L 5 KA 2708/20

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
5.
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 12 KA 6962/17
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 5 KA 2708/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 17.07.2020 wird zurückgewiesen.

Die Klägerin trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens, mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst tragen.

Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird endgültig auf
5.000,00 € festgesetzt.



Tatbestand

Im Streit steht die Festsetzung einer individuellen schriftlichen Beratung wegen Überschreitung des Richtgrößenvolumens für das Jahr 2014.

Die Klägerin ist eine Berufsausübungsgemeinschaft (BAG). Die Partner der BAG waren im streitgegenständlichen Zeitraum in B zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassene Fachärzte für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde.

Im Jahr 2014 hatte die Klägerin insgesamt 13.108 Behandlungsfälle (M/F 9.005, R 4.103) und verordnete Arznei- und Verbandmittel in Höhe von 354.460,83 € (brutto). Die zwischen den Landesverbänden der Krankenkassen (Beigeladene zu 2-7) und der Kassenärztlichen Vereinigung B1 (Beigeladene zu 1) für 2014 vereinbarten Richtgrößen lagen in der Richtgrößengruppe der HNO-Ärzte für M/F bei 12,34 € und für R bei 5,60 €.

Mit Schreiben vom 27.07.2016 informierte die Gemeinsame Prüfungsstelle B1 (im Folgenden Prüfungsstelle) die Ärzte der Klägerin über die bis dahin erfolgte Durchführung der Richtgrößenprüfung gemäß § 106 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) i.V.m. § 106 Abs. 5a SGB V sowie § 84 Abs. 6 SGB V in der bis 31.12.2016 geltenden Fassung (a.F.). Die Vorabprüfung habe ergeben, dass das der Klägerin für die Verordnung von Arznei-und Verbandmitteln im Jahr 2014 eingeräumte Richtgrößenvolumen nach Berücksichtigung von Praxisbesonderheiten um 31,20 % überschritten sei. Die Überschreitung des Richtgrößenvolumens für das Jahr 2014 errechnete sich wie folgt:

            134.098,50 €   Richtgrößenvolumen gesamt
            354.460,83 €   Verordnungskosten gesamt
            ./. 96,96 €        Kosten Filter 5 (Notfallbehandlung/Anaphylaxie)
            ./. 177.213,19 €          Mehrkosten Filter 6c1 (Hyposensibilisierung)
            ./. 1.209,12 €   Kosten Sonder-ATC
            175.941,56 €   bereinigte Verordnungskosten
            31,20 %          bereinigte Abweichung vom Richtgrößenvolumen

Nach Stellungnahme der Klägerin verfügte die Prüfungsstelle mit Bescheid vom 30.11.2016 aufgrund der festgestellten erstmaligen Überschreitung des Richtgrößenvolumens für das Jahr 2014 um mehr als 25 % eine individuelle Beratung nach § 106 Abs. 5e Satz 1 SGB V a.F. Hiergegen legten sowohl die Beigeladene zu 1) wie auch die Klägerin Widerspruch ein.

