L 6 SB 94/20

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 4 SB 1495/18
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 6 SB 94/20
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 9 SB 34/22 B
Datum
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Düsseldorf vom 17.02.2020 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand:

 

Die Beteiligten streiten um die Höherbewertung des Grades der Behinderung (GdB).

 

Der 1951 geborene Kläger ist Rentner. Zuletzt hatte die Beklagte bei ihm einen GdB von 30 festgesetzt (Bescheid vom 22.06.2016). Dabei berücksichtigte sie eine Funktionsstörung der Wirbelsäule (Einzel-GdB 20), eine Funktionsstörung der Kniegelenke, einen beidseitigen Fußwurzelverschleiß sowie eine Gangbildstörung (Einzel-GdB 20) und eine koronare Herzkrankheit mit belastungsabhängigen Beschwerden (Einzel-GdB 10).

 

Am 12.09.2017 stellte der Kläger einen Änderungsantrag. Zur Begründung verwies er zunächst auf seinen vorherigen Antrag aus März 2016, in dem er angegeben hatte, dass alle bisherigen Gesundheitsstörungen sich verschlimmert hätten. Neu dazu gekommen seien Herzmuskelstörungen bei geringer Belastung und beim Gehen sowie ein Leistenbruch rechts. Zusätzlich begründete er seinen Verschlimmerungsantrag damit, dass er seit seinem 6. Lebensjahr Einlagen trage aufgrund von Platt-, Senk- und Spreizfüßen. Durch das ständige Schrägstehen hätten sich O-Beine geformt. Zudem habe sich seine Statik geändert. Er habe Arthritis in den Füßen sowie eine Beinverkürzung rechts von 1,4 cm. Die Vielzahl dieser Symptome erschwere den täglichen Bewegungsablauf.

 

Die Beklagte zog Befundberichte des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. R und des Facharztes für Orthopädie Dr. M bei. Nach Einholung einer gutachtlichen Stellungnahme bei der Ärztin für öffentliches Gesundheitswesen Dr. W lehnte sie mit Bescheid vom 09.11.2017 den Änderungsantrag des Klägers ab. Als weitere Beeinträchtigungen seien Hüftgelenkbeschwerden sowie Senk- und Spreizfüße hinzugekommen. Die Auswirkungen dieser Beeinträchtigungen seien jedoch nicht so wesentlich, dass sie den bisher festgestellten GdB erhöhten. Es bleibe bei der zuvor getroffenen Feststellung.

 

Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch. Die Hüftbeschwerden sowie die Senk-, Platt- und Spreizfüße seien nicht hinzugekommen. Damit quäle er sich bereits seit seiner Kindheit herum. Zudem übersandte der Kläger eine Bescheinigung des Facharztes für Orthopädie Dr. K aus dem Jahr 1970.

 

Im Januar 2018 unterzog er sich einer Operation am Innenmeniskus im linken Knie. Daraufhin zog die Beklagte einen Befundbericht des Orthopäden Dr. C vom 20.05.2018 bei. Sodann veranlasste sie eine persönliche Begutachtung des Klägers durch den Facharzt für Unfallchirurgie Dr. G (Gutachten vom 11.07.2018). Dieser stellte nach ambulanter Untersuchung folgende Behinderungen fest: Funktionsstörungen der Wirbelsäule (Einzel-GdB 20), Verschleißleiden und Funktionsstörung linkes Kniegelenk, Funktionsstörung rechtes oberes und unteres Sprunggelenk, Hüftbelastungsschmerzen rechts und Funktionseinschränkung, Fußfehlstatik (Einzel-GdB 30), koronare Herzkrankheit, belastungsabhängige Beschwerden (Einzel-GdB 10).

 

Mit (Teil-)Abhilfebescheid vom 31.07.2018 stellte die Beklagte ab dem 12.07.2017 einen GdB von 40 fest. Daraufhin teilte der Kläger mit, dass er beim Gehen und Treppensteigen starke Schmerzen in beiden Knien und in der Hüfte spüre. Beim Bücken und Drehen seien die Schmerzen im Rückenbereich zu spüren. Ein Behinderungsgrad von 60 bis 70 sei berechtigt.

