L 12 SB 306/20

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
12.
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 7 SB 1631/18
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 12 SB 306/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 12.12.2019, soweit es über das Teilanerkenntnis vom 12.12.2019 hinausgeht, aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Der Beklagte trägt 1/6 der außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Rechtszügen.



Tatbestand

Die Klägerin begehrt vom Beklagten die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 50.

Bei der 1958 geborenen Klägerin wurde mit Bescheid vom 23.01.2008 ein GdB von 30 festgestellt. Neufeststellungsanträge in den Jahren 2011 und 2015 lehnte der Beklagte ab.

Am 05.02.2018 beantragte die Klägerin neuerlich einen höheren GdB. Der Beklagte zog Arztberichte sowie den Reha-Entlassbericht der Fklinik B vom 26.09.2017 bei und veranlasste eine versorgungsärztliche Auswertung. Z empfahl in seiner Stellungnahme vom 14.03.2018 die Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Bandscheibenschaden, Kopfschmerzsyndrom, chronisches Schmerzsyndrom mit einem Einzel-GdB von 30 und den Bluthochdruck sowie ein Fibromyalgiesyndrom mit einem Einzel-GdB von jeweils 10 und den Gesamt-GdB mit 30 zu bewerten. Dem folgend lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 16.03.2018 eine Neufeststellung des GdB ab.

Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies der Beklagte nach Einholung einer ärztlichen Stellungnahme des S, vom 30.05.2018 und nach deren versorgungsärztlicher Auswertung durch den J mit Widerspruchsbescheid vom 21.06.2018 als unbegründet zurück.

Hiergegen hat die Klägerin am 05.07.2018 Klage zum Sozialgericht Reutlingen (SG) erhoben. Sie hat ausgeführt, sie leide unter starken Schmerzen im Bereich der Wirbelsäule, Kopfschmerzen und einer Fibromyalgie mit ständigen Schmerzen im gesamten Körper. Es bestünden als Folge massive Schlafstörungen, eine ausgeprägte Morgensteifigkeit und die Konzentrationsfähigkeit sei stark eingeschränkt. Eine Besserung der Beschwerden habe durch insgesamt vier Rehabilitationsmaßnahmen nicht erreicht werden können.

Das SG hat zunächst die behandelnden Ärzte der Klägerin als sachverständige Zeugen schriftlich vernommen und sodann auf Antrag und Kostenrisiko der Klägerin ein internistisch-rheumatologisches Gutachten bei H der Klinik am H1, W eingeholt.

Der S hat unter dem 07.08.2018 über ein seit Jahren bestehendes chronisches Schmerzsyndrom mit somatischen und psychischen Faktoren sowie ein degeneratives HWS- und LWS-Syndrom berichtet.

Der B1 hat in seiner Auskunft vom 21.09.2018 über die bis Sommer 2017 sporadisch erfolgten Behandlungen berichtet und sich hinsichtlich Diagnose und GdB-Bewertung der Beurteilung des Beklagten angeschlossen.

H hat in seinem Gutachten vom 24.04.2019 ausgeführt, es bestünde eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (Fibromyalgie-Syndrom) mit chronischen Schmerzen, unerholsamem Schlaf, massiver körperlicher und geistiger Minderbelastbarkeit im Alltag aufgrund allgemeiner und vor allem muskulärer Schwäche und rascher Erschöpfbarkeit, verbunden mit kognitiven Einschränkungen, vegetativen und psychischen Auffälligkeiten. Den GdB für die chronische Schmerzstörung hat der Sachverständige mit 50 und gleichzeitig den Gesamt-GdB ebenfalls mit 50 festgestellt. Der Beklagte hat hierzu die versorgungsärztliche Stellungnahme der H2 vom 13.08.2019 vorgelegt. Danach sei von einer stärker behindernden psychischen Störung mit wesentlicher Einschränkung der Gestaltungs- und Erlebnisfähigkeit auszugehen, die mit einem GdB von 40, nicht jedoch mit einem GdB von 50 zu bewerten sei.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 12.12.2019 hat die Klägerin ein vom Beklagten abgegebenes Teilanerkenntnis dahingehend, dass der GdB mit 40 ab 05.02.2018 festzustellen sei, angenommen. Darüber hinaus hat das SG den Beklagten entsprechend dem Antrag der Klägerin verurteilt, den GdB mit 50 ab 24.04.2019 festzustellen. Bei der Klägerin bestehe ein chronisches Schmerzsyndrom (Fibromyalgiesyndrom), das nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VG), Teil B, Nr. 3.7 zu bewerten sei. Dabei handele es sich um eine schwere Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten, die mit einem GdB von 50 zu bewerten sei. Dies folge aus einer Gesamtschau der ärztlichen Befunde und den beschriebenen Teilhabebeeinträchtigungen der Klägerin, insbesondere aus den Angaben im Gutachten des H. Die Klägerin sei seit 18.09.2018 arbeitsunfähig und es stehe im März 2020 die Aussteuerung aus dem Krankengeldbezug an. Angesichts der inzwischen ausgeschlossenen beruflichen Tätigkeit, einer affektiven Nivellierung und der familiären Probleme im Sinne eines Rückzuges seien die Anpassungsschwierigkeiten als mittelgradig zu bewerten.