Mit Widerspruchsbescheid vom 14.11.2017 wies der Beklagte die Widersprüche zurück und verfügte aufgrund der Überschreitung des Richtgrößenvolumens für das Jahr 2014 gemäß § 106 Abs. 5e S. 1 SGB V a.F. eine individuelle schriftliche Beratung. Zur Begründung führte er aus, dass es für die Feststellung von Praxisbesonderheiten im Bereich der Versorgung mit Arznei- und Verbandmitteln darauf ankomme, ob die einschlägige Versorgung verhältnismäßig teuer sei, sodass davon ausgegangen werden könne, dass die von den Vertragspartnern für die Vergleichsgruppe vereinbarten Richtgrößen im Fall der individuellen Gegebenheiten einer Praxis, beispielsweise bei überdurchschnittlicher Verordnungshäufigkeit, die Versorgung mit den betroffenen Arzneimitteln bzw. Verbandmitteln nicht oder nur zum Teil angemessen berücksichtige. Eine Praxisbesonderheit sei zu verneinen, wenn die Versorgung in der Weise fachgruppentypisch sei, dass sie sich im Ausgleich unterschiedlicher Verordnungshäufigkeiten und Fallkosten vieler unterschiedlicher Präparate in das vom Richtgrößenbetrag repräsentierte Verordnungsspektrum und Fallkostenspektrum einfüge. Die Vergleichsgruppe sei die Prüfungsgruppe, für die entsprechend ihrer fachtypischen Verordnungsweise einheitliche Richtgrößen bestimmt seien. Die Klägerin sei zutreffend in die Gruppe der HNO-Ärzte eingeordnet worden. Die Bildung einer verfeinerten Vergleichsgruppe sei nicht geboten. Das Argument der Klägerin, ihre Praxis sei aufgrund des allergologischen Schwerpunktes nicht mit den Kollegen der Fachgruppe zu vergleichen, greife nicht. Laut der Weiterbildungsordnung der Landesärztekammer B1 gehörten unspezifische und allergenvermittelte Provokations- und Karenztests einschließlich epikutaner, kutaner und intrakutaner Tests einschließlich der Erstellung eines Therapieplanes sowie die Hyposensibilisierung zu den definierten Untersuchungs- und Behandlungsverfahren des Weiterbildungsinhalts eines Facharztes für HNO-Heilkunde. Deshalb werde davon ausgegangen, dass derlei Untersuchungen und entsprechende Verordnungen von allen Angehörigen der Vergleichsgruppe bei gegebener Indikation durchgeführt würden und die dadurch entstandenen Kosten somit in den Durchschnittskosten berücksichtigt seien. Eine beispielhafte Auswertung der Hyposensibilisierungsverordnungskosten aller in B1 niedergelassenen HNO-Ärzte für 2013 habe ergeben, dass die durchschnittlichen Kosten pro Patient bei den HNO-Ärzten mit allergologischem Schwerpunkt unter den durchschnittlichen Kosten der HNO-Ärzte ohne allergologischem Schwerpunkt liegen würden. Bezüglich der Klägerin könnten Verordnungskosten in Höhe von insgesamt 178.519,27 € als Praxisbesonderheiten anerkannt werden. Im Bereich der medikamentösen Hyposensibilisierung anerkenne der Beklagte Verordnungskosten i.H.v. 177.213,19 € als Praxisbesonderheit. Dabei werde maximal auf die Durchschnittsjahreskosten der Vergleichsgruppe abgestellt (209 Patienten; durchschnittliche Verordnungskosten der Vergleichsgruppe 847,91 €; durchschnittliche Verordnungskosten der Klägerin 1.359,80 €). Gegen die Anwendung von Durchschnittskosten spreche nicht, dass in Grundversorgerpraxen eine hohe Anzahl von Therapieabbrüchen vorliegen solle. Therapieabbrüche kämen in jeder Praxis vor. Soweit die Klägerin anführe, sie hätte einen erhöhten Anteil an Parallelhyposensibilisierungen, müsse berücksichtigt werden, dass der Ansatz der Gebührennummer (GOP) 30131 (Hyposensibilisierungsbehandlung durch subkutane Allergeninjektion/en) des Einheitlichen Bewertungsmaßstabes (EBM) auf das absolut notwendige Maß beschränkt bleiben solle. Der Anteil an Mehrfachhyposensibilisierungen liege bei der Klägerin bei 55,3 % und bei der Prüfungsgruppe bei 14,5 %. Die hohe Abweichung der Häufigkeit des Ansatzes der GOP 30131 EBM im Vergleich zur Vergleichsgruppe sei anhand der vorliegenden Unterlagen unabhängig eines etwaigen Schwerpunktes nicht erklärbar, fraglich und zu bezweifeln. Einschlägige Nachweise lägen nicht vor. Der Hinweis der Klägerin, Studien gingen davon aus, dass zwei Drittel aller Patienten einer Mehrfachhyposensibilisierung bedürften, sei kein hinreichender Beweis für eine am Gebot ausreichenden und notwendigen, zweckmäßigen und wirtschaftlichen Handelns orientierte Verpflichtung der Klägerin, mehr Patienten mit Mehrfachhyposensibilisierung zu versorgen als die Vergleichsgruppe. Die Aussage der Klägerin, dass die Patientengruppe mit mehreren relevanten Sensibilisierungen immer größer werde und deshalb auch eine Behandlung mit mehreren Therapieallergenen möglich und notwendig sei, belege im Gegenteil, dass dies generell für die Vergleichsgruppe gelte. Dementsprechend würden bei der Klägerin für jeden Patienten – auch jeden mehrfach hyposensibilisierten Patienten – die durchschnittlichen Kosten der Vergleichsgruppe als Praxisbesonderheit berücksichtigt. Im Übrigen sei zu berücksichtigen, dass die Gebührennummernübersichten keine umfassenden und exakten Aussagen über das Verordnungsverhalten des Arztes und der Vergleichsgruppe zuließen. So sei z.B. nicht erkennbar, ob die Abrechnung der GOP 30131 EBM bei Durchführung der zweiten, dritten, vierten oder fünften Hyposensibilisierungsbehandlung desselben Behandlungstages erfolge. Entscheidend für die Beurteilung seien allein die Verordnungskosten der Klägerin. Da das Richtgrößenvolumen auch nach der Berücksichtigung der Praxisbesonderheiten um mehr als 25 % überschritten sei und es sich um die erstmalige regressrelevante Überschreitung handle, erfolge eine schriftliche individuelle Beratung. Diese sei bereits mit Schreiben der Prüfungsstelle vom 30.11.2016 in ausreichender Weise erfolgt.

Gegen den Bescheid des Beklagten hat die Klägerin am 14.12.2017 Klage zum Sozialgericht Stuttgart (SG) erhoben. Zur Begründung hat sie alleine geltend gemacht, dass die erhöhte Zahl von Parallelhyposensibilisierungen als weitere Praxisbesonderheit anerkannt werden müsse. Die Praxisbesonderheit sei nicht die Hyposensibilisierung, sondern die Mehrfachdesensibilisierung nach GOP 30131 EBM. Sie habe nachvollziehbar dargelegt, dass sie die GOP 30131 EBM häufiger als die Vergleichsgruppe erbringe. Die aus dieser Überschreitung resultierenden Mehrkosten seien als Praxisbesonderheiten anzuerkennen. Das Argument des Beklagten, die Mehrfachhyposensibilisierung sei unwirtschaftlich, verfange nicht.

Der Beklagte ist der Klage entgegengetreten. Ausgehend von der in der Rechtsprechung anerkannten Grundannahme, dass die Gesamtheit der Ärzte einer Fachgruppe insgesamt indiziert und auch wirtschaftlich verordnet – hier also auch parallel Hyposensibilisierungslösungen verordnet, wenn dies sinnvoll und indikationsgerecht sei –, sei eine Anerkennung über diesen Vergleichsgruppendurchschnitt hinaus nicht möglich. Ausnahmsweise könnten derlei Mehrkosten als Praxisbesonderheit anerkannt werden, wenn besondere, diese höheren Kosten rechtfertigende atypische Umstände vorlägen. Die Klägerin habe vorliegend jedoch nicht nachvollziehbar begründet, weshalb sie für die Versorgung eines Hyposensibilisierungspatienten im Durchschnitt höhere Kosten benötige, als andere hyposensibilisierende HNO-Ärzte. Anders als die Klägerin meine, sei vorliegend nicht die Behandlungsweise der Klägerin beurteilt worden, sondern alleine die für die Beurteilung der Wirtschaftlichkeit der Verordnungsweise entscheidenden Verordnungskosten. Weil die Klägerin zum Beleg des erhöhten Anteils an Mehrfachhyposensibilisierungen die Häufigkeit der Abrechnung der GOP 30131 EBM anführe, habe der Beklagte im Widerspruchsbescheid ausdrücklich darauf hingewiesen, dass und weshalb die Abrechnung dieser GOP keine Relevanz im Rahmen der Richtgrößenprüfung habe.