 

Mit Widerspruchsbescheid vom 14.09.2018 wurde der Widerspruch durch die Bezirksregierung Münster als unbegründet zurückgewiesen. Eine weitergehende Abhilfe sei nicht gerechtfertigt.

 

Dagegen hat der Kläger am 17.10.2018 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Düsseldorf erhoben. Er sei nach wie vor der Auffassung, seine Beeinträchtigungen seien nicht genügend geprüft worden. Er begehre eine Erhöhung des GdB auf 60 sowie die Zuerkennung der Merkzeichen "G" und "aG". Die im Januar 2018 erfolgte Innen- und Außenmeniskusoperation sei schief gegangen. Im Jahr 2011 sei er zweimal am Innenmeniskus des rechten Knies operiert worden. Sein Meniskus sei bis heute angerissen. Im November 2016 sei ihm bei der Operation der rechten Leiste der Nervus Femoralis durchtrennt worden. Seither sei die Haut über dem rechten Oberschenkel taub. Bei der im Jahr 2015 durchgeführten Herzkatheteruntersuchung sei eine Muskelbrücke festgestellt worden. Diese sei verantwortlich für den Druck auf der Brust, wenn er Stress habe oder sich schnell bewege. Er könne nicht mehr laufen, sondern nur noch in Maßen gehen. Wegen der Beinverkürzung laufe er seit Jahrzehnten schief. Er habe Schmerzen an den verschiedensten Körperteilen. Der Gutachter der Beklagten habe alle Körperteile über den Schmerz hinaus noch gebogen, um dann mit einem Zollstock zu messen.

 

Der Kläger hat einen Herzkatheterbericht des Universitätsklinikums E vom 12.11.2015, einen Bericht des Radiologen Dr. S vom 27.03.2012 über die Kernspintomographie des rechten Kniegelenkes, einen Bericht der orthopädischen Gemeinschaftspraxis H vom 21.02.2003 und einen Messbogen über die Messung seines Beckens sowie einen Bericht der Fachärztin für Nuklearmedizin Dr. A vom 10.05.2019 zum MRT des linken Knies zur Gerichtsakte gereicht.

 

Der Kläger hat in der Fassung seines Begehrens durch das SG beantragt,

 

die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 31.07.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.09.2018 zu verpflichten, ihm ab dem 12.09.2017 einen Grad der Behinderung von 60, hilfsweise 50 zuzuerkennen.

 

Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,

 

die Klage abzuweisen.

 

Sie hat ihre Auffassung weiterhin für zutreffend gehalten.

 

Das SG hat Befund- und Behandlungsberichte des Dr. C vom 08.01.2019 und des Dr. R vom 18.01.2019 beigezogen. Sodann hat es Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens des Arztes für Orthopädie und Chirotherapie Dr. F vom 15.05.2019. Dieser hat nach ambulanter Untersuchung des Klägers auf orthopädischem Fachgebiet eine Funktionseinschränkung der Wirbelsäule (Einzel-GdB 20), des rechten Kniegelenkes (Einzel-GdB 10), des linken Kniegelenkes ohne Schwellungszustand (Einzel-GdB 30) und des rechten Sprunggelenkes sowie ein Krampfaderleiden (Einzel-GdB 10) festgestellt und unter Berücksichtigung der weiteren aktenkundigen Gesundheitsstörungen einen Gesamt-GdB von 40 angenommen.

 

Der Kläger hat hiergegen eingewandt, dass eine einstündige Untersuchung den täglichen Bewegungsablauf nicht widerspiegeln könne. Ihm seien schnelles Gehen und Laufen nicht mehr möglich. Sein Knie sei immer leicht angeschwollen.

 

Das SG hat sodann eine ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen Dr. F vom 02.07.2019 eingeholt. Dieser ist unter Hinweis darauf, dass die funktionellen Beeinträchtigungen maßgeblich seien, bei seiner bisherigen Einschätzung verblieben.