Gegen das dem Beklagten am 07.01.2020 zugestellte Urteil hat dieser am 21.01.2020 Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt und zu deren Begründung auf die versorgungsärztliche Stellungnahme des W1 vom 15.01.2020 verwiesen. Danach werde der analog zu den psychischen Funktionseinschränkungen anzuwendenden Einstufung des Fibromyalgie-Syndroms zwar zugestimmt, aus den von H erhobenen Befunden ließen sich jedoch keine derart gravierenden Auswirkungen ableiten, die vergleichsweise einer schweren Störung gemäß den VG, Teil B, Nr. 3.7 zugeordnet werden könnten. Gegen eine derart schwere Schmerzstörung spreche auch die Tatsache, dass nach dem Medikamentenplan als Schmerzmittel allenfalls Novaminsulfon eingenommen würden. Bei einem einen GdB von 50 bedingenden Schmerzsyndrom wäre dies mit Sicherheit nicht mehr ausreichend, sondern wäre eine Medikation mit einem Opioid erforderlich.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 12.12.2019 abzuändern und die Klage, soweit sie über das Teilanerkenntnis vom 12.12.2019 hinausgeht, abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 12.12.2019 zurückzuweisen.

Sie hat zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung des SG verwiesen und geltend gemacht, ihr sei kein anderes Schmerzmittel durch den behandelnden Arzt nicht zur Verfügung gestellt worden, was jedoch nicht zu ihren Lasten gehen könne.

Der Senat hat erneut S sowie B1 und den B2 als sachverständige Zeugen schriftlich vernommen.

S hat unter dem 28.04.2020 auf das bekannte chronische Schmerzsyndrom mit degenerativem HWS- und BWS-Syndrom verwiesen und ausgeführt, dass es wegen der anhaltenden Schmerzen zu einer leicht- bis mittelgradigen depressiven Episode gekommen sei.

B1 hat über die am 03.01.2019 und 14.02.2019 durchgeführten Untersuchungen berichtet. Die Untersuchung am 03.01.2019 sei mit Blick auf Zeichen am Sulcus Ulnaris erfolgt. Am 14.02.2019 sei die Wirbelsäule ohne Druckschmerz befundet worden.

Der B2 hat am 04.05.2020 ausgeführt, es bestehe ein Sulcus-Ulnaris-Syndrom beidseits bei unauffälligem MRT der BWS; dies stelle allenfalls eine geringfügige Behinderung dar.

Zu den Akten ist ferner der Reha-Entlassbericht der Fklinik vom 24.07.2019 gelangt. Folgende Diagnosen wurden gestellt: Rezidivierende Cervicobrachialgien, Spondylosis deformans C6/7, rezidivierendes BWS-Syndrom, chronisches Schmerzsyndrom vom Fibromyalgie-Typ, chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren. Eine vollschichtige Tätigkeit über sechs Stunden auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sei zumutbar.

In dem am 05.05.2021 durchgeführten Erörterungstermin haben sich die Beteiligten mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie die Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die Berufung des Beklagten, über die der Senat aufgrund des Einverständnisses der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entscheiden kann, ist nach §§ 143, 144 SGG statthaft und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) erhoben. Sie ist auch begründet.

Mit der Annahme des Teilanerkenntnisses des Beklagten vom 12.12.2019 durch die Klägerin hat sich der Rechtsstreit insoweit erledigt, als der GdB 40 für die Zeit ab 05.02.2018 beträgt (§ 101 Abs. 2 SGG). Streitgegenstand ist somit ein GdB von 50 für die Zeit ab 24.04.2019.

Das SG hat den Beklagten zu Unrecht verurteilt, den GdB mit 50 ab 24.04.2019 festzustellen. Die angegriffenen Bescheide des Beklagten in Gestalt des am 12.12.2020 angenommenen Teilanerkenntnisses sind nicht zu beanstanden.