Mit Gerichtsbescheid vom 17.07.2020 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, bei der Feststellung und Bewertung von Praxisbesonderheiten stehe den Prüfgremien ein gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum zu. Der Beurteilungsspielraum der Prüfgremien bestehe nicht generell hinsichtlich aller Fragen der Sachverhaltsermittlung und Beweisführung, sondern nur in Bezug auf solche Fragestellungen, die einer Bewertung unter Heranziehung der besonderen Fachkunde der Mitglieder der Prüfgremien bedürften. Zu diesen Fragestellungen zähle das BSG insbesondere – für den Bereich der Richtgrößenprüfungen aber auch ausschließlich – die Feststellung und Bewertung von Praxisbesonderheiten. Die gerichtliche Kontrolle beschränke sich hier darauf, ob das Verwaltungsverfahren ordnungsgemäß durchgeführt worden sei, ob der Verwaltungsentscheidung ein richtiger und vollständig ermittelter Sachverhalt zugrunde liege, ob die Verwaltung die Grenzen eingehalten habe, die sich bei der Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs „Wirtschaftlichkeit“ ergeben, und ob sie ihre Subsumtionserwägungen so verdeutlicht und begründet habe, dass im Rahmen des Möglichen die zu treffende Anwendung der Beurteilungsmaßstäbe erkennbar und nachvollziehbar sei. Letztlich beschränke sich die Überprüfung des Bescheides insoweit auf seine Vertretbarkeit. Nach diesen Maßstäben sei der angefochtene Bescheid gerichtlich nicht zu beanstanden. Der Beklagte habe in dem angefochtenen Bescheid nachvollziehbar begründet, warum er die medikamentöse Hyposensibilisierung als solche als Praxisbesonderheit anerkenne, nicht jedoch einen erhöhten Anteil an Parallelhyposensibilisierungen; er habe hierbei die von den Ärzten der Klägerin vorgebrachten Argumente angemessen berücksichtigt. Der Auffassung des Klägerbevollmächtigten, der Beklagte halte die Behandlungsweise, nicht die Verordnungsweise der Klägerin für unwirtschaftlich und prüfe dies ohne entsprechenden Antrag und im falschen Verfahren, sei das SG nicht gefolgt. Das Verfahren nach § 106 SGB V a.F. diene der Feststellung, ob die vertragsärztliche Versorgung in Bezug auf die Behandlungs- wie auch die Verordnungsweise den gesetzlichen Anforderungen des Wirtschaftlichkeitsgebots genüge. Der Beklagte habe der Klägerin darum nicht etwa eine unwirtschaftliche Behandlungsweise „unterstellt". Vielmehr komme der Überschreitung der Richtgröße als ein normativ festgelegter Schwellenwert zumindest die Wirkung eines Anscheinsbeweises, wenn nicht einer gesetzlichen Vermutung der Unwirtschaftlichkeit zu. Die Überschreitung der Richtgrößenvolumina löse nach § 84 Abs. 6 Satz 4 SGB V a.F. eine Wirtschaftlichkeitsprüfung nach § 106 Abs. 5a SGB V a.F. aus. Entgegen dem insoweit irreführenden Begriff „Richtgröße" handle es sich nicht um eine „bloße orientierende Richtschnur", sondern infolge der Verknüpfung mit der Wirtschaftlichkeitsprüfung nach § 106 SGB V a.F. um eine Sollvorgabe, an der sich das Verordnungsverhalten des Vertragsarztes auszurichten habe. Auch seine Behandlungsweise müsse der Vertragsarzt ggf. an der Richtgröße ausrichten. Insofern bringe die Prüfung der Verordnungsweise eine mittelbare Prüfung der Behandlungsweise notwendigerweise mit sich. Eine bestimmte, vom Vertragsarzt gewählte Behandlungsweise führe auch nicht dazu, dass die sich hieraus ergebenden Verordnungskosten zwangsläufig als Praxisbesonderheit anerkannt werden müssten. Dass die vermehrte Abrechnung einer bestimmten GOP (hier 30131 EBM) nicht für sich eine Praxisbesonderheit begründen könne, wie der Klägerbevollmächtigte anzunehmen scheine, sollte sich von selbst verstehen; dies hieße die Überschreitung einer Richtgröße mit der bloßen Tatsache der Überschreitung zu rechtfertigen und lasse eine Prüfung nach Richtgrößen letztlich ins Leere laufen.

Gegen den dem Klägerbevollmächtigten am 27.07.2020 zugestellten Gerichtsbescheid hat dieser am 24.08.2020 Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt.

Die Klägerin ist der Meinung, die Beurteilung einer Praxisbesonderheit sei nicht widerspruchsfrei erfolgt. Mit dem angegriffenen Widerspruchsbescheid werde im Bereich der medikamentösen Hyposensibilisierung eine Praxisbesonderheit anerkannt. Im Widerspruch dazu werde der erhöhte Anteil an Parallelhyposensibilisierungen (Mehrfachdesensibilisierungen GOP 30131 EBM) nicht als Praxisbesonderheit anerkannt, obwohl – ausweislich des Bescheides – deren Anteil bei der Klägerin bei 55,3% und bei der zum Vergleich herangezogenen Prüfungsgruppe nur bei 14,5% gelegen habe. Anstatt auf Grundlage dieser Faktenlage zu entscheiden, werde in dem Widerspruchsbescheid die Vermutung aufgestellt, dass die zugrundeliegenden Indikationen zur Doppelhyposensibilisierung nicht vorlägen. Dies sei ohne Durchführung des dafür vorgesehenen Prüfverfahrens erfolgt. Folgerichtig müssten, wenn die Hyposensibilisierung als Praxisbesonderheit anerkannt werde, auch die Parallelhyposensibilisierungen als Praxisbesonderheit anerkannt werden. Wie in dem angegriffenen Widerspruchsbescheid so werde auch im Gerichtsbescheid des SG die Prüfung der Wirtschaftlichkeit und Abrechenbarkeit vertragsärztlicher Leistungen mit der Feststellung und Anerkennung von dargelegten Praxisbesonderheiten unzulässig vermengt. Nur im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung sei zu hinterfragen, ob für die abgerechneten Behandlungen tatsächlich eine Indikation bestanden habe. Denklogisch würden sich Praxisbesonderheiten in der Abrechnung niederschlagen. Die vermehrte Abrechnung einer GOP stelle den Beleg dafür dar, dass eine Praxisbesonderheit vorliege. Im Übrigen differenziere der Beklagte in willkürlicher Weise zwischen einfacher Desensibilisierung – beim Vorliegen einer Allergie auf einen Stoff – und mehrfacher Desensibilisierung – beim Vorliegen einer Allergie gleichzeitig auf mehrere Stoffe.