 

Der Kläger hat weiter geltend gemacht, dass sein Krampfaderleiden höher sowie die hälftige Bewegungsfähigkeit im Halswirbelbereich zusätzlich zu bewerten seien. Wenigstens sei der GdB von 30 für die unteren Extremitäten um den GdB von 10 für das rechte Knie auf 40 zu erhöhen. Er bleibe bei seiner Einschätzung eines Gesamt-GdB von 60.

 

Auf den Hinweis des Klägers, er leide zusätzlich an Grauem Star und seine rechte Leiste sei wieder aufgebrochen, hat das SG Befundberichte von dem Facharzt für Augenheilkunde Dr. B vom 23.07.2019 und von dem Augenarzt Dr. O vom 13.01.2020 beigezogen.

 

Nach Anhörung der Beteiligten hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 17.02.2020 abgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Feststellung eines GdB von mehr als 40. Dies ergebe sich insbesondere aus dem schlüssigen und überzeugend begründeten Gutachten des Sachverständigen Dr. F. Es lägen nur zwei wesentliche Einzel-GdB vor, konkret ein Einzel-GdB von 20 für das Wirbelsäulenleiden und ein Einzel-GdB von 30 für die Leiden am linken Kniegelenk, aus denen schon wegen des Additionsverbotes kein höherer Gesamt-GdB als 40 gebildet werden könne. Ein augenärztlicher Befund, der geeignet wäre, diesen Gesamt-GdB von 40 noch zu steigern, liege nach den eingeholten Berichten der Augenärzte eindeutig nicht vor. Die Ärzte hätten sich an der maßgeblichen MdE-Tabelle der Deutschen Ophtalmologischen Gesellschaft orientiert und einen GdB von höchstens oder unter 10 ermittelt. Einzel-GdB von allenfalls 10 erhöhten den Gesamt-GdB ohnehin nicht.

 

Gegen den ihm am 26.02.2020 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 24.03.2020 unter Wiederholung seines bisherigen Vorbringens Berufung eingelegt. Ergänzend führt er aus, das SG habe die von Dr. F festgestellte hälftige Bewegungsfreiheit im Halswirbelbereich übersehen. Diese sei erhöhend zu berücksichtigen. Zudem sei eine Versteifung des rechten Fußes festgestellt worden. Sein Tagesablauf sei stark eingeschränkt.

 

Der Kläger hat ergänzend zu seinem Vortrag einen weiteren Bericht der Dr. A vom 27.03.2020, eine Übersicht über die Behandlungsdaten bei Dr. M vom 05.05.2020 und einen Bericht des Kurarztes Dr. Y vom 14.08.2020 übersandt.

 

Er beantragt,

 

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Düsseldorf vom 17.02.2020 sowie die Bescheide des Beklagten vom 09.11.2017 und 31.07.2018 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 14.09.2018 zu ändern und den Beklagten zu verpflichten, bei ihm seit dem 12.09.2017 einen Grad der Behinderung von mindestens 60, hilfsweise 50 anzuerkennen.

 

Die Beklagte beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Sie weist darauf hin, dass der GdB durch Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen bestimmt werde. Durch bildgebendes Verfahren festgestellte Veränderungen rechtfertigten noch nicht die Annahme eines GdB.

 

Der Senat hat einen Befundbericht des Facharztes für Orthopädie und Sportmedizin Dr. N vom 23.10.2020 beigezogen. Sodann hat er Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens des Facharztes für Orthopädie und Rheumatologie Dr. D vom 19.04.2021. Der Sachverständige Dr. D hat eine Gesundheitsstörung der Schultern (Einzel-GdB 0), eine Beinverkürzung rechts um 1,5 cm (Einzel-GdB 10), eine Gesundheitsstörung einer Gefühlsabschwächung außenseitig am rechten Oberschenkel (Einzel-GdB 10), eine Gesundheitsstörung der Hüften (Einzel-GdB 0), eine Gesundheitsstörung der Kniegelenke (Einzel-GdB 20), eine Funktionseinschränkung der rechtsseitigen Sprunggelenke sowie der Füße einschließlich degenerativer Veränderungen der Großzehengrundgelenke (Einzel-GdB 20) und eine Gesundheitsstörung der Wirbelsäule (Einzel-GdB 20) festgestellt und einen Gesamt-GdB von 30 angenommen.

