S 16 KR 1460/22

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Freiburg (BWB)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
16.
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 16 KR 1460/22
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

1. Der Bescheid vom 09.12.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.05.2022 wird abgeändert und die Beklagte verurteilt, die für die Erteilung der Befreiung zu leistende Zuzahlung für das Jahr 2022 auf 53,88 Euro festzusetzen.

2. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu tragen.

3. Die Berufung wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Höhe der für das Jahr 2022 zu leistenden Zuzahlungen.

Die 1927 geborene Klägerin ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Sie steht unter rechtlicher Betreuung u.a. für Behördenangelegenheiten und ist bei festgestelltem Pflegegrad in einem Heim untergebracht.

Sie bezieht neben ihrer Altersrente und einer Witwenrente und nach Abzug der Leistungen der Pflegekasse Leistungen nach dem 7. Kapitel (Hilfe zur Pflege) des Sozialgesetzbucsh Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII).

Die Klägerin beantragte am 29.10.2021 auch für das Kalenderjahr 2022 die Befreiung von den Zuzahlungen und hier um die Mitteilung der Belastungsgrenze, um den Betrag vorab zahlen zu können.

Mit Bescheid vom 09.12.2021 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass die Belastungsgrenze 1% der jährlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt betrage, hier 171,91 Euro.

Die gewährten Leistungen nach dem 7. Kapitel des SGB XII seien keine solchen Bruttoeinnahmen. Die Berechnung der Belastungsgrenze dürfe daher nicht nach dem (geringeren) Regelbedarf für die Sozialhilfe erfolgen. Dies sei seit 2015 aber fälschlicherweise erfolgt.

Die Klägerin legte hiergegen, vertreten durch ihren Bevollmächtigten, Widerspruch ein und beantragte, die Zuzahlung auf 53,88 Euro zu beschränken. Nach § 62 Abs. 2 Satz 5 Nr. 2 SGB V sei bei Versicherten, bei denen die Kosten der Unterbringung in einem Heim oder einer ähnlichen Einrichtung von einem Träger der Sozialhilfe oder der Kriegsopferfürsorge getragen würden, als Bruttoeinnahmen nur der Regelsatz für die Regelbedarfsstufe 1 nach der Anlage zu § 28 des Zwölften Buches maßgeblich. Die Klägerin erhalte von der Stadt F. Hilfe zur Pflege in einer stationären Einrichtung. Aus der Jahressumme des Regelbedarfes von 449 Euro monatlich und der 1 Prozent - Regelung errechne sich die Zuzahlung von 53,88 Euro.

Mit Widerspruchsbescheid vom 09.05.2022 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Sie erläuterte darin die Berechnung des Betrages von 171,91 Euro ausgehend von den Renteneinkünften der Klägerin. Diese beziehe ausschließlich Leistungen nach dem 7. Kapitel des SGB XII. Die Belastungsgrenze werde für diese Leistungsbezieher nur dann nach dem Regelbedarf berechnet, wenn auch Leistungen nach dem 3. Kapitel (Hilfe zum Lebensunterhalt) oder nach dem 4. Kapitel (Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung) bezogen würden. Verfüge der Betreffende aber über Einkommen, das den Anspruch hierauf ausschließe, berechne sich die Belastungsgrenze nach den bezogenen Einkünften. Der Barbetrag nach § 27b SGB XII werde von der Klägerin nicht als solcher bezogen, sondern nur bei der Bedarfsberechnung herangezogen. Die Leistungen der Hilfe zur Pflege seien wiederum von der Berücksichtigung als Bruttoeinnahmen ausgeschlossen, so dass auch die Unterbringung im Heim nichts an der Berechnung ändere.

Die Klägerin hat, vertreten durch ihren Bevollmächtigten, am 13.05.2022 Klage zum Sozialgericht Freiburg erhoben. Nach § 62 Abs. 2 Satz 5 SGB V berechne sich die Belastungsgrenze nicht nur dann, wenn die betroffene Person Grundsicherung oder Hilfe zum Lebensunterhalt beziehe (Nr. 1), sondern auch dann, wenn die Kosten der Unterbringung in einem Heim von der Sozialhilfe getragen werden (Nr. 2), nach der Regelbedarfsstufe 1. Letzteres sei bei der Klägerin der Fall. Die beiden Fallgruppen seien nicht kumulativ, sondern alternativ zu verstehen. In den Verfahrensgrundsätzen zu § 62 SGB V, Seite 18 Beispiel 23 a) werde für einen vergleichbaren Fall der (anteiligen) Übernahme der Heimkosten durch das Sozialamt für die Berechnung der Belastungsgrenze ebenfalls auf den Regelsatz nach der Regelbedarfsstufe abgestellt.

