers als IT-Systemadministrator entgegenstehen könnte. Insbesondere zeigten sich weder Einschränkungen des Auffassungs- noch des Konzentrationsvermögens. Die kognitiven Fähigkeiten zeigten sich vielmehr ohne leistungsrelevante Einschränkungen. Auch ein sozialer Rückzug kann dem Gutachten nicht entnommen werden, nachdem der Kläger dort selbst als Hobbys Wandern, Natur und Freunde treffen angibt.

Einer Verwertung des Gutachtens steht – anders als der Kläger zu meinen scheint – auch nicht entgegen, dass die Gutachterin fälschlich davon ausgegangen ist, dass bereits das vorangegangene Klageverfahren in der Sache ablehnend entschieden worden sei, obgleich eine Entscheidung in der Sache dort nicht ergangen ist. Sachliche Mängel des Gutachtens in Bezug auf den maßgeblichen Befund, mithin hierauf bezogene inhaltliche Unzulänglichkeiten, Fehlerhaftigkeit, Unvollständigkeit, mangelnde Sachkunde oder nicht ausreichende Verwertung früher erhobener Befunde, hat der Kläger gerade nicht aufgezeigt, solche sind auch sonst nicht ersichtlich.

Die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit wird auch durch das sozialmedizinische Gutachten des Dr. R. (Medizinischer Dienst der Krankenversicherung Baden-Württemberg - MdK) vom 27. April 2017 gestützt, dem ebenfalls die ausdrückliche Feststellung entnommen werden kann, dass die Erwerbsfähigkeit des Klägers weder erheblich gefährdet noch gemindert gewesen ist. Bei der Untersuchung dort zeigte sich zwar eine Niedergeschlagenheit, gedrückte Stimmung sowie ein reduzierter Antrieb. Es fanden sich jedoch keine Denk- und Merkfähigkeitsstörungen. Die Kontaktfähigkeit war nach Überwindung initialer Barrieren gut möglich. Die Sprache war initial etwas stockend, dann aber leise und flüssig. Es zeigte sich eine ausreichende Schwingungsfähigkeit. Auch hieraus lassen sich keine leistungsrelevanten Einschränkungen entnehmen.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den sachverständigen Zeugenauskünften und Befundberichten der behandelnden Ärzte. Soweit der Arzt für Neurologie und Psychiatrie S. in seinem Befundbericht vom 6. Juli 2017 und 16. August 2017 angibt, dass „eine Leistung zur Wiedereingliederung des Patienten am Arbeitsleben äußerst sinnvoll und notwendig“ sei, lässt sich hierauf eine Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht stützen, nachdem er im Weiteren lediglich eine depressive Erschöpfung, Ein- und Durchschlafstörungen, einen reduzierten Antrieb, eine gestörte Auffassungsgabe und Konzentrationsfähigkeit anführt und seine ambulante Behandlung mit einer geringen Behandlungsfrequenz von vier Behandlungsterminen im Jahr 2017 bei einem Behandlungsbeginn am 17. Mai 2017 (sowie im Übrigen zwei Terminen im Jahr 2018) bereits nach Art und Intensität nicht seinem Postulat einer erforderlichen Wiedereingliederungsleistung entspricht und auch nicht für einen erheblichen Leidensdruck des Klägers spricht, worauf auch schon das SG zutreffend hingewiesen hat.

Soweit der Hausarzt E. mit ärztlichem Attest vom 15. März 2021 mitgeteilt hat, der Kläger leide unter einer psychovegetativen Erschöpfung, einer Anpassungsstörung mit emotionaler Krise, einer mitttelgradigen rezidivierenden Depression, einem insulinabhängigen Diabetes mellitus Typ 2 mit rezidivierenden Blutzuckerentgleisungen und einem Zustand nach Semnom ändert auch dies an der Beurteilung nichts. Ob nach dem Januar 2018 eine wesentliche Verschlechterung im Gesundheitszustand des Klägers eingetreten ist, ist für das vorliegende Verfahren unbeachtlich. Das Attest enthält zudem jedoch auch keine Befunde, auf die eine Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit gestützt werden könnte.

Dahingestellt bleiben kann, ob durch die Frozen Shoulder rechts eine Einschränkung hinsichtlich Arbeiten mit einer Tastatur bestehen. Denn diese begründen allenfalls einen Anspruch auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, die vom Kläger aber nicht begehrt werden.

Da die Zuständigkeit des erstangegangenen Rehabilitationsträgers nach § 14 Abs. 2 S. 1 SGB IX im Außenverhältnis zum Versicherten die Zuständigkeiten aller anderen Träger ausschließt (BSG, Urteil vom 24. Januar 2013 – B 3 KR 5/12 R – juris Rdnr. 16), ist im Verhältnis zwischen dem erstangegangenen Träger und dem Leistungsberechtigten der Anspruch anhand aller Rechtsgrundlagen zu prüfen, die überhaupt in der konkreten Bedarfssituation für Rehabilitationsträger vorgesehen sind. Der Kläger hatte jedoch zum maßgeblichen Zeitpunkt (Erlass des Widerspruchsbescheides im Januar 2018) auch keinen Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben nach §§ 112 Abs. 1, 115 Nr. 3 SGB III. Für behinderte Menschen können gemäß § 112 Abs. 1 SGB III Leistungen zur Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben erbracht werden, um ihre Erwerbsfähigkeit zu erhalten, zu verbessern, herzustellen oder wiederherzustellen und ihre Teilhabe am Arbeitsleben zu sichern, soweit Art oder Schwere der Behinderung dies erfordern. Unter Erwerbsfähigkeit ist auch hier die Fähigkeit zu verstehen, die bisherige berufliche Tätigkeit im normalen Umfang möglichst dauernd ausüben zu können (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 9. November 2016 – L 18 AL 19/16 – juris Rdnr. 21 m.w.N.). Die Gefährdung der Erwerbsfähigkeit muss erheblich, d.h. von gewissem Gewicht sein. Die Art oder Schwere der Behinderung muss daher zumindest eine wesentliche Mitursache (i.S.d. sozialrechtlichen Kausalitätslehre) für die Notwendigkeit der Leistung bilden, folglich muss zwischen der Behinderung und dem Erfordernis der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben ein ursächlicher Zusammenhang bestehen (Karmanski in Brand, SGB III, 9. Auflage 2021, § 112 Rdnr. 14 m.w.N.). Wie dargelegt, bedingen Art und Schwere der bei dem Kläger vorliegenden Funktionseinschränkungen keine Gefährdung der Erwerbsfähigkeit. Auf die obigen Ausführungen wird insoweit Bezug genommen.

Die Berufung hat somit keinen Erfolg.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nrn.1 und 2 SGG) liegen nicht vor.

Rechtskraft
Aus
Saved