 

Auf die von dem Kläger mit Schriftsatz vom 20.05.2021 erhobenen Einwände insbesondere gegen die Befunderhebung des Dr. D und die Würdigung eines radiologischen Befundes der Halswirbelsäule hat der Senat eine ergänzende Stellungnahme bei dem Sachverständigen angefordert. Dr. D hat daraufhin unter dem 02.06.2021 ausgeführt, es seien keine neuen Befunde oder Aspekte vorgetragen, die zu einer Änderung des Bewertungsvorschlags für den Gesamt-GdB führten.

 

Hinsichtlich des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird verwiesen auf den Inhalt der Prozessakte und den Inhalt der beigezogen Verwaltungsvorgänge der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

 

 

Entscheidungsgründe:

 

A) Die mangels Vorliegen einer Berufungsbeschränkung aus § 144 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nach § 143 SGG statthafte und auch im Übrigen zulässige Berufung ist unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung eines höheren GdB als 40, sodass sein Begehren weder mit dem Haupt- noch mit dem Hilfsantrag erfolgreich ist.

 

I. Gegenstand des Berufungsverfahrens ist, ausgehend von dem angefochtenen Gerichtsbescheid und dem darin zutreffend erfassten Begehren des Klägers, der Bescheid vom 09.11.2017 in der Fassung des Teilabhilfebescheides vom 31.07.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.09.2018 und somit die Frage, ob der Kläger einen Anspruch gegenüber der Beklagten auf Feststellung eines höheren GdB als 40 hat.

 

Die Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen "G" und "aG" ist hingegen schon deshalb nicht zusätzlich Gegenstand des Verfahrens, weil der Kläger diese (jedenfalls im Berufungsverfahren) nicht mehr geltend macht.

 

II. Die statthafte und auch im Übrigen zulässige kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§§ 54 Abs. 1 Satz 1, 56 SGG) ist unbegründet. Der Kläger ist durch den Bescheid vom 09.11.2017 in der Fassung des Teilabhilfebescheides vom 31.07.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.09.2018 nicht beschwert im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG, denn der Bescheid ist rechtmäßig.

 

1. Rechtsgrundlage für die Entscheidung der Beklagten ist § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X). Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Eine wesentliche Änderung liegt im Schwerbehindertenrecht vor, wenn geänderte gesundheitliche Verhältnisse einen um 10 höheren oder niedrigeren GdB begründen (vgl. Teil A Nr. 7a Satz 1 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze [VMG] gemäß der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung [VersMedV]; BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 SB 3/12 R, juris Rn. 26). Eine solche Änderung gegenüber den bei Erlass des Bescheides vom 22.06.2016 vorgelegenen tatsächlichen Verhältnissen nahm die Beklagte im Widerspruchsverfahren dahingehend an, dass sie einen GdB von 40 ab Antragstellung zuerkannte. Eine darüberhinausgehende wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen ist nicht eingetreten.

 

Gemäß § 152 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch – Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen – (SGB IX) stellen die für die Durchführung des Gesetzes über die Versorgung der Opfer des Krieges (Bundesversorgungsgesetzes [BVG]) zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung zum Zeitpunkt der Antragstellung fest. Menschen mit Behinderungen sind gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung in diesem Sinne liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht, § 2 Abs. 1 Satz 2 SGB IX. Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach Zehnergraden abgestuft festgestellt, § 152 Abs. 1 Satz 5 SGB IX. Gemäß § 241 Abs. 5 SGB IX gelten, soweit – wie derzeit – noch keine Verordnung nach § 153 Abs. 2 SGB IX erlassen ist, die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der auf Grund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnungen entsprechend. Damit sind insbesondere die VMG für die Bewertung des GdB maßgebend.