Die Klägerin beantragt (sinngemäß),

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 17.07.2020 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 16.11.2017 zu verurteilen, den Bescheid der Prüfungsstelle vom 17.12.2015 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend und verweist auf die Entscheidungsgründe. Den Ausführungen der Klägerin, die vermehrten Abrechnungen einer Verordnung würden einen Beleg dafür darstellen, dass eine Praxisbesonderheit vorliege, könne unter keinen Umständen gefolgt werden. Praxisbesonderheiten i.S.d. § 106 Abs. 5a Satz 3 SGB V a.F. seien anzuerkennen, wenn ein spezifischer, vom Durchschnitt der Vergleichsgruppe signifikant abweichender Behandlungsbedarf des Patientenklientels und die hierdurch hervorgerufenen Mehrkosten nachgewiesen würden. Es obliege dem geprüften Arzt, etwaige Besonderheiten seiner Praxis darzulegen. Die Abrechnung eines (bloßen) „Mehr“ an fachgruppentypischen Leistungen begründe keine Praxisbesonderheit.

Die mit Beschluss des SG vom 28.05.2018 Beigeladenen haben keinen Antrag gestellt und sich nicht zur Sache geäußert.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats im schriftlichen Verfahren ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz <SGG>) einverstanden erklärt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz sowie die Verwaltungsakte des Beklagten verwiesen.


Entscheidungsgründe

I. Der Senat entscheidet über die Berufung in der Besetzung mit ehrenamtlichen Richtern aus dem Kreis der Krankenkassen und der Vertragsärzte, weil es sich vorliegend um eine Angelegenheit des Vertragsarztrechts handelt (§ 12 Abs. 3 Satz 1 SGG).

II. Die Berufung der Klägerin, über die der Senat mit dem Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist gemäß §§ 143, 144 SGG statthaft. Die Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt worden und auch im Übrigen zulässig (§ 151 SGG). Sie hat jedoch keinen Erfolg. Das SG hat die Klage zu Recht in vollem Umfang abgewiesen.

1. Streitgegenstand ist allein der Bescheid des Beklagten vom 14.11.2017 betreffend das Verordnungsjahr 2014. Dieser Bescheid hat den Bescheid der Prüfungsstelle vom 30.11.2016 ersetzt (vgl. BSG, Urteil vom 11.05.2011 - B 6 KA 13/10 R -, in juris, Rn. 16).

2. Die als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage nach § 54 Abs. 1 SGG statthafte (vgl. BSG, Beschluss vom 10.05.2017 - B 6 KA 58/16 B -, in juris) Klage ist zulässig. Die Klägerin ist durch den angefochtenen Bescheid formell beschwert i.S.d. § 54 Abs. 1 Satz 2 SGG und damit klagebefugt. Sie erstrebt die Beseitigung einer in ihre Rechtssphäre eingreifenden Verwaltungsmaßnahme, die sie als rechtswidrig beanstandet. Der von den vertragsärztlichen Prüfgremien erlassene Beratungsbescheid ist, nicht anders als der Regressbescheid, ein Verwaltungsakt i.S.d. § 31 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X). Ein nachteiliges Einwirken auf die Rechtssphäre der Klägerin fehlt nicht etwa deshalb, weil der angefochtene Bescheid keine materielle Ausgleichspflicht festsetzt, sondern nur eine immaterielle Maßnahme der „Beratung“. Auch bei der hier festgesetzten schriftlichen Beratung nach § 106 Abs. 1a i.V.m. Abs. 5a Satz 1 und 2 SGB V [in der hier vom 01.01.2008 bis 31.12.2016 maßgeblichen Fassung des Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz – GKV-WSG) vom 26.03.2007 (BGBl I 378); im Folgenden a.F.; zur Maßgeblichkeit des im Prüfzeitraums geltenden Rechts BSG, Urteil vom 22.10.2014 - B 6 KA 8/14 R -, in juris, Rn. 30) handelt es sich nach der gesetzlichen Konzeption um eine Sanktion im Falle der Überschreitung des Richtgrößenvolumens. Sie soll die künftige Änderung des Verordnungsverhaltens bewirken. Der damit verbundene Eingriff in die durch Art. 12 Abs. 1 Grundgesetz (GG) geschützte Berufsfreiheit begründet eine Beschwer der Klägerin (vgl. BSG, Urteil vom 05.06.2013 - B 6 KA 40/12 R -, in juris Rn. 10 f.).

2. Die Klage ist nicht begründet. Der Bescheid des Beklagten vom 14.11.2017 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.

a) Rechtsgrundlage des angefochtenen Bescheids des Beklagten ist § 106 Abs. 5e Satz 1 SGB V a.F. Bei Überschreitung der Richtgrößenvolumen nach § 84 Abs. 6 und 8 SGB V a.F. werden nach § 106 Abs. 5a SGB V a.F. Beratungen nach § 106 Abs. 1a Satz 1 SGB V a.F. durchgeführt, wenn das Verordnungsvolumen eines Arztes in einem Kalenderjahr das Richtgrößenvolumen um mehr als 15 vom Hundert übersteigt und auf Grund der vorliegenden Daten die Prüfungsstelle nicht davon ausgeht, dass die Überschreitung in vollem Umfang durch Praxisbesonderheiten begründet ist (Vorab-Prüfung). Bei einer Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 vom Hundert hat der Vertragsarzt nach Feststellung durch die Prüfungsstelle den sich daraus ergebenden Mehraufwand den Krankenkassen zu erstatten, soweit dieser nicht durch Praxisbesonderheiten begründet ist (§ 106 Abs. 5a Satz 3 SGB V a.F.). Abweichend hiervon erfolgt nach § 106 Abs. 5e Satz 1 SGB V a.F. (eingefügt mit dem GKV-Versorgungsstrukturgesetz mit Wirkung zum 01.01.2012) bei einer erstmaligen Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 Prozent eine individuelle Beratung nach § 106 Abs. 5a Satz 1 SGB V a.F. Ein Erstattungsbetrag kann dann bei künftiger Überschreitung erstmals für den Prüfzeitraum nach der Beratung festgesetzt werden.