Die Klägerin beantragt (teilweise sinngemäß), den Bescheid vom 09.12.2021 in Fassung des Widerspruchsbescheids vom 09.05.2022 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, die Zuzahlung auf 53,88 Euro festzusetzen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie wiederholt und vertieft im Wesentlichen ihr Vorbringen aus dem Widerspruchsbescheid. Sie weist zudem darauf hin, dass die Träger der Sozialhilfe für Leistungsberechtigte nach § 27b Abs. 2 Satz 2 SGB XII die jeweils bis zur Belastungsgrenze zu leistenden Zuzahlungen als ergänzendes Darlehen übernähmen. Die Klägerin sei vom Sozialhilfeträger aber nicht als Leistungsberechtigte nach dieser Vorschrift gemeldet worden.

Hinsichtlich des weiteren Sachverhalts und Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Kammer entscheidet hier im Einverständnis der Beteiligten nach § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung.

Die Klage ist bei Auslegung des Klageantrages anhand des erkennbaren Klagebegehrens als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (vgl. - zur Erteilung der Befreiungsbescheinigung - BSG Urteil vom 22.04.2008 - B 1 KR 10/07 R, - juris Rn. 11; KassKomm/Schifferdecker, 118. EL März 2022, SGB V § 62 Rn. 63) nach §§ 5456 SGG zulässig. Die Anfechtungsklage richtet sich gegen den Bescheid vom 09.12.2021, mit dem die Beklagte die erforderliche Zuzahlung auf 171,91 Euro festgesetzt hat. Bei dieser Regelung handelte es sich bereits um eine verbindliche Regelung der Zuzahlung mit Außenwirkung und damit um einen Verwaltungsakt i.S.d. § 31 Satz 1 SGB X, was zuletzt durch den Widerspruchsbescheid vom 09.05.2022 klargestellt wurde (§ 95 SGG).

Die Klage ist auch begründet, da die Klägerin Anspruch auf Erteilung der in Aussicht gestellten Bescheinigung über die Befreiung von den Zuzahlungen bereits bei Zahlung eines Betrages von 53,88 Euro hat. Insoweit ist der angefochtene Bescheid vom 03.03.2021 abzuändern. Denn die Belastungsgrenze bestimmt sich hier nach dem Regelbedarf nach der Regelbedarfsstufe 1 nach der Anlage zu § 28 SGB XII und nicht nach der Altersrente der Klägerin.

Nach § 62 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte während jedes Kalenderjahres nur Zuzahlungen bis zur Belastungsgrenze zu leisten; wird die Belastungsgrenze bereits innerhalb eines Kalenderjahres erreicht, hat die Krankenkasse eine Bescheinigung darüber zu erteilen, dass für den Rest des Kalenderjahres keine Zuzahlungen mehr zu leisten sind. Die Krankenkasse stellt dem Versicherten eine Bescheinigung über die Befreiung nach Absatz 1 aus (§ 62 Abs. 3 Satz 1 SGB V). Versicherte können die bis zum Erreichen der Belastungsgrenze erforderliche Summe auch - wie von der Klägerin gewollt - an die Krankenkasse vorauszahlen und sodann eine Befreiungsbescheinigung erhalten (KassKomm/Schifferdecker, 118. EL März 2022, SGB V § 62 Rn. 60; Albers in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl., § 62 SGB V (Stand: 15.06.2020), Rn. 61).

Die Belastungsgrenze beträgt nach § 62 Abs. 1 Satz 2 SGB V 2 vom Hundert der jährlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt; für chronisch Kranke, die wegen derselben schwerwiegenden Krankheit in Dauerbehandlung sind, beträgt sie 1 vom Hundert der jährlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt. Bei Versicherten, (Nr. 1) die Hilfe zum Lebensunterhalt oder Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Zwölften Buch oder die ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Bundesversorgungsgesetz oder nach einem Gesetz, das dieses für anwendbar erklärt, erhalten, (Nr. 2) bei denen die Kosten der Unterbringung in einem Heim oder einer ähnlichen Einrichtung von einem Träger der Sozialhilfe oder der Kriegsopferfürsorge getragen werden sowie für den in § 264 SGB V genannten Personenkreis ist als Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt für die gesamte Bedarfsgemeinschaft nur der Regelsatz für die Regelbedarfsstufe 1 nach der Anlage zu § 28 des Zwölften Buches maßgeblich (§ 62 Abs. 2 Satz 5 SGB V).

Die Belastungsgrenze berechnet sich hier nach 1 v.H. der Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt für das Jahr 2021, da die Klägerin chronisch krank und die wegen derselben schwerwiegenden Krankheit in Dauerbehandlung ist. Dies ergibt sich bereits aus der Pflegebedürftigkeit mit dem festgestellten Pflegegrad 4 (vgl. § 2 Abs. 2 Buchst. a), § 3 Abs. 1 der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses zur Umsetzung der Regelungen in § 62 für schwerwiegend chronisch Erkrankte - „Chroniker-Richtlinie“ sowie den von der Pflegekasse bei Pflegegrad 4 gewährten Betrag von 1.775 Euro, § 43 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 SGB XI). Hierüber besteht auch kein Streit.