 

2. Bei der Bemessung des GdB ist grundsätzlich in drei Schritten vorzugehen: In einem ersten Schritt werden die einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen (von der Norm abweichenden) Zuständen und die sich daraus ableitenden, für eine Teilhabebeeinträchtigung bedeutsamen Umstände festgestellt. In einem zweiten Schritt sind diese, soweit möglich, den in den VMG genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. In einem dritten Schritt ist dann, in der Regel ausgehend von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB, in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen der Gesamt-GdB zu bilden. Dabei können die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen, sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinander stehen. Außerdem sind bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in der Tabelle der VMG feste GdB-Werte (bzw. GdS-Werte) angegeben sind (vgl. zu diesem Vorgehen etwa BSG, Urteil vom 02.12.2010, B 9 SB 4/10 R, juris Rn. 25).

 

Danach kommt vorliegend ein höherer Gesamt-GdB als 40 nicht in Betracht.

 

a) Das Funktionssystem Beine ist höchstens mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten. Selbst wenn (anders als von Dr. D ausgeführt) zugunsten des Klägers ein GdB von 30 auszugehen wäre, wäre kein höherer Gesamt-GdB als 40 anzunehmen.

 

aa) Bei dem Kläger liegt eine Gesundheitsstörung der Kniegelenke vor, für die ein Einzel-GdB von 20 anzusetzen ist. Nach Teil B Nr. 18.14 VMG sind ausgeprägte Knorpelschäden der Kniegelenke mit anhaltenden Reizerscheinungen einseitig ohne Bewegungseinschränkung mit 10 bis 30 und mit Bewegungseinschränkung mit 20 bis 40 zu bewerten.

 

Dr. D stellte bei der Untersuchung des Klägers eine initiale Funktionseinschränkung der Kniegelenke in Form einer Streckbehinderung bei freier Beugungsfähigkeit und eine beidseitige Knorpelschädigung mit Reizerscheinungen ohne anamnestische oder klinische Hinweise auf feuchte Reizerscheinungen, Deformierungen oder degenerative oder entzündliche Veränderungen fest. Die nachgewiesenen Knorpelschäden sind nach Einschätzung von Dr. D auch unter Berücksichtigung des Lebensalters des Klägers nicht derartig vorauseilend, um vorliegend den Bewertungsrahmen auszuschöpfen und einen Einzel-GdB von 30 anzusetzen. Somit lassen sich lediglich ausgeprägte Knorpelschäden mit Reizerscheinungen feststellen, die entsprechend Teil B Nr. 18.14 VMG insgesamt mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten sind.

 

Demgegenüber folgt der Senat nicht der Einschätzung des erstinstanzlichen Sachverständigen Dr. F, der eine eingeschränkte Beweglichkeit des linken Knies von 110° beschrieb und hierfür einen Einzel-GdB von 30 für angemessen hielt. Eine wesentliche und dauerhafte Schwellneigung des linken Kniegelenkes und eine klinisch relevante Funktionseinschränkung lagen – anders als vom Kläger geltend gemacht – weder zum Zeitpunkt der Untersuchung bei Dr. F noch bei Dr. D vor. Zutreffend weist Dr. D in diesem Zusammenhang zudem darauf hin, dass eine Beugebehinderung erst ab 110° keinen GdB rechtfertigt. Auch die von dem Kläger vorgetragenen dauerhaften Schmerzen in beiden Kniegelenken ließen sich nicht objektivieren. Sie entsprechen insbesondere nicht dem festgestellten Aktivitätsniveau. Soweit er geltend macht, der Meniskus im rechten Knie sei weiterhin angerissen, ist der Beklagten darin zuzustimmen, dass es für die Bemessung des GdB nicht (allein) auf den erhobenen Befund, sondern wesentlich auf die daraus resultierenden funktionellen Beeinträchtigungen ankommt (vgl. Teil A Nr. 3a Satz 3 VMG).

 

bb) Die bei dem Kläger bestehende Gesundheitsstörung der rechtsseitigen Sprunggelenke und der Füße einschließlich degenerativer Veränderungen der Großzehengelenke ist mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten. Nach Teil B Nr. 18.14 VMG ist eine Bewegungseinschränkung im unteren Sprunggelenk mit 0 bis 10 zu bewerten. Eine Bewegungseinschränkung im oberen Sprunggelenk geringen Grades ist mit 0, mittleren Grades mit 10 und stärkeren Grades mit 20 zu bewerten. Fußdeformitäten mit statischer Auswirkung je nach Funktionsstörung geringen Grades sind ebenfalls nach Teil B Nr. 18.14 VMG mit 10 und stärkeren Grades mit 20 zu bewerten.

