1. Die entzündliche Hauterkrankung Necrobiosis lipoidica ist nicht „medizinisch nicht erforschbar“ im Sinne eines sog. Seltenheitsfalls nach der BSG-Rechtsprechung.
2. Zum daher fehlenden Anspruch auf Versorgung mit dem Medikament Xeljanz (Wirkstoff Tofacitinib).
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Meiningen vom 11. Juni 2021 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Kostenübernahme für eine Therapie mit Xeljanz® (Wirkstoff: Tofacitinib).
Die 1989 geborene Klägerin leidet seit mehr als 10 Jahren an einer Necrobiosis lipoidica, einer entzündlichen Hauterkrankung, sowie an einem Diabetes mellitus Typ II. Seit 2017 bestehen zusätzlich großflächige Ulzerationen an beiden Unterschenkeln. Es erfolgten seit 2014 mehrfach stationäre Aufenthalte in der Hautklinik des Universitätsklinikums E1 bei Befundverschlechterungen und auch Wundinfektionen. Unter Systemtherapie mit Dapson zeigte sich zunächst eine Befundverbesserung und Wundgrößenreduktion bis auf mehrere Ulzerationen am rechten Unterschenkel von wenigen Quadratzentimetern Fläche sowie einer größenprogredienten, stark fibrinbelegten Ulzeration von etwa handtellergroßer Fläche am linken Unterschenkel. Trotz unterschiedlichster lokaler Wundversorgungen zeigte sich diese Wunde weiter größenprogredient. Zudem litt die Klägerin an ausgeprägten Schmerzen bis zu einem Wert von 8/10 auf der visuellen Schmerzskala. Es bestanden deutliche Einschränkungen der Lebensqualität. Im März 2019 traten neue Herde disseminiert an beiden Fußrücken auf.
Am 4. September 2019 beantragten S1 sowie C1 E2-B1, Ärzte der Hautklinik am Universitätsklinikum E1 bei der Beklagten die Kostenübernahme für einen Therapieversuch mit dem Wirkstoff Tofacitinib. Dieser ist in dem Präparat Xeljanz® enthalten, das zur Behandlung von u.a. mittelschwerer bis schwerer aktiver rheumatoider Arthritis zugelassen ist. Aufgrund der Schwere des Krankheitsverlaufes und der frustranen Therapie hätten sie sich für eine Initiierung eines Therapieversuches mit Januskinase-Inhibitoren entschieden. Über eine Bemusterung habe eine Therapie mit Tofacitinib begonnen werden können. Nach mehrwöchiger Einnahme habe sich aktuell eine zunehmende Besserung des Befundes gezeigt (Wundfläche komplett granulierend mit deutlicher Wundflächenreduktion, Schmerzfreiheit unter vollständigem Verzicht auf Schmerzmitteleinnahme, Zunahme der Lebensqualität). Die Ärzte schätzten ein, dass mit einer vollständigen Abheilung der Wunde aus medizinischer Sicht innerhalb von 3 Monaten zu rechnen sei. Zugelassene Therapiealternativen existierten nicht. Sie beantragten daher für die Klägerin die spezifische Kostenübernahme für eine Medikation mit Tofacitinib 10 mg/Tag über mindestens 3 Monate.
Am 13. September 2019 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass sie zur Beurteilung der Kostenübernahme der Therapie mit dem Wirkstoff Tofacitinib den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) mit der Erstellung eines sozialmedizinischen Gutachtens beauftragt habe. Eine Information erhalte die Klägerin bis spätestens 9. Oktober 2019. Gleichzeitig beauftragte sie den MDK mit einer Begutachtung. M1 kam in seiner sozialmedizinischen Stellungnahme vom 25. September 2019 zu dem Ergebnis, dass bezüglich alternativer Behandlungsmöglichkeiten auf Kompressionsbehandlungen, Hautpflege sowie systemische und lokale Glukokortikoide zu verweisen sei. Die medizinischen Voraussetzungen für eine Leistungsgewährung seien nicht erfüllt. Die Voraussetzungen für einen Off-Label-Use nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) lägen nicht vor. Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der Behandlung einer Necrobiosis lipoidica mit Tofacitinib seien bisher wissenschaftlich nicht hinreichend untersucht, klinische Studien der Phase III nicht veröffentlicht worden. Es sei nicht zu erwarten, dass Tofacitinib aufgrund der vorliegenden Forschungsergebnisse zur Behandlung bei Necrobiosis lipoidica zugelassen werden könne.