Daneben bemessen sich die Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt nach dem Regelbedarf. Die Klägerin ist zwar nicht von § 62 Abs. 2 Satz 5 Nr. 1 SGB V erfasst, da dies voraussetzen würde, dass sie die dort genannte Hilfe zum Lebensunterhalt oder Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII - unabhängig davon, ob ein Anspruch hierauf besteht - tatsächlich erhält (vgl. zu § 61 Abs. 2 Nr. 2 SGB V a.F. BSG, Urteil vom 03.03.1994 - 1 RK 33/93). Dies ist jedoch nicht der Fall, da ihr lediglich Hilfe zur Pflege gewährt wird. Auch eine Bewilligung des Barbetrages nach § 27b SGB XII als Teil der Hilfe zum Lebensunterhalt bzw. der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (vgl. zur Anwendung auch dort: Busse in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 27b SGB XII (Stand: 13.07.2022), Rn. 22) ist nicht erfolgt. Dem Bescheid der Stadt F. vom 11.01.2021 lässt sich zwar im Betreff auch das 3. Kapitel des SGB XII entnehmen. Die dort beigefügte Berechnung weist aber nach der Einkommensanrechnung lediglich eine Bewilligung von Hilfe zur Pflege nach dem 7. Kapitel des SGB XII aus (Bl. 7 der Gerichtsakte).

Die Klägerin unterfällt aber der Regelung des § 62 Abs. 2 Satz 5 Nr. 2 SGB V, da sie tatsächlich (vgl. BSG, Urteil vom 03.03.1994 - a.a.O.) in einem Heim untergebracht ist und die Kosten der Unterbringung (auch) von einem Träger der Sozialhilfe getragen werden. Denn ausgehend von der Berechnung der Stadt F. übersteigen die Pflegekosten den von der Pflegeversicherung pauschal geleisteten Betrag von 1.775 Euro für Pflegebedürftige des Pflegegrades 4 für die pflegebedingten Aufwendungen einschließlich der Aufwendungen für Betreuung (§ 42 Abs. 2 Satz 1, Satz 2 Nr. 4 Sozialgesetzbuch Elftes Buch - Soziale Pflegeversicherung - SGB XI). Damit bezieht sich die von der Stadt F. nach Anrechnung der Renteneinkommen geleistete Hilfe zur Pflege daneben auch auf die ebenfalls ungedeckten Kosten der Unterbringung in dem Heim. Insoweit wäre es ausreichend, dass lediglich ein Teil dieser Kosten von dem Sozialhilfeträger getragen wird (vgl. BSG, Urteil vom 03.03.1994 - a.a.O. Rn. 20). Die Auffassung der Beklagten, die auch für § 62 Abs. 2 Satz 5 Nr. 2 SGB V den Bezug von Leistungen nach dem 3. oder 4. Kapitel des SGB XII voraussetzt, vermag nicht zu überzeugen, da diese Personen bereits von Nr. 1 dieser Vorschrift erfasst wären und es für Nr. 2 daher an einem eigenständigen Anwendungsbereich fehlen würde. Zudem hat die Klägerin im Ergebnis nur den Barbetrag zur Verfügung, so dass sich ihre Situation wirtschaftlich nicht von derjenigen eines - auch nach Auffassung der Beklagten von § 62 Abs. 2 Satz 5 SGB V erfassten - Beziehers von Hilfe zum Lebensunterhalt in einem Heim unterscheidet (in der Konsequenz offen gelassen von BSG, Urteil vom 03.03.1994 - a.a.O.).

Bei dem Regelbedarf von aktuell 449 Euro in der Regelbedarfsstufe 1 nach § 2 der Verordnung zur Bestimmung des für die Fortschreibung der Regelbedarfsstufen nach § 28a und des Teilbetrags nach § 34 Absatz 3a Satz 1 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch maßgeblichen Prozentsatzes sowie zur Ergänzung der Anlagen zu §§ 28 und 34 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch für das Jahr 2022 - Regelbedarfsstufen-Fortschreibungsverordnung 2022 i.V.m. der Anlage zu § 28 SGB XII ergibt sich ein Jahresbetrag von 5.388 Euro und mithin eine Belastungsgrenze von 1 Prozent in Höhe von 53,88 Euro.

Nach alledem war zu entscheiden wie tenoriert.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG und folgt dem Ergebnis des Rechtsstreits.

Die Berufung ist hier nicht bereits kraft Gesetzes statthaft, weil der Wert des Beschwerdegegenstandes für die Beklagte den Betrag von 750 Euro nicht übersteigt (§ 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Denn die Beklagte hat die Befreiung für das Jahr 2022 nach dem Urteil schon bei einer Zahlung von 53,88 Euro anstelle von 171,91 Euro zu erteilen. Die Erteilung der Befreiung selbst oder weitere (fortlaufende) Zeiträume sind nicht Gegenstand der Klage. Gründe für die Zulassung der Berufung (§ 144 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 SGG) sind nicht dargelegt und sind auch nicht anderweitig ersichtlich.

Rechtskraft
Aus
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