 

Dr. D stellte bei dem Kläger eine nahezu aufgehobene Beweglichkeit im unteren Sprunggelenk rechts mit Wackelsteifigkeit fest. Diese rechtfertigt für sich genommen den Ansatz eines Einzel-GdB von 10. Der Senat folgt der Einschätzung des Dr. D, dass angesichts der deutlichen Funktionseinschränkung im oberen Sprunggelenk ohne Einsteifung und der beginnenden Funktionseinschränkung des Großzehengrundgelenkes bei klinischen Hinweisen für Verschleißveränderungen sowie der Fußdeformität mit mäßigem Senk-Spreizfuß ein GdB von 20 anzusetzen ist. Dem ist auch der Kläger nicht entgegengetreten.

 

cc) Für die von dem Kläger angegebene Schädigung des Nervus cutaneus femoris lateralis (Gefühlsabschwächung am rechtsseitigen Oberschenkel) ist nach Teil B Nr. 18.14 VMG der Einzel-GdB von 10 zutreffend angesetzt.

 

dd) Das Hüftleiden des Klägers rechtfertigt keinen gesonderten Einzel-GdB. Im Bereich der Hüfte sind die von Dr. D und Dr. F festgestellten Werte nahezu normwertig. Dr. D führt die Beschwerdesymptomatik nachvollziehbar auf muskuläre Dysbalancen und Verspannungen ohne Funktionseinschränkung zurück.

 

ee) Ferner rechtfertigt auch die bei dem Kläger vorhandene Beinverkürzung um 1,5 cm keinen gesonderten Einzel-GdB, da nach Teil B Nr. 18.14 VMG eine Verkürzung von mehr als 2,5 cm erst den Ansatz eines Einzel-GdB rechtfertigt.

 

ff) Alles in allem ist damit ein GdB von mehr als 30 für die das Organsystem untere Extremitäten nicht begründbar. Soweit der Kläger (etwa für die Einschränkungen an den Knien) eine Erhöhung des GdB durch die Addition von 10´er-Werten fordert, entspricht dies nicht den Vorgaben der VMG (vgl. Teil A Nr. 3 d) ee) VMG).

 

b) Das Funktionssystem Rumpf ist mit einem Einzel-GdB von 20 ausreichend hoch bewertet.

 

Gemäß Teil B Nr. 18.9 VMG ergibt sich der GdB bei angeborenen oder erworbenen Wirbelsäulenschäden (einschließlich Bandscheibenschäden, Scheuermann-Krankheit, Spondylolisthesis, Spinalkanalstenose und dem sogenannten Postdiskotomiesyndrom) primär aus dem Ausmaß der Bewegungseinschränkung, der Wirbelsäulenverformung und -instabilität sowie aus der Anzahl der betroffenen Wirbelsäulenabschnitte. Wirbelsäulenschäden mit geringen funktionellen Auswirkungen (Verformung, rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität geringen Grades, seltene und kurz dauernd auftretende leichte Wirbelsäulensyndrome) bedingen einen Einzel-GdB von 10, mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität mittleren Grades, häufig rezidivierende und über Tage andauernde Wirbelsäulensyndrome) einen Einzel-GdB von 20, mit schweren funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität schweren Grades, häufig rezidivierende und Wochen andauernde ausgeprägte Wirbelsäulensyndrome) einen Einzel-GdB von 30 und mit mittelgradigen bis schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten einen Einzel-GdB von 30 bis 40.