b) Der Bescheid vom 14.11.2017 ist formell rechtmäßig. Der Beklagte hat als zuständige Behörde über den Widerspruch der Klägerin gegen die von der Prüfungsstelle festgesetzte individuelle Beratung entschieden. Gemäß § 106 Abs. 5 Satz 3 SGB V a.F. können die betroffenen Ärzte gegen die Entscheidungen der Prüfungsstelle die Beschwerdeausschüsse anrufen. Ein Fall, in dem ausnahmsweise die Anrufung des Beschwerdeausschusses nicht statthaft ist (vgl. § 106 Abs. 5 Satz 8 SGB V a.F.), lag nicht vor. Auch die Ausschlussfrist des § 106 Abs. 2 Satz 7 Hs. 2 SGB V a.F., wonach die Festsetzung eines den Krankenkassen zu erstattenden Mehraufwandes nach § 106 Abs. 5a SGB V a.F. innerhalb von zwei Jahren nach Ende des geprüften Verordnungszeitraumes erfolgen muss, ist vorliegend durch den Erlass des Bescheids der Prüfungsstelle vom 30.11.2016 gewahrt (zur Fristwahrung durch den Bescheid der Prüfungsstelle s. BSG, Urteil vom 28.10.2015 - B 6 KA 45/14 R -, in juris, Rn. 23; zur Anwendung auf die Festsetzung einer Beratung Urteil des Senats vom 28.04.2021 - L 5 KA 2670/18 -, in juris).

b) Der Bescheid des Beklagten vom 14.11.2017 ist auch materiell rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.

(1) Der Beklagte hat – ohne dass dies zu beanstanden wäre – das Prüfverfahren anhand von Richtgrößen durchgeführt. Für die Wirtschaftlichkeitsprüfung ärztlich verordneter Leistungen sah § 106 Abs. 2 SGB V a.F. neben der Stichprobenprüfung (Satz 1 Nr. 2) und der Möglichkeit, in der Prüfvereinbarung Prüfungen nach Durchschnittswerten oder andere arztbezogene Prüfungsarten zu vereinbaren (z.B. Einzelfallprüfung), in Satz 1 Nr. 1 eine Prüfung auf der Grundlage von Richtgrößen (sog. Auffälligkeitsprüfung) vor. Die Auswahl unter den verschiedenen Prüfmethoden liegt dabei grundsätzlich im Ermessen der Prüfgremien.

(2) Der Beklagte hat auch das Richtgrößenvolumen der Klägerin zutreffend errechnet. Insoweit sind Fehler weder geltend gemacht noch ersichtlich.

Das (Arzneimittel-)Richtgrößenvolumen des Vertragsarztes wird auf der Grundlage von gesamtvertraglich festgelegten (Arzneimittel-)Richtgrößen berechnet. Gemäß § 84 Abs. 6 Satz 1 SGB V (in der im Prüfjahr 2014 geltenden Fassung des GKV-VStG vom 22.12.2011, BGBl. I S. 2983; im Folgenden a.F.) vereinbaren die Vertragspartner nach § 84 Abs. 1 SGB V (Landesverbände der Krankenkassen, Ersatzkassen und Kassenärztliche Vereinigung) bis zum 15.11. für das jeweils folgende Kalenderjahr zur Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung für das auf das Kalenderjahr bezogene Volumen der je Arzt verordneten Leistungen nach § 31 SGB V (Richtgrößenvolumen) arztgruppenspezifisch fallbezogene Richtgrößen als Durchschnittswerte. Gemäß § 84 Abs. 6 Satz 3 SGB V a.F. leiten die Richtgrößen den Vertragsarzt bei seinen Entscheidungen über die Verordnung von Leistungen nach § 31 SGB V nach dem Wirtschaftlichkeitsgebot. Insoweit dienen die Richtgrößen der (vorausschauenden) Steuerung des Verordnungsverhaltens. Gemäß § 84 Abs. 6 Satz 4 SGB V a.F. löst die Überschreitung des Richtgrößenvolumens eine Wirtschaftlichkeitsprüfung nach § 106 Abs. 5a SGB V a.F.(Richtgrößenprüfung) aus. Insoweit dienen die Richtgrößen der (rückschauenden) Prüfung des Verordnungsverhaltens; sie haben dabei die Funktion von normativ festgelegten (und nicht nur statistisch ermittelten) Vergleichswerten (vgl. Clemens in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Auflage 2016, § 106 Rn. 249).

Die hier maßgebliche Richtgröße beruht auf § 84 Abs. 6 SGB V a.F. i.V.m. der für den Bezirk der Beigeladenen zu 1) rechtzeitig vor Jahresbeginn vereinbarten und bekanntgegebenen Richtgrößenvereinbarung für das Jahr 2014. Danach galt für die Klägerin die Richtgrößengruppe für HNO-Ärzte. Die Richtgröße dieser Fachgruppe lag im Jahr 2014 bei 12,34 (M/F) bzw. 5,60 (R) je Fall. Der Beklagte hat unter Zugrundelegung dieser Richtgröße und der Fallzahl von 9.005 (M/F) bzw. 4.103 (R) das Richtgrößenvolumen der Klägerin in Höhe von 134.098,50 € zutreffend berechnet. Insoweit besteht auch kein Streit.

(3) Der Bescheid des Beklagten ist auch rechtmäßig, soweit er sich mit den von der Klägerin geltend gemachten Praxisbesonderheiten auseinandersetzt. Die Feststellung und Bewertung der Praxisbesonderheiten halten sich innerhalb des den Prüfgremien zustehenden Beurteilungsspielraums. Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist nur noch die von der Klägerin geltend gemachte Praxisbesonderheit eines erhöhten Anteils an Parallelhyposensibilisierungen.