Mit Bescheid vom 27. September 2019 lehnte die Beklagte den Antrag im Hinblick auf das Ergebnis der Begutachtung durch den MDK ab. Gegen diesen Bescheid legten die Ärzte S1 und E2-B1 im Namen der Klägerin am 25. Oktober 2019 Widerspruch ein. Zur Begründung führten sie im Wesentlichen aus, dass zur Behandlung der Necrobiosis lipoidica mit JAK-Inhibitoren bislang nur ein Fallbericht in der Literatur vorliege. Die positiven Effekte auf andere granulomatöse Hauterkrankungen seien jedoch vielversprechend. Da bei der Klägerin die Therapie mit Tofacitinib bereits im Rahmen einer Bemusterung habe initiiert werden können, sei der positive Effekt auf ihre Erkrankung eindeutig nachgewiesen. Entsprechendes Bildmaterial habe bereits übersandt werden können. Weitere stationäre Aufenthalte hätten hierdurch vermieden werden können.
Die Beklagte beauftragte am 28. Oktober 2019 erneut den MDK mit einer Begutachtung. F1 kam in ihrer sozialmedizinischen Stellungnahme vom 13. November 2019 wiederum zu dem Ergebnis, dass die Voraussetzungen eines Off-Label-Use nicht erfüllt seien. Es lägen keine belastbaren Phase-III-Studienergebnisse vor, die eine Zulassung des beantragten Medikamentes in naher Zukunft erwarten ließen. Eine seltene, unerforschte Erkrankung liege nicht vor. Außerdem bestünden nicht die Voraussetzungen einer notstandsähnlichen Situation nach dem Nikolaus-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts.
Mit Widerspruchsbescheid vom 17. Januar 2020 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.
Die Klägerin hat am 28. Januar 2020 vor dem Sozialgericht Meiningen Klage erhoben. Sie ist der Auffassung, dass die Beklagte zur Kostenübernahme verpflichtet sei, da die Voraussetzungen für einen Off-Label-Use gegeben seien. Es liege eine sehr seltene Erkrankung vor. Die Klägerin hat außerdem die Patientenunterlagen des Universitätsklinikums E1 nebst Wunddokumentation übersandt. Die Ergebnisse der Behandlung hat E2-B1 in einem wissenschaftlichen Fachjournal publiziert. Wegen der Einzelheiten wird auf Bl. 30ff. der Gerichtsakte Bezug genommen. Die Beklagte hat erneut ein Gutachten des MDK vom 16. Juni 2020 vorgelegt. Zusammenfassend ist dieser zu dem Ergebnis gekommen, dass neben dem fehlenden Nachweis der Wirksamkeit des Arzneimittels in kontrollierten, randomisierten Studien mit ausreichend großen Fallzahlen bei der Versicherten Risikofaktoren vorlägen, die selbst beim Einsatz von Tofacitinib in den zugelassenen Indikationen eine besonders sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung erforderten. Bei der Necrobiosis lipoidica handele es sich nicht um eine singuläre Krankheit, die sich wegen ihrer Seltenheit der systematischen wissenschaftlichen Untersuchung entziehe und für die deshalb keine wissenschaftlichen auf ihre Wirkung überprüften Behandlungsmethoden zur Verfügung stünden. Wegen der Einzelheiten wird auf Bl. 53ff. der Gerichtsakte Bezug genommen. Mit Beweisanordnung vom 5. März 2021 hat das Sozialgericht J1, Oberarzt an der Klinik und Poliklinik für Dermatologie und Allergologie des Universitätsklinikums G1 und M2, mit einer Begutachtung beauftragt. J1 ist in seinem dermatologischen Gutachten