 

Der Sachverständige Dr. D diagnostizierte im Bereich der Wirbelsäule eine Minderbelastbarkeit und Funktionseinschränkung der Halswirbelsäule und Lendenwirbelsäule bei degenerativen Veränderungen in Verbindung mit muskulären Dysbalancen und Verspannungen ohne Nervenwurzelreizungen in die obere bzw. untere Extremität. Während der Untersuchung konnte Dr. D bei der passiven Funktionsprüfung der Halswirbelsäule unter deutlicher muskulärer Gegenspannung eine geringe Einschränkung der Rotationsfähigkeit, eine mäßige Einschränkung der Seitneigefähigkeit sowie eine geringe Einschränkung für die Einbeugung nach vorne und nach hinten feststellen unter Angabe von mäßigen Bewegungsschmerzen im Bereich der Muskulatur der Halswirbelsäule beidseits durchgängig ohne Ausstrahlung in die obere Extremität. Hinweise für lokale oder generalisierte muskuläre Verhärtung oder Hypertrophie als Zeichen einer permanenten Überlastung ergaben sich nicht. Der Kläger gab zudem auf Nachfrage mäßige Druckschmerzen im Bereich der Halswirbelsäule, im Übergangsbereich zwischen Kopf und Hals und im Bereich der Schulter-Nackenmuskulatur an. Auch bei der Funktionsprüfung der Rumpfwirbelsäule konnte Dr. D bei ausgeprägter muskulärer Gegenspannung die Reklination mit mäßigem und die Rumpfrotation sowie die Seitneigung mit geringem Defizit feststellen. Der Langsitz wurde selbständig ohne Defizite bis zu einem Abstand von 15 cm zwischen Fingerspitzen und Zehenspitzen gezeigt. Aktiv demonstrierte der Kläger nach Angaben des Sachverständigen Dr. D eine schlechtere Beweglichkeit. Der Kläger schilderte mäßige Druckschmerzen im Bereich der Muskulatur der Lendenwirbelsäule und der Hüftstreckmuskulatur ohne Hinweise auf eine lokale oder generalisierte muskuläre Verhärtung oder permanente Überlastung. Nach den Ausführungen von Dr. D ist das Ausmaß der gezeigten Funktionseinschränkung bei auch ausgeprägter muskulärer Gegenspannung mit dem im mitgebrachten Befundbericht nach Kernspintomographie der Halsweichteile vom 09.04.2021 beschriebenen degenerativen Befund der unteren Lendenwirbelsäule nicht begründbar. Gleiches gilt im Hinblick auf das Ausmaß der durch den Kläger bei der Untersuchung zugelassenen Beweglichkeit der Halswirbelsäule.

 

Eine Höherbewertung des Wirbelsäulenleidens des Klägers ergibt sich auch nicht aus dem erstinstanzlich beauftragten Sachverständigengutachten des Dr. F. Vielmehr stellte dieser im Rahmen der körperlichen Untersuchung im Halswirbelsäulenabschnitt eine etwa hälftige Einschränkung der Bewegungsfähigkeit und im Bereich der Lendenwirbelsäule eine minimale Einschränkung der Bewegungsfähigkeit bei Angabe von Schmerzen bei der endgradigen Drehbewegung fest. Damit ergibt sich weder aus dem Gutachten des Dr. F noch des Dr. D, dass der Kläger unter schweren funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt oder mittelgradigen bis schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten leidet. Damit lassen sich allenfalls mittelgradige funktionelle Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt feststellen, die entsprechend Teil B Nr. 18.9 VMG mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten sind, wodurch dem Beschwerdevortrag des Klägers hinreichend Rechnung getragen ist. Ansatzpunkte für eine Erhöhung aufgrund der geltend gemachten Hüftbeschwerden ergeben sich nicht, weil insoweit sowohl von Dr. F als auch von Dr. D nahezu normwertige Befunde festgestellt wurden.

 

c) Im Hinblick auf die koronare Herzerkrankung des Klägers setzt der Senat in Übereinstimmung mit den Sachverständigen bzw. den insoweit vorliegenden Befunden für das Funktionssystem Herz-Kreislauf einen Einzel-GdB von 10 an, wogegen auch der Kläger nichts vorgetragen hat, was den Senat zu weiteren Ermittlungen veranlassen könnte.

 

d) Weitere GdB-relevante und damit berücksichtigungswürdige Gesundheitsstörungen liegen nicht vor.