(a) Praxisbesonderheiten i.S.d. § 106 Abs. 5a Satz 3 SGB V a.F. sind anzuerkennen, wenn ein spezifischer, vom Durchschnitt der Vergleichsgruppe signifikant abweichender Behandlungsbedarf des Patientenklientels und die hierdurch hervorgerufenen Mehrkosten nachgewiesen werden. Es obliegt dem geprüften Arzt, etwaige Besonderheiten seiner Praxis darzulegen (vgl. BSG, Beschluss vom 25.01.2017 - B 6 KA 22/16 B -, in juris, Rn. 13 m.w.N.; BSG, Urteil vom 13.05.2020 - B 6 KA 25/19 R -, in juris). Die Abrechnung eines (bloßen) „Mehr“ an fachgruppentypischen Leistungen begründet keine Praxisbesonderheit (dazu näher etwa BSG, Urteil vom 29.06.2011 - B 6 KA 17/10 R -, in juris, Rn. 22). Für die Feststellung und Bewertung von Praxisbesonderheiten haben die Prüfgremien (auch) bei der Richtgrößenprüfung einen Beurteilungsspielraum. Die Kontrolle der Gerichte beschränkt sich daher darauf, ob das Verwaltungsverfahren ordnungsgemäß durchgeführt worden ist, ob der Verwaltungsentscheidung ein richtiger und vollständig ermittelter Sachverhalt zugrunde liegt, ob die Verwaltung die Grenzen eingehalten hat, die sich bei der Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs „Wirtschaftlichkeit“ ergeben, und ob sie ihre Subsumtionserwägungen so verdeutlicht und begründet hat, dass im Rahmen des Möglichen die zu treffende Anwendung der Beurteilungsmaßstäbe erkennbar und nachvollziehbar ist (vgl. BSG, Urteil vom 22.10.2014 - B 6 KA 8/14 R -, in juris, Rn. 56). Die Anerkennung von Praxisbesonderheiten kann nicht Gegenstand einer Beweiserhebung durch Sachverständigengutachten sein (vgl. BSG, Beschluss vom 27.06.2018 - B 6 KA 54/17 B -, in juris, Rn. 22 m.w.N.).


Für die richtige und vollständige Ermittlung des (Praxisbesonderheiten-)Sachverhalts gelten im Ausgangspunkt die allgemeinen Regelungen des sozialrechtlichen Verwaltungsverfahrensrechts. Gemäß § 20 Abs. 1 SGB X ermitteln die Behörden, hier die Prüfgremien, den Sachverhalt von Amts wegen. Sind Praxisbesonderheiten erkennbar oder kommt das Vorliegen von Praxisbesonderheiten ernsthaft in Betracht, müssen die Prüfgremien von Amts wegen entsprechende Ermittlungen durchführen (vgl. Clemens in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Auflage 2016, § 106 Rn. 194 zu offenkundigen Praxisbesonderheiten). Gemäß § 20 Abs. 1 Satz 2 SGB X bestimmt die Behörde (u.a.) die Art der Ermittlungen; sie kann zur Durchführung der Amtsermittlung (ohne Weiteres) auch maschinelle Verfahren der Datenverarbeitung als Hilfsmittel der Amtsermittlung anwenden. Der Amtsermittlungspflicht der Behörden steht die Mitwirkungsobliegenheit der Beteiligten gegenüber. Diese sollen gemäß § 21 Abs. 2 SGB X bei der Ermittlung des Sachverhalts mitwirken und insbesondere ihnen bekannte Tatsachen und Beweismittel angeben. Das Gesetz legt Näheres hierzu nicht fest. Art und Umfang der den Beteiligten obliegenden Mitwirkung hängen (u.a.) von der Eigenart des Verfahrensgegenstandes, der Sachkunde der Verfahrensbeteiligten und den Einzelfallumständen im Übrigen ab. In der vertragsarztrechtlichen Wirtschaftlichkeitsprüfung obliegt die Darlegungs- und Feststellungslast für besondere, einen höheren Behandlungsaufwand rechtfertigende atypische Umstände, wie Praxisbesonderheiten und kompensierende Einsparungen, dem Vertragsarzt; diese Darlegungslast geht über die allgemeinen Mitwirkungspflichten nach § 21 Abs. 2 SGB X hinaus. Grundsätzlich ist es daher Angelegenheit des Vertragsarztes, die für ihn günstigen Tatsachen so genau wie möglich anzugeben und zu belegen, vor allem, wenn sie allein ihm bekannt sind oder nur durch seine Mithilfe aufgeklärt werden können. Der Vertragsarzt ist gehalten, solche Umstände im Prüfungsverfahren, also spätestens gegenüber dem Beschwerdeausschuss und nicht erst im nachfolgenden Gerichtsverfahren, geltend zu machen, die sich aus der Atypik seiner Praxis ergeben, aus seiner Sicht auf der Hand liegen und den Prüfgremien nicht ohne Weiteres an Hand der Verordnungsdaten und der Honorarabrechnung bekannt sind oder sein müssen (vgl. BSG, Urteil vom 05.06.2013 - B 6 KA 40/12 R -, in juris, Rn. 18). Die Darlegungen müssen substantiiert sein und spezielle Strukturen der Praxis, aus denen Praxisbesonderheiten folgen können, aufzeigen. Die bloße Auflistung von Behandlungsfällen mit Diagnosen und Verordnungsdaten genügt nicht. Notwendig ist grundsätzlich, dass der Arzt seine Patientenschaft und deren Erkrankungen systematisiert, etwa schwerpunktmäßig behandelte Erkrankungen aufzählt und mitteilt, welcher Prozentsatz der Patienten ihnen jeweils zuzuordnen ist und welcher Aufwand an Behandlung bzw. Arzneimitteln durchschnittlich für die Therapie einer solchen Erkrankung erforderlich ist (Clemens in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Auflage 2016, § 106 Rn. 194 f. m.N. zur Rechtsprechung des BSG). Überspannte Anforderungen dürfen aber nicht gestellt werden. Die Prüfgremien müssen die Darlegungen des Arztes aufgreifen und, soweit veranlasst, zum Gegenstand weiterer Ermittlungen von Amts wegen machen und dabei - im Wechselspiel von Amtsermittlung und (gesteigerter) Mitwirkungsobliegenheit des Vertragsarztes - auf ggf. notwendige Konkretisierungen hinwirken (vgl. Senatsurteil vom 26.10.2016 - L 5 KA 3599/13 -, in juris, Rn. 50).

