S 17 U 2450/21

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Freiburg (BWB)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
17
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 17 U 2450/21
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Gerichtsbescheid

Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

Im Verfahren geht es um die Anerkennung und Entschädigung einer Erkrankung der Lendenwirbelsäule als Berufskrankheit nach Nr. 2108 der Anl. 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) im Zugunstenverfahren.

Der 1949 geborene Kläger war von 1969 bis 1981 als Arbeiter im Brennstoffhandel beschäftigt. Mit Schreiben vom 29.6.2000 beantragte er bei der Großhandelsund Lagereiberufsgenossenschaft, Rechtsvorgängerin der Beklagten, die Anerkennung und Entschädigung seiner Wirbelsäulenbeschwerden als Berufskrankheit. Zur Begründung gab er an, insbesondere beim Transport von Steinkohle in Säcken langjährig schwer gehoben und getragen zu haben. 1981 habe er die Arbeit bedingt durch Wirbelsäulenbeschwerden aufgegeben. Auf Kosten des Rentenversicherungsträgers habe er im Anschluss eine Umschulung zum Güteprüfer absolviert.

Mit Bescheid vom 24.07.2001 lehnte der Unfallversicherungsträger den Antrag ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Ablehnung der Anerkennung einer Berufskrankheit Nr. 2108 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung (bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule durch langjähriges schweres Heben oder Tragen mit Unterlassungszwang) aus Rechtsgründen erfolge. Selbst wenn man unterstelle, dass die bis 1981 ausgeübte Tätigkeit für die Wirbelsäule gefährdend gewesen wäre, käme eine Anerkennung nicht in Betracht, weil der Tag des Versicherungsfalles nach der Rückwirkungsvorschrift der 1.4.1988 oder ein späterer Zeitpunkt gewesen sein müsse (§ 6 Abs. 2 BKV). Der Tag des Versicherungsfalls ergebe sich aus dem Ende der gefährdenden Tätigkeit. Bei Tätigkeitsaufgabe 1981 liege der Versicherungsfall jedenfalls vor dem 1.4.1988. Bei vor diesem Zeitpunkt eingetretenen Versicherungsfällen sehe das Gesetz eine Anerkennung und Entschädigung nicht vor. Das Widerspruchsverfahren war erfolglos (ablehnender Widerspruchsbescheid vom 28.1.2002). Die Entscheidung ist bestandskräftig.

Mit Schreiben vom 03.05.2016 beantragte der Kläger die Überprüfung der ablehnenden Entscheidung. Mit Bescheid vom 7.6.2016 lehnte die Beklagte die Zurücknahme des Bescheids vom 24.07.2001 bzw. die Anerkennung einer Berufskrankheit Nr. 2108 ab. Als Begründung war angegeben, dass das Recht zutreffend angewandt worden sei. Der Kläger erhob Widerspruch und nach erfolglos durchgeführtem Widerspruchsverfahren (ablehnender Widerspruchsbescheid vom 19.10.2016) Klage zum Sozialgericht Freiburg (S 9 U 4591/16).

Das sozialgerichtliche Klageverfahren war erfolglos. Der klagabweisende Gerichtsbescheid datiert vom 15.03.2018. Die hiergegen zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg erhobene Berufung wurde mit Urteil vom 22.02.2019 zurückgewiesen (L 12 U 1248 / 18).

Mit Schreiben vom 24.10.2019 beantragte der Kläger Akteneinsicht in die Verwaltungsakten der Beklagten. Diese übersandte mit Schreiben vom 29.10.2019 einen Ausdruck der elektronisch geführten Akte zur Einsicht. Hinsichtlich des ursprünglichen Feststellungsverfahrens 2000 habe lediglich eine Restakte aufgefunden werden können, da nach Ablauf der Aufbewahrungsfristen ein Teil der Unterlagen bereits vernichtet worden sei. Diese Restakte sei in die elektronische Akte integriert.

Mit Schreiben vom 01.04.2021 beantragte der Kläger erneut die Überprüfung der ursprünglich ablehnenden Entscheidung. Mit Bescheid vom 11.05.2021 lehnte die Beklagte die Zurücknahme des Bescheids vom 24.07.2001 bzw. die Anerkennung einer Berufskrankheit Nr. 2108 ab. Als Begründung war angegeben, dass das Recht zutreffend angewandt worden sei. Die Anerkennung der fraglichen Berufskrankheit sei weiterhin aus rechtlichen Gründen nicht möglich.

Das Widerspruchsverfahren war erfolglos. Nach Erteilung des ablehnenden Widerspruchsbescheids vom 01.07.2021 (eingegangen am 07.07.2021) erhob der Kläger am 09.08.2021 Klage zum Sozialgericht. Der Kläger macht geltend, die Beklagte führe nach seinen Erkenntnissen keine wahrheitsgetreue und vollständige Verwaltungsakte. Dies ergebe sich aus der unterschiedlichen Paginierung der ihm im Laufe des Verfahrens zugänglich gemachten Ausdrucke der elektronischen Akte. Dies dokumentiere, dass dem Gericht verfahrensrelevante Dokumente vorenthalten würden. Seine, des Klägers, Beanstandungen gälten daher gemäß § 444 ZPO als bewiesen und das Gericht müsse den Beanstandungen folgen und der Klage stattgegeben.