vom 31. März 2021 zu dem Ergebnis gekommen, dass der Einsatz von Tofacitinib bei der Erkrankung der Klägerin erfolgversprechend sei und dem Qualitätsgebot entspreche. Es handele sich bei der Klägerin um eine sehr seltene Erkrankung. Mit Urteil vom 11. Juni 2021 hat das Sozialgericht die Beklagte verurteilt, die Behandlung der Klägerin mit dem Medikament Tofacitinib zu bezahlen. Bei seiner Entscheidung hat sich das Sozialgericht auf das Gutachten des J1 gestützt und ist zu der Überzeugung gelangt, dass es sich bei der Erkrankung der Klägerin um einen Seltenheitsfall handele. Bei einem Seltenheitsfall setze der Anspruch auf Versorgung nur voraus, dass die Einhaltung eines Mindestmaßes an Arzneimittel- und Behandlungsqualität gewährleistet sei, in der Weise, dass zuverlässige pharmakologisch-toxische Daten und aussagekräftige Studien die Unbedenklichkeit und Wirksamkeit des Mittels zumindest für andere Krankheiten belegten und eine hinreichende Sicherheit dafür bestehe, dass ein Behandlungserfolg eintreten könne. Dies sei nach Auffassung der Kammer gegeben. Nach den Darlegungen des Sachverständigen bestehe unter der Behandlung mit Tofacitinib die Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf und diese Behandlung entspreche dem Qualitätsgebot des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse.
Gegen das der Beklagten am 27. Oktober 2021 zugestellte Urteil hat diese am 23. November 2021 Berufung eingelegt. Sie ist der Auffassung, dass kein Seltenheitsfall im Sinne der Rechtsprechung des BSG vorliege. Allein die Existenz wissenschaftlicher Studien bestätige, dass die Erkrankung Necrobiosis lipoidica systematisch erforschbar sei. Beigefügt war eine Zusammenfassung zur Datenlage der Therapie der Necrobiosis lipoidica erstellt durch B2, Beratungsapotheker der Beklagten (Bl. 149f. der Gerichtsakte).
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Meiningen vom 11. Juni 2021 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie beruft sich auf das nach ihrer Meinung zutreffende Urteil des Sozialgerichts Meiningen. Auch der Sachverständige J1 habe festgestellt, dass es sich um eine seltene schwerwiegende Erkrankung handele, die ihre Lebensqualität dramatisch einschränke. Das Urteil des Sozialgerichts sei nicht zu beanstanden. Am 12. November 2020 und am 21. November 2021 habe sie sich aufgrund von Privatrezepten zwei Packungen des Medikaments Xeljanz® für umgerechnet 1.266,57 Euro beschafft. Hierfür werde Kostenerstattung beantragt. Die Beklagte habe die Leistung zu Unrecht abgelehnt, sodass ihr ein Erstattungsanspruch zustehe. Darüber hinaus sei die Einnahme des Medikaments aufgrund der bereits dargelegten Art und Weise der Erkrankung auch nicht aufschiebbar gewesen. Im Übrigen begehre sie die Versorgung für die Zukunft.
Weiterhin hat die Beklagte nach Aufforderung durch die Berichterstatterin eine Einschätzung des MDK Thüringen und des Beratungsapothekers zu den Therapieempfehlungen bei einem schwerwiegenden Verlauf der Necrobiosis lipoidica vorgelegt. Danach gibt es derzeit keine neue Therapieempfehlung mit Erfolgsaussicht. Wegen der Einzelheiten wird auf Bl. 168ff. der Gerichtsakte Bezug genommen.