Gemäß § 106 Abs. 5a Satz 5 SGB V a.F. sind in der Prüfungsvereinbarung klarstellend-deklaratorisch Maßstäbe zur Prüfung der Berücksichtigung von Praxisbesonderheiten festzulegen. Nach § 8 Abs. 5 der Prüfvereinbarung nach § 106 Abs. 3 SGB V a.F. für B1 vom 16.04.2008 (gültig auch für das Prüfjahr 2014) ist das weitere Verfahren der Richtgrößenprüfung in Anlage 2 geregelt. Danach können die Vertragspartner vereinbaren, dass bestimmte Wirkstoffe- oder Indikationsgruppen bzw. Heilmittelarten vor der Einleitung von Beratungen und Prüfungen nach § 106 Abs. 5a SGB V (a.F.) Berücksichtigung finden. Weitere Praxisbesonderheiten ermittelt die gemeinsame Prüfungsstelle auf Antrag des Arztes, auch durch Vergleich der Diagnosen und Verordnungen in einzelnen Anwendungsbereichen der entsprechenden Fachgruppe. Die für die Bildung der Richtgrößen herangezogenen Maßstäbe sind zu beachten. Ergänzt werden die Bestimmungen durch die nach § 1 Abs. 10 der Prüfvereinbarung erlassenen Prüfrichtlinien der Prüfgremien.

Die Prüfgremien wenden zur Beurteilung von Praxisbesonderheiten i.S.d. § 106 Abs. 5a Satz 3 SGB V a.F. ein auf statistischen und medizinisch-pharmakologischen Grundsätzen beruhendes, so genanntes „Filterverfahren“ an. Hierzu sind sie befugt (vgl. Senatsurteil vom 22.05.2019 - L 5 KA 2616/16 -, n.v.). Das folgt schon aus ihrer Befugnis, Art und Umfang der von Amts wegen durchzuführenden Ermittlungen zu bestimmen (§ 20 Abs. 1 Satz 2 SGB X) und begründet für sich allein einen rechtlich beachtlichen Beurteilungsmangel nicht. Das Filterverfahren stellt als maschinelles Verfahren (letztendlich im Interesse der Vertragsärzte) ein Hilfsmittel der behördlichen Amtsermittlung dar (§ 20 Abs. 1 Satz 2 SGB X). Es hat erkennbare und deshalb vom Vertragsarzt im Rahmen seiner (gesteigerten) Mitwirkungsobliegenheit (§ 21 Abs. 2 SGB X) nicht erst noch darzulegende Praxisbesonderheiten zum Gegenstand und macht sie sichtbar, indem es aus der (unübersehbaren) Fülle von Arzneimittelverordnungssachverhalten (Rezeptfällen) als Praxisbesonderheiten der Prüfpraxis feststell- und bewertbare Arzneimittelverordnungssachverhalte (Rezeptfälle) „herausfiltert“. Das Filterverfahren beruht auf tatsächlichen (wertenden) Grundannahmen zum (medizinisch richtigen und wirtschaftlichen) Verordnungsverhalten des Großteils der Ärzte und auf der elektronisch gestützten Auswertung der bei der Verordnung von Arzneimitteln angefallenen Daten nach statistischen und medizinisch-pharmakologischen Grundsätzen. Gegen die Anwendung des Filterverfahrens als Hilfsmittel der Amtsermittlung (§ 20 Abs. 1 Satz 2 SGB X) ist aus Rechtsgründen nichts zu erinnern. Anderes gälte nur dann, wenn das Filterverfahren strukturelle Fehler aufwiese, die notwendig zur Feststellung eines unrichtigen oder unvollständigen Sachverhalts führen müssten, der wiederum nicht Grundlage einer rechtsfehlerfreien Beurteilungsentscheidung sein könnte. Hierfür ist aber nichts ersichtlich. Im Hinblick auf die tatsächlichen (wertenden) Grundannahmen des Filterverfahrens bestehen ebenfalls keine rechtlichen Bedenken. Dass die Grundannahme wirtschaftlichen Handelns (Abrechnens) eines Großteils der Ärzte unmittelbar auf die Durchschnittsprüfung (§ 106 Abs. 2 Satz 4 SGB V a.F.) bezogen ist, steht ihrer Heranziehung zur Feststellung (und Bewertung) von Praxisbesonderheiten in der Richtgrößenprüfung nicht entgegen. Rechtlich unerheblich ist auch, dass der Fachgruppendurchschnittswert - anders als die (wie vorstehend dargelegt ebenfalls als Durchschnittswert) fungierende Richtgröße - (rein) statistisch ermittelt und nicht normativ festgelegt wird. Es gibt keinen Rechtssatz, der den Prüfgremien die Anwendung jeglicher, rein statistischer Methoden im Rahmen der Richtgrößenprüfung untersagen würde. Die Prüfgremien sind bei der Anwendung des als solchen rechtlich unbedenklichen Filterverfahrens von rechtlichen Maßgaben freilich nicht gänzlich freigestellt. Behördliche Verfahrenshandlungen, wie die Entscheidung zur Anwendung des Filterverfahrens im Einzelfall und ggf. auch die Auswahl des jeweiligen Filters, müssen sachgerecht und frei von Rechtsfehlern erfolgen, um etwaige (Folge-)Fehler in der Sachverhaltsfeststellung, die rechtlich beachtliche Beurteilungsfehler zur Folge haben könnten, zu vermeiden; (Verfahrens-)Entscheidungen der Prüfgremien hinsichtlich der Anwendung des Filterverfahrens wären aber gesondert nicht anfechtbar (vgl. etwa § 44a Verwaltungsgerichtsordnung <VwGO> und BSG, Urteil vom 10.12.1992 - 11 RAr 71/91 -; auch Senatsbeschluss vom 12.11.2010 - L 5 KA 4293/10 ER-B -, beide in juris).