 

aa) Der Senat folgt mit Blick auf das von dem Kläger vorgetragene „Krampfaderleiden“ den überzeugenden Ausführungen des Dr. D, wonach mit der gering ausgeprägten Besenreiservarikosis am rechten außenseitigen Fuß keine Minderbelastbarkeit, etwa aufgrund einer Schwellneigung, Ulzeration oder Stauungssymptomatik, einhergeht, so dass diesbezüglich kein Ansatz eines Einzel-GdB gerechtfertigt ist.

 

bb) Hinsichtlich der gegenüber Dr. D getätigten Angabe des Klägers, nunmehr am Grauen Star operiert worden zu sein und unter Ohrgeräuschen (Tinnitus) zu leiden, hat der Senat sich nicht zu weiteren Ermittlungen gedrängt gesehen. Nach den bereits vom SG gewürdigten augenärztlichen Befunden kam bereits vor der Operation insoweit kein Einzel-GdB (von mehr als 10) in Betracht. Der Kläger selbst macht keine damit in Zusammenhang stehenden (weiteren) Funktionsbeeinträchtigungen (mehr) geltend. Vielmehr hat er im Termin zur mündlichen Verhandlung erklärt, dass diesbezüglich (auch hinsichtlich des Tinnitus) keine Befundberichte von seinen behandelnden Ärzten eingeholt werden sollen. Ihm steht es insoweit frei, das Feststellungsverfahren auf einzelne körperliche, geistige oder seelische Leiden und die dadurch beeinträchtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu begrenzen (Dau in LPK-SGB IX, 6. Auflage 2022, § 152 Rn. 9 m.w.N.).

 

3. Ausgehend von den vorstehend festgestellten GdB-Werten für die einzelnen Organsysteme ergibt sich folgende Gesamt-GdB-Bildung:

 

Als führende Leiden sind vorliegend die Gesundheitsstörungen im Funktionssystem Beine anzusehen, weil sich der hierfür anzusetzende Einzel-GdB auf (höchstens) 30 beläuft (s.o.). Dieser Wert ist mit Blick auf den Einzel-GdB von 20 für das Wirbelsäulenleiden zu erhöhen. Selbst wenn die Gesundheitsstörungen im Funktionssystem Beine – wie von der Beklagten und dem erstinstanzlichen Sachverständigen Dr. F angenommen – einen Einzel-GdB von 30 bedingen würden, wäre dieser Wert („nur“) um den Einzel-GdB von 20 für das Wirbelsäulenleiden auf 40 zu erhöhen, so dass der Kläger auch unter diesem Gesichtspunkt keinen Anspruch auf Feststellung eines Gesamt-GdB von mehr als 40 hat. Denn eine Addition der Werte kommt wegen der teilweisen Überschneidung der Beschwerden mit Blick auf die Mobilität nicht in Betracht (vgl. Teil A Ziff. 3 a) Satz 1 VMG).

 

Schließlich lässt der gemäß Teil A Ziff. 3 b) VMG bei der Gesamtwürdigung anzustellende Vergleich mit Gesundheitsschäden, zu denen in der Tabelle feste GdB-Werte angegeben sind, die Feststellung eines GdB von mehr als 40 ebenfalls nicht zu. Die funktionellen Beeinträchtigungen des Klägers sind nicht mit Schäden wie etwa dem völligen Verlust der Nase (Teil B Ziff. 6.1 VMG), der ganzen Hand (Teil B Ziff. 18.13 VMG), eines Armes im Unterarm (Teil B Ziff. 18.13 VMG) oder eines Beines im Unterschenkel (Teil B Ziff. 18.14 VMG), für die ein GdB von 50 und damit die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft vorgesehen sind, vergleichbar. Nach den aktenkundigen Angaben des Klägers und den erhobenen Befunden ist er nach Überzeugung des Senats im täglichen Leben deutlich weniger eingeschränkt als eine Person, die unter den vorgenannten Einschränkungen leidet.

 

B) Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 193 Abs. 1 Satz 1, 183 SGG.

 

C) Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.

 

Rechtskraft
Aus
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