Nach Durchführung eines Erörterungstermins am 18. Juli 2022 wurde ein Befundbericht von E2-B1 nebst Fotodokumentation beigezogen (Bl. 197ff. der Gerichtsakte). Sie hält eine Weiterführung der Behandlung aufgrund des sehr guten Therapieansprechens weiterhin für notwendig. Eine genaue Behandlungsdauer könne aber mangels Erfahrungswerten nicht angegeben werden. Weiter hat die Klägerin die Kassenbelege der Apotheken vom 12. November 2020 und vom 21. November 2021 für die aufgrund von Privatrezepten gekauften Medikamente vorgelegt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die gemäß § 151 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) form- und fristgerecht eingelegte, gemäß § 153 SGG statthafte und auch im Übrigen zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Das Sozialgericht hat der Klage zu Unrecht stattgegeben.
Gegenstand des Verfahrens ist - nach Klarstellung der Beteiligten in der mündlichen Verhandlung am 8. Dezember 2022 - einerseits die Kostenerstattung für bereits aufgewendete Beschaffungen in Höhe von 1.266,57 Euro und andererseits die Versorgung mit dem Medikament Xeljanz® für die Zukunft.
Die Klägerin hat den geltend gemachten Anspruch nicht. Der Bescheid vom 27. September 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Januar 2020, mit dem die Beklagte die Versorgung der Klägerin mit dem Arzneimittel Xeljanz® (Wirkstoff: Tofacitinib) abgelehnt hat, ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.
Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Sachleistungsanspruch nach den §§ 27, 31 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V). Aus diesem Grund scheidet auch ein Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs. 3 Satz 1 2. Alt. SGB V in Höhe von 1.266,57 Euro für die von der Klägerin selbst gekauften Präparate aus. Denn die Beklagte hatte die Leistung nicht zu Unrecht abgelehnt.
Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn diese notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst dabei unter anderem die Versorgung mit Arzneimitteln i. S. d. § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB V. Versicherte können dabei die Versorgung mit einem verschreibungspflichtigen Fertigarzneimittel zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung grundsätzlich nur beanspruchen, wenn eine arzneimittelrechtliche Zulassung für das Indikationsgebiet besteht, in dem es angewendet werden soll. Fertigarzneimittel sind mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit dagegen nicht von der Leistungspflicht der Gesetzlichen Krankenversicherung i. S. d. §§ 27 Abs. 1 Satz 2, 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V umfasst, wenn ihnen die erforderliche arzneimittelrechtliche Zulassung fehlt (BSG, Urteil vom 11. September 2018, B 1 KR 36/17 R, Rn. 12 nach juris).
Ein Leistungsanspruch gemäß §§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3, 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V scheidet aus, da das streitgegenständliche Fertigarzneimittel Xeljanz® seit 2017 u.a. für Patienten mit mittelschwerer bis schwerer rheumatoider Arthritis zugelassen ist. Für die Necrobiosis lipoidica liegt weder in Deutschland noch sonst im Gebiet der Europäischen Union eine Zulassung vor.
Die Klägerin hatte auch keinen Anspruch auf Versorgung im Rahmen eines Off-Label-Use.
Aus § 35c SGB V, der die zulassungsüberschreitende Anwendung von Arzneimitteln aufgrund von Empfehlungen des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) und im Falle von klinischen Studien regelt, kann sich kein Anspruch ergeben. Aber auch nach den vom BSG entwickelten Grundsätzen für einen Off-Label-Use konnte die Klägerin die Versorgung mit Xeljanz® nicht verlangen.