Rechtsgrundlage für die von der Klägerin begehrte Neufeststellung des GdB ist in verfahrensrechtlicher Hinsicht § 48 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Wesentlich ist eine Änderung dann, wenn sich der GdB um wenigstens 10 erhöht oder vermindert. Im Falle einer solchen Änderung ist der Verwaltungsakt aufzuheben und durch eine zutreffende Bewertung zu ersetzen (vgl. BSG, Urteil vom 22.10.1986, 9a RVs 55/85, juris m.w.N.). Die den einzelnen Behinderungen welche ihrerseits nicht zum so genannten Verfügungssatz des Bescheides gehören zugrunde gelegten GdB-Sätze erwachsen nicht in Bindungswirkung (BSG, Urteil vom 29.04.2010, B 9 SB 2/09 R; Urteil vom 10.09.1997, 9 RVs 15/96, beide in juris). Hierbei handelt es sich nämlich nur um Bewertungsfaktoren, die wie der hierfür (ausdrücklich) angesetzte Einzel- oder Teil-GdB nicht der Bindungswirkung des § 77 SGG unterliegen. Ob eine wesentliche Änderung eingetreten ist, muss damit durch einen Vergleich des gegenwärtigen Zustands mit dem bindend festgestellten früheren Behinderungszustand ermittelt werden.

Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB ist § 2 Abs. 1 in Verbindung mit § 152 Abs. 1 und 3 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX).

Menschen mit Behinderungen sind nach § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Nach § 2 Abs. 1 Satz 2 SGB IX liegt eine Beeinträchtigung in diesem Sinne vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Aus dieser Definition folgt, dass für die Feststellung einer Behinderung sowie die Einschätzung ihres Schweregrades nicht das Vorliegen eines regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustandes entscheidend ist, sondern es vielmehr auf die Funktionsstörungen ankommt, die durch einen regelwidrigen Zustand verursacht werden. Nach § 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung fest. Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden nach § 152 Abs. 1 Satz 5 SGB IX als GdB nach Zehnergraden abgestuft festgestellt. Gemäß § 152 Abs. 1 Satz 6 SGB IX ist eine Feststellung nur zu treffen, wenn ein GdB von wenigstens 20 vorliegt.

Nach § 153 Abs. 2 SGB IX wird das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die Bewertung des GdB, die Kriterien für die Bewertung der Hilflosigkeit und die Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Zwar ist von dieser Ermächtigung noch kein Gebrauch gemacht worden. Indes bestimmt § 241 Abs. 5 SGB IX, dass – soweit noch keine Verordnung nach § 153 Absatz 2 erlassen ist – die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der auf Grund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnungen entsprechend gelten. Mithin ist für die konkrete Bewertung von Funktionsbeeinträchtigungen die ab 01.01.2009 an die Stelle der „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz“ (AHP) getretene Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ (VG) zu § 2 Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (VersMedV) vom 10.12.2008 (BGBl. I S. 2412), die durch die Verordnungen vom 01.03.2010 (BGBl. I S. 249), 14.07.2010 (BGBl. I S. 928), 17.12.2010 (BGBl. I S. 2124), 28.10.2011 (BGBl. I S. 2153) und 11.10.2012 (BGBl. I S. 2122) sowie das Gesetz vom 23.12.2016 (BGBl. I S. 3234) geändert worden ist, heranzuziehen. In den VG sind unter anderem die Grundsätze für die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen (GdS) im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG festgelegt worden. Diese sind nach den VG, Teil A, Nr. 2 auch für die Feststellung des GdB maßgebend. Die VG stellen ihrem Inhalt nach antizipierte Sachverständigengutachten dar. Dabei beruht das für die Auswirkungen von Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe an der Gesellschaft relevante Maß nicht allein auf der Anwendung medizinischen Wissens. Vielmehr ist die Bewertung des GdB auch unter Beachtung der rechtlichen Vorgaben sowie unter Heranziehung des Sachverstandes anderer Wissenszweige zu entwickeln (BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 SB 3/12 R, juris).

Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der GdB nach § 152 Abs. 3 Satz 1 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Zur Feststellung des GdB werden in einem ersten Schritt die einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen (von der Norm abweichenden) Zuständen nach § 2 Abs. 1 SGB IX und die sich daraus ableitenden, für eine Teilhabebeeinträchtigung bedeutsamen Umstände festgestellt. In einem zweiten Schritt sind diese dann den in den VG genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. In einem dritten Schritt ist dann in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen der Gesamt-GdB zu bilden. Dabei können die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen (sich decken), sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinander stehen (BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 SB 3/12 R, juris). Nach den VG, Teil A Nr. 3 Buchst. c ist bei der Bildung des Gesamt-GdB in der Regel von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB auszugehen und sodann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob der Ausgangswert also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen um 10, 20 oder mehr Punkte zu erhöhen ist, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Insoweit führen nach den VG, Teil A Nr. 3 Buchst. d, von Ausnahmefällen abgesehen, zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, die bei der Gesamtbeurteilung berücksichtigt werden könnte, auch dann nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es danach vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Außerdem sind nach den VG, Teil A Nr. 3 Buchst. b bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in der GdB-Tabelle der VG feste Grade angegeben sind.

Die Bemessung des GdB ist grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe. Dabei hat insbesondere die Feststellung der nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens zu erfolgen. Darüber hinaus sind vom Tatsachengericht die rechtlichen Vorgaben zu beachten. Rechtlicher Ausgangspunkt sind stets § 2 Abs. 1 in Verbindung mit § 152 Abs. 1 und 3 Satz 1 SGB IX; danach sind insbesondere die Auswirkungen nicht nur vorübergehender Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft maßgebend (BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 SB 3/12 R, juris).

Hiervon ausgehend hat die Klägerin keinen Anspruch auf Feststellung eines GdB von 50 für die Zeit ab 24.04.2019.

Bei der Klägerin besteht eine chronische Schmerzstörung vom Fibromyalgie-Typ; diese Diagnose wird übereinstimmend von H, der Versorgungsärztin H2 und im Reha-Entlassbericht der F-Klinik vom 24.07.2019 gestellt. Zutreffend hat das SG darauf hingewiesen, dass sich die Beurteilung eines Fibromyalgie-Syndroms nach den VG, Teil B, Nr. 18.4 richtet. Danach ist die Fibromyalgie jeweils im Einzelfall entsprechend den funktionellen Auswirkungen analog zu beurteilen. Da das Beschwerdebild der Klägerin ganz maßgeblich durch eine chronifizierte Störung der Schmerzverarbeitung mit vegetativen Symptomen, Leistungseinbußen und Körperfunktionsstörungen ohne (primär) organisches Korrelat geprägt wird, bedeutet dies, dass als Vergleichsmaßstab hier am ehesten die in den VG, Teil B, Nr. 3.7 unter der Überschrift „Neurosen, Persönlichkeitsstörungen, Folgen psychischer Traumen“ aufgeführten psychovegetativen oder psychischen Störungen mit Einschränkungen der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit und eventuellen sozialen Anpassungsschwierigkeiten in Betracht kommen.

Danach sind leichtere psychovegetative oder psychische Störungen mit einem Einzel-GdB von 0 bis 20, stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z.B. ausgeprägtere depressive Störungen) mit einem Einzel-GdB von 30 bis 40, schwere Störungen (z.B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten mit einem Einzel-GdB von 50 bis 70 und mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten mit einem Einzel-GdB von 80 bis 100 zu bewerten.