Da das Filterverfahren (nur) ein Hilfsmittel der behördlichen Amtsermittlung (§ 20 Abs. 1 Satz 2 SGB X) zur Sichtbarmachung der aus der Fülle der Verordnungsdaten erkennbaren Praxisbesonderheiten darstellt und als wesentlich auf statistischen Grundsätzen beruhendes maschinelles Verfahren die Umstände des jeweiligen Einzelfalls nicht vollständig erfassen kann, bedarf es notwendig der Ergänzung durch eine intellektuelle (Einzelfall-)Prüfung. Diese hat im Rahmen der das (Beurteilungs-)Verfahren abschließenden Beurteilungsentscheidung der Prüfgremien zu erfolgen. Die auf intellektueller Prüfung beruhende Beurteilungsentscheidung hat zum einen die Ergebnisse des Filterverfahrens zum Gegenstand, die nach intellektueller Prüfung als (Teil-)Beurteilungsergebnis übernommen oder ggf. verworfen oder korrigiert werden können. Die Beurteilungsentscheidung muss zum andern aber auch vom Vertragsarzt in Erfüllung seiner gesteigerten Mitwirkungsobliegenheit (§ 21 Abs. 2 SGB X) hinreichend substantiiert geltend gemachte - oder außerhalb des Filterverfahrens - sonst erkennbare Praxisbesonderheiten zum Gegenstand haben. Anderes wäre mit den Anforderungen des Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) als (wesentlicher) rechtlicher Grenze des behördlichen Beurteilungsspielraums nicht vereinbar. Die Pflicht der Prüfgremien zur abschließenden intellektuellen Prüfung und Beurteilung von Praxisbesonderheiten (i.S.d. § 106 Abs. 5a Satz 3 SGB V a.F.) ist damit (auch) notwendige Folge und Ergänzung ihrer Befugnis, hierüber eine autonome und der gerichtlichen Rechtskontrolle in der Sache weitgehend entzogene Beurteilungsentscheidung zu treffen. Das (Ermittlungs-)Ergebnis des Filterverfahrens darf daher nicht unbesehen als Beurteilungsergebnis übernommen werden. Da eine rechtsfehlerfreie Beurteilungsentscheidung Rechtsfehler auch im Beurteilungsvorgang nicht aufweisen darf, kommt es auf das Beurteilungsergebnis und dessen - möglicherweise (erst) durch Nachberechnungen, ggf. im Gerichtsverfahren, bestätigte - Richtigkeit für sich allein nicht an (Senatsurteil vom 26.10.2016, - L 5 KA 3599/13 -, in juris, Rn. 53 ff.; Senatsurteil vom 22.05.2019 - L 5 KA 2616/16 -, n.v.).

(b) Hiervon ausgehend hat der Beklagte in nicht zu beanstandender Weise unter Anwendung des Filterverfahrens als Praxisbesonderheit im Bereich der Hyposensibilisierung Mehrkosten in Höhe von 177.213,19 € (Filter 6c1) anerkannt. Fehler bei der Anwendung des Filters sind dem Beklagten nicht unterlaufen. Auch die das Filterverfahren notwendig ergänzende intellektuelle Prüfung hält einer gerichtlichen Überprüfung stand. Dabei berücksichtigt der Senat den nur eingeschränkt überprüfbaren Beurteilungsspielraum des Beklagten in Bezug auf die Feststellung und Bewertung von Praxisbesonderheiten. Der Beklagte hat schlüssig und nachvollziehbar dargelegt, warum er den Ausführungen der Klägerin zu ihren Praxisbesonderheiten unter Anwendung des Filterverfahrens nur zum Teil folgt. Insoweit verweist der Senat auf die zutreffenden Ausführungen des SG im Gerichtsbescheid vom 17.07.2020, die er sich vollumfänglich zu eigen macht, und sieht insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 153 Abs. 2 SGG). Aus der Berufungsbegründung ergeben sich keine Gesichtspunkte, die zu einer abweichenden Auffassung führen könnten. Letztlich begründet die Klägerin die alleine geltend gemachte Praxisbesonderheit aufgrund erhöhter Parallelhyposensibilisierungen ausschließlich mit der erhöhten Abrechnung der GOP 30131 EBM. Entgegen der Ansicht der Klägerin kann die Abrechnung eines (bloßen) „Mehr“ an fachgruppentypischen Leistungen keine Praxisbesonderheit begründen (dazu näher etwa BSG, Urteil vom 29.06.2011 - B 6 KA 17/10 R -, in juris, Rn. 22). Dass die Klägerin fachgruppenuntypische Leistungen erbringen würde oder ein spezielles Patientenklientel betreut, hat sie weder vorgetragen, noch ist dies erkennbar. Der Beklagte hat sich mit dieser Thematik im Widerspruchsbescheid ausreichend auseinandergesetzt. Zwar hat er auch bezweifelt, dass die Indikation für Doppelhyposensibilisierung unabhängig eines etwaigen Schwerpunktes – welchen die Klägerin nicht belegt – notwendig sei. Allerdings hat er hierauf bei der Verneinung einer zusätzlichen Praxisbesonderheit schon nicht entscheidungserheblich abgestellt. Vielmehr hat er nachvollziehbar ausgeführt, dass kein relevanter Unterschied zur Vergleichsgruppe ersichtlich sei und deshalb von den durchschnittlichen Kosten der Vergleichsgruppe ausgegangen werden könne. Der Beklagte hat demnach auch nicht die Prüfung der Wirtschaftlichkeit und Abrechenbarkeit vertragsärztlicher Leistungen mit der Feststellung und Anerkennung von dargelegten Praxisbesonderheiten unzulässig vermengt. Nicht nachvollziehbar ist das im Berufsverfahren erstmals angeführte Argument, der Beklagte differenziere in willkürlicher Weise zwischen einfacher Desensibilisierung – beim Vorliegen einer Allergie auf einen Stoff – und mehrfacher Desensibilisierung – beim Vorliegen einer Allergie gleichzeitig auf mehrere Stoffe. Die Klägerin verkennt, dass die durchschnittlichen Kosten der Vergleichsgruppe für Mehrfachhyposensibilisierungen in den anerkannten Mehrkosten mit enthalten sind.

Auch im Übrigen sind keine Fehler bei der Berechnung der bereinigten Verordnungskosten und der Überschreitung des Richtgrößenvolumens erkennbar. Mit der bereinigten Abweichung von 31,20 % vom Richtgrößenvolumen liegen die Voraussetzungen für eine individuelle schriftliche Beratung nach § 106 Abs. 5e Satz 1 SGB V a.F. vor.

IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. §§ 154 Abs. 2 und 3, 162 Abs. 3 VwGO. Eine Erstattung der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen ist nicht veranlasst, weil diese im Verfahren keine Anträge gestellt haben (§ 162 Abs. 3 VwGO).

V. Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht (§ 160 Abs. 2 SGG).

VI. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 52 Abs. 2 Gerichtskostengesetz (GKG).

Rechtskraft
Aus
Saved