Ausnahmsweise kann unter engen Voraussetzungen die Verordnung eines Arzneimittels auch außerhalb des nach den Bestimmungen des Arzneimittelgesetzes vorgegebenen Zulassungsbereichs erfolgen (BSG, Urteil vom 19. März 2012, B 1 KR 37/00 R). Ein solcher sog. Off-Label-Use kommt nach der Rechtsprechung des BSG nur in Betracht, wenn es
1. um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen) oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden Erkrankung geht,
2. keine andere Therapie verfügbar ist und
3. aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein kurativer oder palliativer Behandlungserfolg erzielt werden kann. Dies kann nur angenommen werden, wenn entweder die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt ist und die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse von gleicher Qualität veröffentlicht sind. Abzustellen ist auf die im jeweiligen Zeitpunkt der Behandlung vorliegenden Erkenntnisse (st.Rspr., vgl. zum Ganzen BSG, Urteil vom 13. Dezember 2016, B 1 KR 10/16 R; BSG, Urteil vom 26. Mai 2020, B 1 KR 9/18 R, Rn. 34 nach juris).
Unstreitig leidet die Klägerin an einer sehr schwerwiegenden Erkrankung, für die es derzeit keine Therapieempfehlung mit Erfolgsaussicht gibt. Es fehlt aber an einer aufgrund der Datenlage begründeten Erfolgsaussicht. Zur Anwendung des Wirkstoffs Tofacitinib bei einer Necrobiosis lipoidica liegen keine entsprechenden Studienergebnisse vor.
Die Anforderungen an die Studienlage können auch nicht aufgrund eines Seltenheitsfalles herabgesetzt werden.
Ein sog. Seltenheitsfall einer Krankheit ist gegeben, wenn diese weltweit nur extrem selten auftritt, sie deshalb im nationalen wie im internationalen Rahmen weder systematisch erforscht noch systematisch behandelt werden kann und bei der somit für den Wirksamkeitsnachweis positive Forschungsergebnisse bzw. einem bestimmten Standard entsprechende wissenschaftliche Fachveröffentlichungen nicht verlangt werden können (vgl. dazu BSG, Urteil vom 28. Februar 2008, B 1 KR 15/07 R, Rn. 28 nach juris). Für die Annahme eines Seltenheitsfalles darf das festgestellte Krankheitsbild aufgrund seiner Singularität medizinisch nicht erforschbar sein (st. Rspr., vgl. z.B. BSG, Urteil vom 19. Oktober 2004, B 1 KR 27/02 R, Rn. 30 - Visudyne; BSG, Urteil vom 3. Juli 2012, B 1 KR 25/11 R, Rn. 19 - Avastin). Allein geringe Patientenzahlen stehen einer wissenschaftlichen Erforschung nicht entgegen, wenn etwa die Ähnlichkeit zu weit verbreiteten Erkrankungen eine wissenschaftliche Erforschung ermöglicht. Das gilt erst recht, wenn - trotz der Seltenheit der Erkrankung - die Krankheitsursache oder Wirkmechanismen der bei ihr auftretenden Symptomatik wissenschaftlich klärungsfähig sind, deren Kenntnis der Verwirklichung eines der in § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V genannten Ziele der Krankenbehandlung dienen kann (BSG, Urteil vom 19. März 2020, B 1 KR 22/18 R, Rn. 28 nach juris).
Offenbleiben kann hier, ob es sich bei der Necrobiosis lipoidica um eine seltene Erkrankung handelt. Dies hat zwar J1 in dem erstinstanzlich eingeholten Gutachten bejaht. Für 2012 wurden anhand der DRG-Daten stationärer Patienten in Deutschland 262 Personen mit einer Necrobiosis lipoidica identifiziert, bei denen nur bei 57 als Primärdiagnose die Necrobiosis lipoidica genannt worden war. Daraus leitet J1 ab, dass schwere Verläufe wie bei der Klägerin sehr selten sind.