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist der GdB für die bei der Klägerin vorhandene Schmerzstörung mit einem GdB von 40 zutreffend bemessen. Es liegt eine wesentliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit in Form von psychischen Anpassungsschwierigkeiten, namentlich einer Kontaktschwäche und einer Vitalitätseinbuße vor. So gelingen der Klägerin hauswirtschaftliche Tätigkeiten (Kochen, Spülen, Aufräumen, Putzen) nur noch mit größerem Zeit- und Kraftaufwand bzw. mit Unterstützung durch Familienmitglieder; auch das soziale Leben ist eingeschränkt und spielt sich ganz überwiegend in der Familie ab. Ihre berufliche Tätigkeit als Näherin ist ihr – worauf der Entlassbericht der F-Klinik hinweist – nicht mehr möglich. Angesichts dieser Einschränkungen ist die Ausschöpfung des für stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit vorgesehenen Bewertungsrahmens von 40 sachgerecht. Dagegen liegen mittelgradige soziale Anpassungsschwierigkeiten, die einen Einzel-GdB von mindestens 50 rechtfertigen, entgegen der Ansicht von H nicht vor. Mittelgradige soziale Anpassungsschwierigkeiten sind erst anzunehmen, wenn neben einer in den meisten Berufen sich auswirkenden psychischen Veränderung, die auch eine berufliche Gefährdung einschließt, erhebliche familiäre Probleme durch Kontaktverluste und affektive Nivellierung vorliegen (Sachverständigenbeirat im Beiratsprotokoll vom 18./19.03.1998, vergleiche Wendler/Schillings, Schwerbehindertenrecht, VdK-Kommentar, 7. Aufl., zu VG Nr. 3.6, S. 143 und 144, Nr. 3.7, S. 149). H hat zwar eine gedrückte Stimmung sowie eine verhaltene Mimik, Gestik sowie allgemeine Körpersprache beschrieben. Gleichzeitig hat er ausgeführt, dass die Klägerin adäquat auslenkbar ist und es nicht zu affektiven Durchbrüchen kommt. Ferner ist dem Reha-Bericht der Fklinik zu entnehmen, dass der Klägerin ihre zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Näherin nicht mehr zumutbar ist, jedoch eine vollschichtige berufliche Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt weiterhin möglich ist. Dies wird auch durch den Umstand bestätigt, dass die Klägerin seit 07.03.2020 Arbeitslosengeld für die Dauer von 720 Kalendertagen bezieht und sich somit auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zur Verfügung gestellt hat. Die sog. 58er-Regelung in § 428 Abs. 1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch, wonach Versicherte, die das 58. Lebensjahr vollendet haben, unter erleichterten Bedingungen Arbeitslosengeld beziehen konnten, ist zum Jahreswechsel 2007/2008 ausgelaufen und gilt nur noch für Personen, die vor dem 01.01.2008 das 58. Lebensjahr vollendet haben, wozu die Klägerin jedoch nicht gehört (hierzu ausführlich Krämer in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB III, 2. Aufl., § 428 Rn. 13). Soweit H auf kognitive Einschränkungen verweist, beruht dies ausschließlich auf den Angaben der Klägerin, die über ein nachlassendes Konzentrationsvermögen geklagt hat. Der Sachverständige hat in seinem Gutachten hierzu keine eigenen Beobachtungen beschrieben, die die anamnestischen Angaben der Klägerin bestätigen könnten. Ferner sind erhebliche familiäre Probleme durch Kontaktverlust und affektive Nivellierung nicht festzustellen. Nach den eigenen Angaben der Klägerin hat sie einen guten Kontakt zu ihren beiden Kindern, wobei ein Sohn im gleichen Haus wohnt. Auch pflegt sie den Umgang mit ihren beiden Enkelkindern, wenngleich ihr dies aufgrund der Umtriebigkeit vor allem des größeren Kindes manchmal zu viel wird.

Soweit S auf eine durch die anhaltenden Schmerzen bedingte leicht- bis mittelgradige depressive Episode hingewiesen hat, rechtfertigt dies keine Erhöhung des Einzel-GdB von 40. Zum einen richtet sich die Bewertung der chronischen Schmerzstörung vom Fibromyalgie-Typ gemäß den VG, Teil B, Nr. 3.7 nach dem Ausmaß der Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit und somit nach den gleichen Kriterien wie depressive Syndrome. Zum anderen weisen beide Erkrankungen ganz erhebliche Schnittmengen auf.

Den übrigen hinsichtlich der Beeinträchtigung des Bewegungssystems gestellten Diagnosen, insbesondere im Bereich der Wirbelsäule, kommt keine eigenständige Bedeutung zu, worauf H2 und auch H zutreffend hinweisen, zumal wesentliche Funktionseinbußen von Seiten der Wirbelsäule und der Gelenke in keinem ärztlichen Bericht dokumentiert sind, vielmehr eine freie Beweglichkeit der Wirbelsäule ohne Druckschmerz, eine freie Beweglichkeit der Knie, der Hüftgelenke und der Schultern zu entnehmen ist.

Bei dem im Mai 2020 festgestellten Sulcus-Ulnaris-Syndrom beidseits handelt es sich, so B2, allenfalls um eine geringfügige, nicht GdB-relevante Behinderung.

Der Einzel-GdB von 40 für die Schmerzstörung bildet zugleich den Gesamt-GdB.

Die Berufung der Beklagten war deshalb erfolgreich.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt das Teilanerkenntnis des
Beklagten. Da die Klägerin im Berufungsverfahren vollständig unterliegt und insbesondere die von ihr angestrebte Schwerbehinderung nicht erreicht, war die Kostenquote zu ihren Lasten abzuändern, da eine einheitliche Kostenentscheidung für beide Instanzen zu treffen war.

Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht vorhanden.

Rechtskraft
Aus
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