Der Kläger beantragt (sinngemäß)

unter Aufhebung des Bescheids vom 11.05.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 01.07.2021 die Beklagte zu verurteilen, den Bescheid vom 24.07.2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.01.2002 zurückzunehmen und eine Berufskrankheit nach Nr. 2108 der Anl. 1 zur BKV anzuerkennen und zu entschädigen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat die Beteiligten zur beabsichtigten Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört. Einwendungen wurden nicht erhoben. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Verwaltungsakte Bezug genommen.

Gründe

Das Gericht konnte durch Gerichtsbescheid entscheiden, denn die Angelegenheit weist keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art auf und der Sachverhalt ist geklärt (§ 105 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG).

Die form- und fristgemäß erhobene Klage ist sachlich nicht begründet. Zwar sind ausdrückliche Klageanträge nicht gestellt. Aus den eingereichten Schriftsätzen, insbesondere der Klageschrift vom 09.08.2021, insbesondere dem dort angegebenen Betreff nebst beigefügtem Widerspruchsbescheid wird aber hinreichend deutlich, dass der Kläger beantragt, unter Aufhebung des Bescheids vom 11.05.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 01.07.2021 die Beklagte zu verurteilen, den Bescheid vom 24.07.2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.01.2002 zurückzunehmen und eine Berufskrankheit nach Nr. 2108 der Anl. 1 zur BKV anzuerkennen und zu entschädigen, und dass die Beklagte dieser Klage entgegentritt.

Der Kläger hat indessen keinen Anspruch auf Zurücknahme des Bescheids vom 28.01.2002 und Anerkennung und Entschädigung der geltend gemachten Berufskrankheit, denn die gesetzlichen Voraussetzungen sind nicht erfüllt.

Gem. § 44 Abs. 1 S. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass des Verwaltungsakts das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Diese Voraussetzungen sind im Hinblick auf den Bescheid vom 24.07.2021 nicht erfüllt.

Hierzu hat zuletzt das LSG Baden-Württemberg in Sachen des Klägers im Urteil vom 22.02.2019 (L 12 U 1248 / 18) folgendes ausgeführt:

„Auch der Senat kann offenlassen, ob die (weiteren) Voraussetzungen für die Feststellung des Wirbelsäulenleidens des Klägers als Berufskrankheit nach Nummer 02.01.2008 der Anl. 1 zur BKV vorliegen, denn der begehrten Feststellung einer BK steht die Stichtagsregelung des § 6 Abs. 2 BKV (…) entgegen. Nach dieser Vorschrift ist, wenn ein Versicherter am 01.01.1993 an einer Krankheit gelitten hat, die erst aufgrund der Zweiten Verordnung zur Änderung der BKV vom 18.12.1992 (BGBl. I S.2343) als BK anerkannt werden kann, die Krankheit (nur dann) auf Antrag als BK anzuerkennen, wenn der Versicherungsfall nach dem 31.03.1988 eingetreten ist. Diese Voraussetzung liegt im Fall des Klägers, wie das SG zutreffend entschieden hat, nicht vor. Selbst wenn die medizinischen und arbeitstechnischen Voraussetzungen für die Feststellung einer BK vorliegen würden, wäre der Versicherungsfall hier lange vor dem Stichtag eingetreten.

Wirbelsäulenbelastend war allein die berufliche Tätigkeit, die der Kläger bei der Firma R. ausgeübt und die er am 13.02.1981 aufgegeben hat. Der Kläger hat selbst gegenüber der Beklagten angegeben, die ganz erheblichen Wirbelsäulenbeschwerden, an denen er seit 1977 gelitten habe, seien der Grund für die Aufgabe der Tätigkeit bei der Firma R. gewesen. (…) Gerade wegen dieser Angaben des Klägers selbst steht im Ergebnis auch zur vollen Überzeugung des Senats fest, dass ein Versicherungsfall - die übrigen Anerkennungsvoraussetzungen unterstellt - deutlich vor dem 01.04.1988 eingetreten sein muss. Die Anerkennung einer BK nach Nr. 2108 der Anl. 1 zur BKV ist damit gemäß § 6 Abs. 2 BKV ausgeschlossen.“

Dem ist nichts hinzuzufügen. Zu ergänzen ist lediglich folgendes:

Auch unter Berücksichtigung von § 444 Zivilprozessordnung (ZPO) i. V. m. § 118 Abs. 1 SGG hat die Klage keinen Erfolg. Gemäß § 444 ZPO ist eine Urkunde, die von einer Partei in der Absicht, ihre Benutzung dem Gegner zu entziehen, beseitigt oder zur Benutzung untauglich gemacht, so können die Behauptungen des Gegners über die Beschaffenheit und den Inhalt der Urkunde als bewiesen angesehen werden. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt.

Zum einen ist nicht erkennbar, um welche Urkunden es konkret geht und welchen dem Klageerfolg förderlichen Inhalt diese ggf. haben könnten, und zum anderen kann von einer rechtswidrigen Beseitigung kaum die Rede sein. Ergebnis des Verwaltungsverfahrens 2000 war die bestandskräftige Ablehnung des damaligen Leistungsantrags, sodass Ansprüche hieraus nicht abgeleitet werden konnten. Dies schränkt die Notwendigkeit einer langfristigen Aufbewahrung erheblich ein, sodass gegen die teilweise Vernichtung der Unterlagen nach mehr als einem Jahrzehnt mit Bildung einer Restakte rechtlich wenig einzuwenden ist.

Nach alledem konnte die Klage keinen Erfolg haben und musste abgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

Rechtskraft
Aus
Saved