Hier ist aber das für die Annahme eines Seltenheitsfalles notwendige zusätzliche Kriterium der fehlenden Erforschbarkeit nicht erfüllt. Der Sachverständige J1 weist darauf hin, dass in den USA derzeit drei Therapiestudien zur Behandlung der Necrobiosis lipoidica laufen, eine davon mit dem vergleichbaren JAK-Inhibitor Ruxolitinib. Zu weiteren Studien und Fallberichten hat die Beklagte eine umfangreiche Darstellung des Beratungsapothekers Bachmann vorgelegt. Dieser hat drei systematische Reviews, drei prospektive, abgeschlossene Studien sowie drei prospektive, aktuell laufende Studien, darunter die neueste Studie zur Behandlung mit Ruxolitinib-Creme, mitgeteilt. Hieraus ist zu schließen, dass die Necrobiosis lipoidica nicht aufgrund ihrer Singularität als medizinisch nicht erforschbar angesehen werden kann.
Das Sozialgericht hat seine Entscheidung auf das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 30. April 2010 (L 1 KR 68/08) gestützt. Dem kann aber nicht gefolgt werden. Nach dem dem Urteil zugrundeliegenden Sachverhalt waren bezüglich der streitigen Krankheit (Gardner-Diamond-Syndrom) nur wenige Veröffentlichungen zu finden. Insoweit ging das LSG davon aus, dass diese Krankheit praktisch unerforschbar war.
Ein Kostenerstattungsanspruch in Höhe von 1.266,57 Euro für die selbstbeschafften Medikamente ergibt sich auch nicht aus § 13 Abs. 3 Satz 1 1. Alt. SGB V. Danach hat die Krankenkasse den Versicherten die Kosten für eine selbstbeschaffte unaufschiebbare Leistung zu erstatten, die entstanden sind, weil sie diese Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte.
Da sich die Klägerin die Präparate erst am 12. November 2020 und 21. November 2021 und damit nach der ablehnenden Entscheidung der Beklagten vom 27. September 2019 beschafft hat, scheidet ein Kostenerstattungsanspruch für eine unaufschiebbare Leistung aus. Bei laufenden oder sich über einen längeren Zeitraum erstreckenden Leistungen ist Unaufschiebbarkeit nur bis zur Entscheidung der Krankenkasse gegeben; für die nach einer ablehnenden Entscheidung in Anspruch genommenen Leistungen kommt nicht mehr § 13 Abs. 3 Satz 1 Alt. 1, sondern Alt. 2 in Betracht (BSG, Urteil vom 3. August 2006, B 3 KR 24/05 R, Rn. 22 nach juris; Becker/Kingreen/Kingreen, 8. Aufl. 2022, SGB V § 13 Rn. 25). Deren Voraussetzungen liegen - wie ausgeführt - nicht vor.
Die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1a SGB V liegen ebenfalls nicht vor. Danach können Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, auch eine von § 2 Abs. 1 Satz 3 abweichende Leistung beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht.
Bei der Necrobiosis lipoidica handelt es sich um eine schwerwiegende, aber nicht um eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung. Nach dem Gutachten des Prof. Jung ist sie schwerwiegend, führt jedoch bis auf seltenste Ausnahmen nicht zum Tode.
Sie ist auch nicht mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung vergleichbar. Die Necrobiosis lipoidica kann nämlich trotz ihrer schweren Ausprägung nicht mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung auf eine Stufe gestellt werden. Wertungsmäßig vergleichbar ist nur der wahrscheinlich drohende Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen körperlichen Funktion innerhalb eines kürzeren überschaubaren Zeitraums (Plagemann in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl., § 2 SGB V [Stand: 15. Juni 2020], Rn. 55; BSG, Urteil vom 19. März 2020, B 1 KR 22/18 R, Rn. 23 nach juris). Die Klägerin leidet an chronischen Ulzerationen mit massiven Schmerzen und Superinfektionen. Diese schwerwiegende Erkrankung kann aber noch nicht mit dem Verlust einer herausgehobenen Körperfunktion im Rahmen einer individuellen Notlage gleichgestellt werden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.